Brégnier-Cordon, Izieu, Frankreich, Juni – September 1943

Antoine fühlte sich noch unwohler in seiner Haut als sonst. Die Tatsache, dass ausgerechnet er zum Liebling des Obersturmführers geworden war, verunsicherte ihn. Barbie zitierte ihn während der knappen Woche seiner Anwesenheit mehrfach in seine Suite, um bei einem gemütlichen Glas Cognac mit ihm zu plaudern. Dabei ging es merkwürdigerweise niemals um seinen Einsatz als Spion, sondern fast ausschließlich um persönliche Dinge. Klaus Barbie wollte alles über Antoines Jugend wissen und wie er seine Liebe zur Musik entdeckt hatte. Sie sprachen über Frauen, ihre Familien und immer wieder über die Politik. Manchmal hatte Antoine das Gefühl, als suchte der Obersturmführer in ihm einen Vertrauten, ab ihrem dritten Treffen sprach er mit ihm auch über persönliche Dinge. Antoine erfuhr zum Beispiel, dass der Gestapochef verheiratet war, aber eine französische Geliebte hatte. »Meine Gemahlin und ich sind uns niemals sehr nahegekommen«, verriet er ihm. »Erst mit Mimiche habe ich erfahren, was die Damenwelt wirklich zu bieten hat.« Dabei blinzelte er ihm wie einem Freund zu. »Ihr Franzosen habt wirklich ein Glück, dass eure Frauen so offenherzig sind.«

Trotz anfänglichen Sträubens fühlte Antoine sich von Barbies Vertraulichkeiten geschmeichelt und angezogen. Der Deutsche schien ihn wirklich zu mögen, was angesichts seines eigenen niedrigen Ranges bemerkenswert war. Seine offene Art und sein Charisma ließen plötzlich viele Dinge, an denen Antoine zwischenzeitlich gezweifelt hatte, wieder in einem anderen Licht erscheinen. Wenn er von der Notwendigkeit sprach, den jüdischen Weltaufstand mit aller Härte niederzuschlagen und die feigen Kämpfer des Maquis zu vernichten, dann konnte er sich seiner Logik nur schwer entziehen. Kleine Vergünstigungen und vor allem das wunderbare Geschenk, das er ihm mit dem Akkordeon gemacht hatte, ließen ihn manchmal glauben, dass er und der Obersturmführer so etwas wie Freunde waren. Es wäre alles so einfach gewesen, wäre da nicht Barbies Erwartung an ihn, die Menschen von Brégnier-Cordon und Izieu auszuspionieren. Der deutsche Offizier machte auch keinen Hehl daraus, dass er schon bald Erfolge erwartete.

Die Angelegenheit setzte Antoine so unter Druck, dass er nachts regelmäßig von Albträumen heimgesucht wurde, die ihm schwer zu schaffen machten. Die schlimmste Variante war die, dass er gezwungen wurde, mit einem Schnellfeuergewehr unschuldige Kinder niederzumähen und danach knöcheltief in ihrem Blut zu waten. Kurz darauf befand er sich wieder in dem Boot auf dem Bergsee, das ihn auf den Felsen mit dem von Flambert getöteten Jungen zutrieb. Oft wachte er schreiend auf und war danach schweißgebadet.

Barbie hatte für Antoine einen perfiden Plan ausgeheckt, in den auch Capitaine Laval und Flambert eingeweiht waren. Er sollte alles daransetzen, das Vertrauen der Bewohner der Umgebung zu erschleichen, indem er ihnen vormachte, dass er eigentlich ein Abtrünniger war. Sobald sie ihm vertrauten, sollte er ihnen seine Hilfe anbieten. Um sich glaubwürdig zu machen, war ihm sogar erlaubt, unbedeutende Details der Milizionäre auszuplaudern, zum Beispiel, wann und wo sie patrouillierten oder wer als Nächstes in Gewahrsam genommen werden sollte. Die Anhänger der Résistance sollten davon überzeugt werden, dass er nicht nur mit ihnen sympathisierte, sondern sie auch effektiv unterstützte.

Doch so einfach waren die Dorfbewohner nicht zu überzeugen. Nach der Geschichte mit den Kindern und Jugendlichen in der Schlucht hatte es sich überall rumgesprochen, wie brutal die Milizionäre mit Flüchtlingen und Verrätern umgingen. Die Dorfbewohner verhielten sich äußerst zurückhaltend und mieden wann immer es ging die Nähe der Miliz, zu der Antoine und Flambert gehörten. Egal, welche Bar oder welches Bistro Antoine besuchte, sobald er eintrat, verstummten die Gespräche, oder man wechselte das Thema. Er hatte keine Chance, an irgendwelche Informationen zu gelangen. Unterdessen nahm die Anzahl der Anschläge in der Region weiter zu, was Antoine immer mehr unter Erfolgsdruck setzte. Fast jedes Mal bekannte sich die Gruppe um einen gewissen Gaston zu den Attentaten. Mal legten die Maquisards eine Eisenbahnlinie lahm, mal wurden die Lastwagen der Truppen sabotiert oder die Reifen zerstochen. Die Aktionen verstärkten sich, nachdem am 8. September 1943 Italien einen Waffenstillstand mit den Alliierten schloss und Deutschland nun offiziell die Kontrolle über ganz Frankreich erhielt.

Eines Tages kam Flambert nach seinem Techtelmechtel mit der Bäckersfrau mit Neuigkeiten zurück.

»Ich wäre beinahe von Clotildes Mann erwischt worden«, berichtete er ihm mit einem schlitzohrigen Grinsen. »Du wirst staunen, wenn ich dir davon erzähle.«

»Das wird ja mal interessant werden«, antwortete Antoine ausweichend. Flamberts amouröse Vergnügungen interessierten ihn herzlich wenig.

»Ihr Mann kam unerwartet früh von seinen Besorgungen zurück. Also musste ich mich aus Clotildes Zimmer im oberen Stockwerk nach unten stehlen. Dabei wäre ich ihm um ein Haar über den Weg gelaufen. Ich fürchtete schon, wir würden auf der Treppe zusammenprallen, denn dort hätte ich mich nicht verstecken können. Zum Glück hat er sich ins Wohnzimmer verzogen, wo er mit jemandem telefonierte, den er Miron nannte. Auf dem Weg durch die Backstube hörte ich, wie er eine Familie erwähnte, die irgendwo bei Champagneux versteckt wird. Die Leute sollen morgen Nacht zu den Italienern nach Megève gebracht werden. Da bin ich doch gleich hellhörig geworden. Das sind mit Sicherheit Juden.« Flambert grinste selbstzufrieden.

»Hast du gehört, wo genau die Familie versteckt wird?« Antoine hatte plötzlich ein ungutes Gefühl.

»Das nicht. Aber Laval wird über die Neuigkeiten dennoch froh sein. Mit genügend Leuten können wir alle Häuser im Dorf durchsuchen.«

Antoine bereitete etwas ganz anderes Kopfzerbrechen. Es war der Name Miron. In der Gegend gab es nur einen Mann mit diesem Namen, und das war Miron Zlatin, der Leiter der Kinderkolonie. Wenn der wirklich mit den Leuten des Maquis in Verbindung stand, dann waren auch die Menschen in seiner direkten Umgebung verdächtig und damit Marguérite. Er wollte auf keinen Fall, dass sie in Schwierigkeiten geriet.

»Behalte die Neuigkeiten erst mal für dich«, wies er seinen älteren Kameraden an. »Ich stehe kurz davor, mich mit dem Bäcker näher anzufreunden. Wenn ich erst sein Vertrauen habe, können wir noch viel mehr herausfinden.«

»Warum das denn?« Flambert sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

Antoine versuchte, es ihm klarzumachen: »Es ist Wochenende. Da trinkt der gern in der Bar einen über den Durst. Das ist meine Chance, mich an ihn ranzumachen.«

»Es wäre viel einfacher, den Bäcker und diesen Miron gleich festzunehmen und zur Befragung nach Lyon zu schicken«, konterte Flambert, der die Lorbeeren lieber für sich geerntet hätte. »Die Gestapo hat ihre Methoden, um sie zum Reden zu bringen.«

»Du hast doch keine Ahnung, um was es hier geht!« Antoine sah sich gezwungen, seine privilegierte Stellung herauszukehren. »Ich hab von ganz oben den Auftrag, das Vertrauen des Maquis zu gewinnen. Deswegen wirst du rein gar nichts unternehmen. Wenn sie jetzt auffliegen, habe ich meine Chance verpasst. Weder Laval noch sonst wer muss jetzt davon erfahren. Ich kümmere mich heute Abend um den Bäcker und werde mich danach bei diesem Miron lieb Kind machen.«

Flambert gefiel der Vorschlag ganz und gar nicht. »Kommt gar nicht infrage! Laval hat uns den Befehl gegeben, alles sofort zu melden …«

»Er hat mir freie Hand gegeben«, behauptete Antoine energisch.

Doch Flambert ließ sich nicht beirren. »Ich bin hier der Dienstältere und lass mir von dir Grünschnabel nichts vorschreiben, bloß weil dir die Gestapo einen Sonderauftrag gegeben hat«, brummte er ungnädig. »Willst die Lorbeeren doch nur für dich. Ich mache Meldung bei Laval und damit Schluss!«

Antoine musste einsehen, dass er ihn nicht daran hindern konnte. Doch dann hatte er eine Idee.

»Dann mach eben Meldung«, lenkte Antoine zum Schein ein. »Aber verrat Laval nur, dass sich Flüchtlinge in Champagneux aufhalten. Erwähn die beiden Namen nicht. So verbaust du mir nicht die Möglichkeit, mich an den Bäcker ranzumachen.«

Damit war Flambert schließlich einverstanden. Aufgrund seines Hinweises unternahmen die Milizionäre am frühen Abend eine Razzia in den Dörfern Murs-et-Gélignieux und Champagneux sowie in den umliegenden Bauernhöfen. Beim Schuster in Champagneux wurden sie schließlich fündig. Sie überraschten in dessen Weinkeller eine vierköpfige Familie, die gerade versuchte, durch eine winzige Fensteröffnung zu entkommen. Die Eltern und ein siebenjähriger Junge wurden verhaftet, dem jüngsten Kind gelang die Flucht. Die jüdische Familie war auf dem Weg in eines der italienischen Aufnahmelager gewesen. Antoine war dem Schicksal dankbar, dass es ihm und Flambert erspart geblieben war, an dieser Aktion teilzunehmen.

Wie mit Flambert abgesprochen, begab er sich stattdessen am Abend in die Bar von Brégnier-Cordon, um dort die Gesellschaft des Bäckers Yves zu suchen. Der stand bereits an der Theke, ein Glas Anisschnaps vor sich. Antoine stellte sich in seine Nähe und bestellte sich ebenfalls einen Pastis. Als Yves zu ihm herübersah, fragte er ihn, ob er ihm einen ausgeben dürfe. Der Bäcker stimmte brummend zu, blieb aber ziemlich wortkarg. Antoine scherte sich nicht darum, er begann von Belanglosigkeiten zu reden, auch wenn er erst einmal keine Reaktion darauf bekam. Er kannte die Menschen in den umliegenden Dörfern gut genug, um zu wissen, wie misstrauisch sie jedem Fremden gegenüber anfangs waren. Noch dazu war er ein Milizionär und deshalb besonders suspekt. Doch mittlerweile war er lange genug in der Gegend, um nicht mehr als ganz Fremder zu gelten. Und keiner konnte ihm vorwerfen, dass er schon mal jemandem im Dorf Schwierigkeiten bereitet hätte. Seine unbeschwerte Art, der lockere Ton und schließlich der Alkohol sorgten für eine entspannte Atmosphäre. Sobald Yves und er ihre Gläser geleert hatten, orderte er sofort zwei neue.

Nach dem dritten Glas wurde der Bäcker endlich etwas zugänglicher. Antoine tat, als wäre er schon ziemlich angeheitert und nutzte die Gelegenheit, seine Unzufriedenheit über die Milizen auszudrücken.

»Wieso trittst du dann nicht einfach aus dem Verein aus?«, wollte Yves wissen.

»Wenn das so einfach wäre!« Antoine stierte missmutig in sein Glas. »Aus dem Verein kann man nicht so einfach wieder austreten. Ich hab mich verpflichtet. Außerdem brauch ich das Geld für den Unterhalt meiner Mutter und meiner Schwester.« Das entsprach sogar der Wahrheit.

Yves verstand ihn. »Manchmal bleibt einem keine andere Wahl.« Sein Blick schwankte zwischen Verachtung und Bedauern. »Musst halt einfach das Beste daraus machen, bis der ganze Spuk vorüber ist.« Er musterte ihn aufmerksam. »Hauptsache, du kannst dir im Spiegel noch in die Augen sehen.«

Antoine erkannte, dass er auf dem richtigen Weg war. »Ich glaub schon lang nicht mehr an den Sieg der Deutschen«, verriet er seinem Trinkkumpan. »Überall reden sie davon, dass die Alliierten bald in Frankreich einmarschieren werden, um uns zu befreien.« Mit einem misstrauischen Blick in den Raum fügte er leiser hinzu: »Ich würde vieles tun, um der Sache endlich ein Ende zu bereiten!«

»Willst du meine Gesinnung testen?«, verhöhnte ihn Yves, der keineswegs dumm war.

»Auf die Invasion!«

Antoine hob trotzig sein Glas und prostete dem Bäcker zu. Dabei blickte er ihm fest in die Augen. Doch so leicht war sein Gegenüber nicht zu überzeugen. Anstatt auf ihn einzugehen, wechselte Yves das Thema und kam auf das große Dorfereignis am kommenden Wochenende zu sprechen.

»Mit dem Scheunenfest feiern wir jedes Jahr das erfolgreiche Einbringen der Ernte«, erzählte er. »An diesem Tag werden alle Streitigkeiten im Dorf vergessen, Alt und Jung amüsieren sich gemeinsam. Das hält uns hier zusammen!«

»Gibt es auch Musik?«

Yves nickte stolz. »Den ganzen Tag über. Normalerweise tritt jemand auf. Doch dieses Jahr fehlt uns leider ein guter Akkordeonspieler. Wir werden aufs Grammofon zurückgreifen müssen.«

»Ich könnte einspringen!« Antoine erzählte, dass er Musiker sei und schon oft ein Publikum unterhalten habe. Die Miene des Bäckers wurde sofort um einiges freundlicher. »Dann bist du unser Mann, wenn du magst.«

»So soll es sein!«

Antoine hielt ihm die Hand hin, woraufhin Yves sofort einschlug. Mit einem Mal wurde er richtig leutselig. Er erzählte, dass er einer der Organisatoren des Festes sei und wegen der Musik schon Bauchgrimmen gehabt habe. Die nächste Runde nahm er auf seine Kappe. Mit zunehmendem Alkoholpegel verlor der Bäcker seine Zurückhaltung und auch sein Misstrauen. Antoine erfuhr endlich mehr über die Menschen aus der Gegend, auch, dass die meisten sich nichts mehr wünschten, als dass die Deutschen bald wieder verschwanden und die alte Ordnung wiederhergestellt wurde.

»Von mir aus können die sales boches, diese dreckigen Deutschen, alle verrecken«, knurrte Yves grimmig. »Und glaub mir, das werden sie auch über kurz oder lang!« Er grinste verschmitzt. »Wenn die wüssten, was hier so läuft!«

Antoine musste sich zurückhalten, um nicht gleich nachzufragen. Er wollte auf keinen Fall Yves’ gerade gewonnenes Vertrauen aufs Spiel setzen. Um mehr zu erfahren, musste er behutsam vorgehen. Damit hatte sich Flamberts Verdacht verdichtet. Doch welche Rolle spielten Yves und Miron Zlatin? Waren sie nur Sympathisanten oder gar selbst Täter? Zumindest Miron schien nicht mehr als ein Sympathisant zu sein. Er und seine Frau waren seines Wissens noch nicht sehr lange in der Gegend. Außerdem waren sie Ausländer. Sie hatten gar nicht die Möglichkeiten und Beziehungen, ein Guerillanetz aufzubauen. Auch Yves schien ihm nicht intelligent genug, um bis ins Feinste durchdachte Attentatspläne auszuhecken. Aber vielleicht gelang es ihm ja, über ihn an wertvolle Informationen zu kommen. Auf jeden Fall hatte er etwas, das er Laval und Barbie berichten konnte. Das war zumindest schon mal ein Anfang.

»Es ist spät, ich mach jetzt zu«, verkündete der Wirt und beendete ihr Zusammensein.

Antoine übernahm den Rest der Rechnung, hakte den betrunkenen Yves unter und stützte ihn auf dem Weg nach draußen. Der Bäcker konnte kaum noch aufrecht gehen. Antoine blieb nichts anderes übrig, als ihn nach Hause zu begleiten.

»Bist ’n feiner Kerl«, lallte Yves, als sie sich vor der Boulangerie verabschiedeten. »Obwohl du zu den Falschen gehörst …«

Beim Versuch, ihm auf die Schulter zu klopfen, geriet er aus dem Gleichgewicht, sodass Antoine ihn auffangen musste. Er half ihm noch, die Haustür aufzuschließen, dann machte er sich auf den Heimweg. Nach den vergangenen lauen Spätsommernächten war diese Nacht überraschend kühl. Antoine, der ebenfalls zu viel getrunken hatte, spürte, wie ihm die Kälte guttat und er wieder einen klaren Kopf bekam. Auf dem Weg zu seinem Gasthof, der am anderen Ende des Dorfes lag, geriet er in eine seltsam melancholische Stimmung. Was tat er hier überhaupt? Yves war ein netter Kerl. Er war gerade dabei, seine Freundschaft zu gewinnen, nur um ihn womöglich bald zu verraten. Wie konnte er das vor sich und seinem Gewissen rechtfertigen? Was war in diesem verdammten Krieg überhaupt gerecht?

Marguérite und die Waisenkinder kamen ihm in den Sinn. Die junge Frau hatte einen starken Eindruck bei ihm hinterlassen. In ihrer Nähe hatte er sich geborgen und verstanden gefühlt. Auf einmal wusste er, dass er sie unbedingt wiedersehen wollte. Ob es ihr wohl genauso ging? Er wurde noch nicht richtig schlau aus der jungen Betreuerin. In den letzten Wochen waren sie sich mehrfach flüchtig begegnet und hatten auch hin und wieder ein paar Worte miteinander gewechselt. Er hatte sich eingebildet, dass auch sie sich freute, ihn zu sehen, nur um dann gleich wieder auf Distanz zu gehen. Zu gern hätte er sie näher kennengelernt, hätte sie einmal zu einem Spaziergang am Sonntagnachmittag eingeladen, aber jedes Mal, wenn er sich ein Herz fassen wollte, war sie wieder auf Abstand zu ihm gegangen.

Ob sie doch etwas mit diesem Lucien Bourdon angefangen hatte? Die Vorstellung gefiel ihm gar nicht, aber immerhin besaß der Kerl einen eigenen Bauernhof und machte ihr mit allem Nachdruck den Hof. Auf der anderen Seite konnte er sich nicht vorstellen, dass eine so feingeistige Frau wie Marguérite sich mit solch einem Grobian einlassen würde. Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden. Er musste sie ebenfalls zu dem Scheunenfest einladen. Vielleicht gab sie ja ihm den Vorzug?

Der Gedanke beschwingte ihn. Plötzlich war seine Müdigkeit verflogen, und er beschloss, noch einen kleinen Umweg zu machen. Der Mond warf sein silbernes Licht auf die hügelige Landschaft, das verlieh der Welt einen friedlichen Anstrich. Er wählte den Pfad, der über die Hügel nach Champagneux führte. Nachdem er ihm ein ganzes Stück gefolgt war, erreichte er eine Hügelkuppe, von der man eine wunderbare Aussicht auf die nächtliche Rhône hatte. Unten im Tal glitzerte das Wasser des Flusses vor den Silhouetten einer Pappelallee.

Im nächsten Augenblick wurde die tiefe Stille von einem Geräusch ganz in seiner Nähe unterbrochen. Er wandte sich um, in der Annahme, es wäre ein Wildtier auf nächtlichem Streifzug. Trotz der Dunkelheit war es hell genug, um zu sehen, dass es das nicht war, sondern eine kleine menschliche Gestalt, vermutlich ein Kind. Ohne groß nachzudenken, nahm er die Verfolgung auf. Er näherte sich dem Gebüsch, in dem es verschwunden war, und sah tatsächlich inmitten stachliger Brombeerranken ein kleines Mädchen kauern. Wie ein verschrecktes Rehkitz sah es ihn aus großen Augen an. Das kleine herzförmige Gesicht war tränenverschmiert.

»Du musst keine Angst vor mir haben. Ich tu dir nichts!« Antoine ging in die Hocke. »Hast du dich verlaufen?«

Er streckte behutsam eine Hand nach der Kleinen aus, um ihr aus dem ungemütlichen Versteck herauszuhelfen. Die Ranken der Brombeeren hatten bereits ihre Wangen zerkratzt. Doch das Mädchen rührte sich nicht, es barg schluchzend sein Gesicht in den Händen.

Antoine überlegte, ob die Kleine aus dem Waisenhaus entlaufen sein könnte, verwarf den Gedanken jedoch, denn sie war aus einer anderen Richtung gekommen. Außerdem trug sie ein nasses Kleid, was vermuten ließ, dass sie einen Bach durchwatet hatte. Allem Anschein nach war sie vor irgendetwas auf der Flucht. Die Razzia, schoss es ihm sofort durch den Kopf. Natürlich! Es war gut möglich, dass das Kind aus der Richtung von Champagneux gekommen war. Hatte Flambert nicht erwähnt, dass das jüngste Mitglied der Familie entkommen war?

»Du musst nicht weinen!« Seine hilflosen Beruhigungsversuche zeigten zunächst wenig Erfolg. Er hatte kaum Erfahrung mit kleinen Kindern. Also redete er einfach drauflos. »Ich werde dir helfen! Mein Name ist Antoine, und ich bringe dich in Sicherheit. Versprochen!«

Erst nach einer ganzen Weile nahm das Mädchen die Hände weg von seinem Gesicht und sah ihn aus großen dunklen Rehaugen unsicher an. Ganz langsam gab die Kleine ihre Zurückhaltung auf und ließ zu, dass er ihr vorsichtig aus dem dornigen Versteck half. Sie war noch jünger, als er erwartet hatte, höchstens vier Jahre alt. Antoine war bewusst, dass es seine Pflicht war, sie nach Belley zu Laval zu bringen. Doch er brachte es nicht übers Herz. Würde er sie dorthin bringen, wäre sie zwar wieder bei ihren Eltern, doch sie würde ihr Schicksal teilen müssen und in eines der verdammten Lager transportiert werden. Jeder wusste, was die Insassen dort erwartete. Diese verdammten Interessenskonflikte, dachte er grimmig. Es war eines, dem Maquis das Handwerk zu legen, aber etwas ganz anderes, unschuldige Menschen ans Messer zu liefern, nur weil sie der falschen Religion angehörten.

»Wie heißt du denn?« Zitternd wie Espenlaub, stand die Kleine nun neben ihm und umklammerte fest seine Hand. Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur schweigend an. Wahrscheinlich verstand sie ihn nicht einmal. Auf jeden Fall musste sie Schreckliches durchlebt haben. Sie war völlig traumatisiert. »Ich bring dich jetzt zu ganz netten Leuten«, versprach er ihr.

Behutsam hob er sie auf seinen Arm und marschierte in Richtung Lélinaz. Je näher sie dem Kinderheim kamen, desto unschlüssiger wurde er, ob sein Plan eine gute Idee gewesen war. Er konnte das Mädchen nicht offiziell dort abgeben. Dadurch würde er die Heimleitung zwingen, es den Behörden zu melden, was unweigerlich zur Folge haben würde, dass man herausfand, dass es sich um das geflohene jüdische Kind aus Champagneux handelte. Wenn er es jedoch heimlich absetzte, bestand eine gewisse Chance, dass sie es einfach bei sich aufnahmen. Schließlich wusste er von Flambert, dass Zlatin mit den Flüchtlingshelfern sympathisierte. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr ahnte er, dass zumindest einige der Waisenkinder aus dem Weiler Lélinaz keine Franzosen waren. Schon bei ihrer ersten Begegnung war ihm aufgefallen, dass einige mit Akzent sprachen. Doch was auch immer sonst dahinterstecken mochte – er wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken.

Als sie den Weiler endlich erreicht hatten, war das Mädchen auf seinem Arm vor Erschöpfung eingeschlafen. Es wachte auch nicht auf, als er es die Stufen zur Eingangstür hinauftrug und dort behutsam absetzte. Er hatte die Kleine in seine Jacke gehüllt, damit sie nicht ganz so auskühlte. Doch die konnte er ihr kaum lassen, ohne dass man erriet, wem sie gehörte. Er sah sich um und entdeckte, dass die Tür zu den Stallungen nicht abgeschlossen war, also ging er hinein und fand dort tatsächlich eine alte Decke, in die er das Mädchen einhüllen konnte.

Das Waisenhaus lag friedlich im untergehenden Mondlicht, ebenso der danebenliegende Bauernhof. Ein Glück, dass der Hund nicht angeschlagen hatte, als sie gekommen waren. Antoine streichelte sanft über das Gesicht des Mädchens.

»Viel Glück«, flüsterte er ihm zärtlich zu.

Dann zog er an der Türglocke und machte, dass er davonkam.

Das heftige Läuten an der Haustürglocke riss Marguérite unsanft aus dem Schlaf. Auch Léa, die mit ihr das Zimmer teilte, war sofort hellwach. Innerhalb weniger Augenblicke war das halbe Haus auf den Füßen. Sie scheuchten die Kinder wieder zurück in die Schlafsäle und befahlen ihnen, ruhig zu bleiben. Als sie und Léa unten ankamen, standen Miron und seine Frau bereits an der Haustür.

»Sorgt um Gottes Willen dafür, dass die Kinder in ihren Schlafräumen bleiben«, rief Sabine ihnen alarmiert zu. »Falls es die Miliz ist, kümmern wir uns um sie.«

Miron nickte ihnen zu, dann öffnete er die Tür. Doch statt der Soldaten fand er nur ein kleines, in eine Stalldecke eingehülltes Mädchen auf der Türschwelle, das aus dem Schlaf geschreckt war und ihnen angstvoll entgegenblickte.

Léa und Marguérite warfen einander einen erleichterten Blick zu.

»Keine Razzia!« Léa atmete tief aus. »Da haben wir ja noch mal Glück gehabt. Ich dachte schon, sie nehmen nun auch uns unter die Lupe, jetzt, da die Italiener abgezogen sind.«

Marguérite stimmte ihr zu. Seit dem Waffenstillstand der Italiener mit den Alliierten wenige Tage zuvor war das Kinderheim noch unsicherer geworden. Bis vor Kurzem hatten die Italiener die Juden geschützt oder wenigstens in Ruhe gelassen. Doch nun machte sich die Miliz aus der ehemals freien Zone in der Gegend breit und machte verstärkt Jagd auf jüdische Flüchtlinge und auf die Widerstandskämpfer der Résistance, obwohl sie dazu nicht befugt waren. Auch an diesem Abend hatten Miron und Sabine noch bis tief in die Nacht diskutiert, wohin sie als Nächstes mit den Kindern fliehen sollten. Sabine war deswegen mehrfach in Montpellier beim Kinderhilfswerk OSE gewesen. Beim letzten Mal hatte sie die Suche nach einem neuen Unterschlupf als äußerst dringlich dargestellt. Doch das zu organisieren brauchte Zeit.

Die Heimleiterin versuchte, das Mädchen an die Hand zu nehmen, um sie ins Haus zu führen, doch die Kleine sträubte sich mit Händen und Füßen. Überdies fing sie jämmerlich an zu weinen. Sie war so verschreckt, dass Sabine zurückwich und ratlos in die Runde sah. Marguérite erinnerte sich an die eigenen Ängste während ihrer Flucht.

»Lass mich es versuchen!« Sie näherte sich dem Kind behutsam und begann intuitiv, ein deutsches Kinderlied zu singen. Als Sabine sah, dass es zumindest mit dem Weinen aufhörte und sie mit weniger Zurückhaltung betrachtete, gab sie den anderen ein Zeichen, sich zurückzuziehen. Marguérite ging in die Hocke und sang einfach weiter. An der Reaktion der Kleinen erkannte sie, dass ihr die Melodie vertraut war. »Kennst du das Lied?«, fragte sie auf Deutsch. Das Mädchen nickte kaum erkennbar. »Ich komme auch aus Deutschland, wie du.« Sie lächelte. »Mein Name ist Margarete, aber hier nennen mich alle Marguérite«, erklärte sie weiter. »Du brauchst keine Angst zu haben. Niemand hier tut dir etwas.« Die Kleine starrte sie aus ihren großen dunkelbraunen Augen weiter an, aber sie hatte das Gefühl, dass sie langsam Vertrauen zu ihr fasste. Um ihr weiter die Angst zu nehmen, ließ sie den Redefluss nicht abbrechen. »Hast du vielleicht Hunger?« Dieses Mal nickte die Kleine heftiger. »Dann lass uns doch mal nachsehen, was wir Leckeres in der Küche finden.«

Sie streckte ihre Hand aus, und tatsächlich schob das Mädchen seine Hand in die ihre und ließ sich von ihr fortführen. In der Küche stand noch etwas Gemüsesuppe vom Vorabend. Sie war sogar noch warm, weil sie auf dem Herd stand. Marguérite schöpfte einen Teller voll und brachte ihn der Kleinen mit einem Stück altbackenem Brot. Sie aß mit großem Appetit, war jedoch nicht bereit, auf eine der Fragen zu antworten, die Marguérite ihr stellte. Sie nannte nicht einmal ihren Namen.

»Was machen wir nur mit der Kleinen?«, fragte Sabine müde. Sie und Léa hatten sich ebenfalls an den Küchentisch gesetzt. »Es ist unsere Pflicht, sie den Behörden zu melden.«

Miron stand im Unterhemd hinter ihr und stützte sich auf die Stuhllehne. »Das werden wir ganz gewiss nicht tun«, sagte er bestimmt. »Gaston hat sich vorhin gemeldet. Sie haben am frühen Abend eine Razzia in Champagneux gemacht. Die deutsche Familie, die beim Schuster versteckt war, haben sie gefunden und mitgenommen. Das jüngste Kind konnte entkommen. Es heißt übrigens Anne.«

Alle sahen sich betroffen an. Was für ein sonderbarer Zufall. Hatten sie hier den kleinen Flüchtling vor sich? Hatte irgendjemand, der zumindest ahnte, wer sie waren, der Kleinen geholfen?

Während die anderen darüber eifrig zu diskutieren begannen, wandte sich Marguérite wieder dem Mädchen zu. »Bist du Anne?«

Es zuckte zusammen und wirkte sofort wieder eingeschüchtert. Schließlich nickte es und biss sich dabei fest auf die Lippen, als wäre nun Schlimmes zu erwarten.

»Du musst keine Angst haben.« Marguérite schnürte es das Herz zu, als sie die Kleine so leiden sah. Tröstend legte sie den Arm um die schmächtigen Schultern. Da schluchzte das Kind auf und umarmte Marguérite so fest, als wollte es nie wieder von ihr abrücken. Gerührt streichelte sie immer wieder über Annes mageren Rücken und redete behutsam auf sie ein. Jetzt, da sie das Vertrauen des Mädchens gewonnen hatte, fühlte sie sich besonders verantwortlich. »In diesem Haus wohnen noch viel mehr Kinder, denen Ähnliches widerfahren ist wie dir. Du wirst sie gleich morgen kennenlernen.« Sie drückte Anne vorsichtig von sich weg, um ihr in die Augen sehen zu können. »Du bist doch sicherlich müde. Ich werde dich ins Bett bringen, und morgen sehen wir dann weiter!«

Ohne Widerstand folgte Anne Marguérite. Sie steckte sie zu Mina und Claudine ins Zimmer, die aus Österreich stammten. Sie hoffte, dass die drei Mädchen sich vielleicht anfreunden würden, schon allein, weil sie dieselbe Sprache sprachen. Marguérite blieb bei Anne, bis sie eingeschlafen war. Als sie zurück in die Küche kam, hatten sich die anderen bereits in ihre Zimmer zurückgezogen.

Am nächsten Morgen hatte Anne hohes Fieber und wälzte sich schweißgebadet in ihrem Bett. Sabine rief Suzanne Reifmann herbei, die eine beginnende Lungenentzündung feststellte. Die Ärztin verordnete ihr Wadenwickel und ausreichend Flüssigkeit. Marguérite kümmerte sich darum und blieb bei der Kleinen, bis Léa sie ablöste. Anschließend half sie beim Frühstückmachen in der Küche. Als sie zufällig einen Blick aus dem Fenster warf, sah sie, dass ein Mann auf die Kolonie zukam. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie Antoine Mardieu erkannte.

»Was will der denn hier?«, fragte Philippe, der ihren Blicken gefolgt war. Er rümpfte die Nase. »Ein Milizionär! Auf einen wie den können wir verzichten.«

»Ich kenne ihn und frage, was er will.«

Marguérite nahm rasch die Schürze ab und machte sich auf den Weg nach draußen, bevor der Koch etwas einwenden konnte.

»Guten Morgen, Marguérite«, begrüßte Antoine sie mit einem strahlenden Lächeln, das ihr Herz gleich noch etwas schneller schlagen ließ. Sie hätte Antoine allzu gern vertraut, doch die Ereignisse der letzten Nacht ließen sie wieder vorsichtiger werden. Annes Schicksal zeigte nur zu deutlich, zu was Menschen wie Mardieu fähig waren. Aus diesem Grund erwiderte sie den Gruß nur zögerlich mit einem Nicken. »Ich bringe Brot für die Kinder«, verkündete Antoine unbeeindruckt und zeigte auf den großen Korb unter seinem Arm, aus dem es herrlich nach frisch Gebackenem duftete.

»Stellen Sie es dorthin bitte.« Sie deutete auf die Bank vor dem Haus.

Antoine tat wie ihm geheißen, doch er schien ein wenig gekränkt über ihre reservierte Haltung zu sein. »Gern geschehen!«

»Die Kinder werden sich sicherlich freuen. Ist sonst noch etwas?«

Obwohl sie sich liebend gern noch mit ihm über andere Dinge unterhalten hätte, gelang es ihr nicht, entgegenkommender zu sein. Allein der Gedanke, dass Antoine ein Teil dieser schrecklichen Razzia von Champagneux gewesen sein könnte, wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Es war falsch, wenn sie ihm gegenüber freundliche Gefühle hegte.

»Hören Sie, ich wollte Ihnen allen wirklich nur eine Freude machen. Ich hoffte ehrlich gesagt, dass wir uns noch ein wenig unterhalten können …«

Er war nicht bereit, sie einfach gehen zu lassen. Doch das durfte sie nicht kümmern.

»Ich hab leider keine Zeit!« Sie nickte ihm erneut zu, nahm den Korb und machte sich daran, zurück ins Haus zu gehen.

»Nun lassen Sie mich doch nicht so einfach stehen! Was ist denn heute mit Ihnen los?« Antoine berührte leicht ihren Arm. Sie zuckte zusammen, blieb aber dann doch stehen und wandte sich ihm zögernd wieder zu. Da erst fiel ihr auf, wie verlegen er war. »Ich wollte Sie eigentlich etwas fragen«, begann er unsicher. »Nächsten Sonntag ist das Erntedankfest. Werden Sie auch dort sein?«

»Vermutlich.«

Marguérite wollte die Frage ursprünglich verneinen, brachte es dann aber doch nicht übers Herz. Durch Antoines kurze Berührung fühlte sie sich wie elektrisiert. Das Gefühl war überaus angenehm.

»Wollen Sie mich dorthin begleiten?«, fragte er sie, nun etwas mutiger geworden. »Ich werde dort Akkordeon spielen. Vielleicht haben Sie ja Lust und erfreuen mich mit Ihrem Gesang«, fügte er hinzu.

»Das ist keine gute Idee.« Mittlerweile hatte sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Doch als sie in seine sanften braunen Augen sah, wurde sie wieder schwach. Was war nur mit ihr los? Sie zwang sich, an die kleine Anne zu denken, und schüttelte energisch den Kopf. »Ich bin bereits mit Lucien Bourdon verabredet«, log sie ihn an. Im nächsten Augenblick verdammte sie sich dafür, denn nun würde sie dafür geradestehen müssen. Antoines Gesichtszüge verhärteten sich, obwohl er sich alle Mühe gab, seine Enttäuschung nicht zu zeigen.

»Vielleicht können wir uns ein anderes Mal sehen, auf einem Spaziergang zum Beispiel?«

Marguérite ärgerte sich über sich selbst. Und es ärgerte sie, dass Antoine sie nicht einfach in Ruhe ließ.

»Ich möchte nicht mit Ihnen ausgehen«, antwortete sie abrupt.

Dann wandte sie sich um und eilte rasch ins Haus.

»Wie konntest du den armen Kerl nur so vor den Kopf stoßen?«, wollte Léa wissen, als sie wenig später gemeinsam die Wäsche aufhängten und Marguérite ihr alles erzählt hatte. »Wenn so ein Typ wie Antoine mich gefragt hätte, hätte ich bestimmt nicht Nein gesagt.«

»Schon vergessen, dass er zu den Leuten gehört, die es auf uns abgesehen haben?«, konterte Marguérite, die sich selbst über ihre harsche Reaktion im Nachhinein ärgerte. »Die Miliz hat Annes Familie auf dem Gewissen! Vielleicht war er ja sogar bei der Razzia dabei.«

»Du weißt doch gar nicht, weshalb er zur Miliz gegangen ist«, verteidigte Léa Antoine provokativ. »Den Bruder meiner besten Freundin haben sie so lange bedrängt, bis er endlich unterschrieben hat. Er ist dennoch kein schlechter Kerl geworden. Hat sogar meinem Cousin bei der Flucht geholfen.«

»Ich vertraue ihm dennoch nicht«, beharrte Marguérite trotzig. »Das einzig Ärgerliche ist, dass ich nun wohl oder übel mit Lucien zum Fest werde gehen müssen. Sonst hält Antoine mich für unglaubwürdig.«

»Also ist er dir doch nicht egal …« Léa warf ihr einen amüsierten Blick zu.

Marguérite übersah ihn geflissentlich.

Der darauffolgende Sonntag versprach ein wundervoller Spätsommertag zu werden. Die Sonne erstrahlte in seidigem Glanz an einem wolkenlosen Himmel und leckte bis in die späten Morgenstunden den letzten Nebel aus den Tälern auf. Die Getreidefelder längs der Rhône waren bereits abgeerntet, während an den Berghängen noch viele Obstbäume darauf warteten, von ihrer schweren Last befreit zu werden. Obwohl die Ernte um diese Jahreszeit noch nicht völlig eingebracht war, feierten die Leute von Brégnier-Cordon und Izieu Ende September ihr großes Gemeindefest. Daran hatten auch der Krieg und die schwierigen Zeiten nichts zu ändern vermocht. Der Bauer Marcel Breunier auf dem Hang unterhalb von Izieu stellte seine Scheune für die Festivitäten zur Verfügung, die Dorfbewohner sorgten dafür, dass es reichlich zu essen und zu trinken gab. Vor dem Krieg hatte man für das Fest sogar einen Ochsen geschlachtet und über einem Kohlenfeuer gegrillt. Nun begnügten sich die Leute mit einem würzigen Fleischeintopf, Pasteten und Gemüsekuchen. Auch ein großes Fass Wein hatte jemand spendiert und selbst gebrannten Obstschnaps. Die Frauen hatten Kränze aus Sommerblumen gebunden und damit die Scheune geschmückt. Auf den derben Holztischen standen Sträuße frischer Blumen. Am Kopfende der Scheune war ein Holzpodest für die Musiker errichtet worden samt Tanzfläche. Alles stand bereit für das große Fest.

Wie es sich für ordentliche Christenmenschen gehörte, gingen die Menschen am Sonntagmorgen in den Gottesdienst, bevor sie sich zum Feiern in Breuniers Scheune einfanden. Die Zlatins hatten Léon, Léa, Marguérite und einige der Jugendlichen dazu gedrängt, sich auf dem Fest sehen zu lassen, nachdem sie selbst für sich und die jüngeren Kinder die Einladung des Bürgermeisters abgelehnt hatten – mit der Begründung, sie brächten zu viel Unruhe in die Dorfgemeinschaft. Der wahre Grund war, dass sie fürchteten, die ausländischen Kinder würden sich verraten, weil sie nur schlecht oder gar kein Französisch sprachen.

Marguérite wäre gern ebenfalls bei den Kindern geblieben. Doch die anderen ließen keine ihrer Ausreden zu. Léa bestand darauf, dass sie das helle Sommerkleid anzog, das Sabine ihr geliehen hatte, und sich von ihr die Haare bändigen ließ. Mit geschickten Händen flocht sie die schulterlangen Locken zu einem verspielten Kranz und flocht einzelne Kornblumen hinein. Zufrieden musterte sie ihr Werk. Marguérite musste zugeben, dass Léa es verstand, aus wenigem viel herauszuholen. Auch ihre Freundin konnte sich in ihrem roten Kleid und den weißen Sandalen durchaus sehen lassen. Als die beiden sich ihren Begleitern präsentierten, ließen sie anerkennende Pfiffe hören.

»Der erste Tanz gehört mir«, verkündete Léon selbstbewusst und hakte sich ganz selbstverständlich bei Léa unter.

Diese wurde feuerrot und begann vor Aufregung zu kichern. Die beiden geben ein hübsches Paar ab, dachte Marguérite versonnen, während sie mit dem halbwüchsigen Théo Reis und Arnold Hirsch an der Seite hinter ihnen hermarschierte.

Schon von Weitem konnten sie den munteren Trubel hören. Die meisten hatten den sonntäglichen Gottesdienst mit Anstand hinter sich gebracht und freuten sich nun auf das gesellige Beisammensein. Dementsprechend voll war es bereits, als sie Breuniers Scheune betraten. Die Bankreihen, die man längs zur Tanzbühne aufgestellt hatte, waren schon gut besetzt. Léon spähte gerade nach einem Platz für sie alle, als Lucien Bourdon Marguérite eifrig zuwinkte, damit sie sich zu ihm gesellte. Sie tat so, als sähe sie ihn nicht, und hoffte, dass auch keiner ihrer Begleiter auf ihn aufmerksam würde. Doch natürlich wurde ihre Hoffnung zerstört, denn schon wenig später, kaum, dass sie sich alle gesetzt hatten, kam der Bauer auf sie zu und baute sich breitbeinig vor ihr auf.

»Da bist du ja«, begrüßte er sie, ohne sich um die anderen Anwesenden zu scheren. »Ich hab dir einen Platz ganz vorne freigehalten, da wo man auch was …« Sie hörte nicht richtig zu. Denn noch während er sprach, sah Marguérite, wie Antoine mit Yves, dem Bäcker, hereinkam und zu den Musikern, die gerade ihre Instrumente auspackten, auf die Bühne ging. Er hatte sie ebenfalls entdeckt, aber gleich wieder den Kopf abgewandt, was sie verstimmte. »Was ist nun?«, wollte Lucien wissen. Marguérite sah ihn verständnislos an. »Kommst du?« Er packte ihren Oberarm.

»Was soll das?«, fragte sie empört. »Ich mag es nicht, wenn man mich so einfach anfasst.«

Lucien lachte anzüglich. »Ganz die Wildkatze, die ihre Freiheit liebt … Das gefällt mir.« Sein Blick fiel herausfordernd auf Léon, als er sah, dass der Marguérite beistehen wollte. »Ich hab Marguérite eingeladen«, erklärte er barsch. »Und sie hat Ja gesagt, stimmt’s?«

Er sah sie unter seinen buschigen Brauen erwartungsvoll an. Marguérite zuckte nur resigniert mit den Schultern. Sie wollte kein weiteres Aufsehen erregen. Andererseits wollte sie aber auch nicht alles tun, was Lucien von ihr erwartete.

»Ich möchte hier bei meinen Freunden bleiben und nicht vorne in der ersten Reihe sitzen«, machte sie ihm deutlich.

»Ich hab dir extra einen Platz freigehalten«, beschwerte sich Lucien mürrisch, lenkte dann aber ein, als sie keine Anstalten machte, ihm zu folgen.

Er zwängte sich zwischen Marguérite und den schmächtigen Arnold, sodass dieser von der Bank gedrängt wurde und keinen Platz mehr hatte. Arnold wollte sich beschweren, doch Léon warf ihm einen warnenden Blick zu. Sie alle wussten, dass es viel zu gefährlich war, wenn einer von ihnen während des Festes unangenehm auffiel oder es gar zu Streitigkeiten kam.

Théo erkannte die Lage. »Komm, wir sehen mal, was draußen so los ist«, forderte er seinen Freund auf, ihn vor die Scheune zu begleiten.

Kaum waren sie nur noch zu viert, verkündete Lucien, dass es nun Zeit wurde, sich einen Aperitif zu genehmigen. »Die erste Runde geht auf mich«, verkündete er großspurig, obwohl keiner von ihnen den Wunsch geäußert hatte, etwas zu trinken.

»Der ist ja ganz schön ungehobelt«, flüsterte Léa empört, kaum dass Lucien verschwunden war, um die Getränke zu holen.

»Was denkst du, weshalb ich heute nicht hierherwollte«, stimmte Marguérite ihr finster zu. »Aber nachdem ich Antoine gesagt habe, dass ich mit Lucien auf das Fest gehe, musste ich ihm wohl oder übel zusagen.«

»Und wieso bist du nicht mit Antoine gegangen?«, fragte Léon, der von alldem nichts mitbekommen hatte.

»Weil er ein Kollaborateur ist, du Idiot!«, wies ihn Léa barsch zurecht. »Er hat geholfen, Annes Eltern festzunehmen.«

»Das hat er nicht«, entgegnete Léon ruhig. »Ich weiß von Yves, dass sie den ganzen Abend zusammen in der Bar waren. Der Kerl ist sauber.«

»Woher willst du das wissen?«, erkundigte sich Marguérite.

»Er hat Yves erzählt, dass man ihn gezwungen hat, bei der Miliz mitzumachen. Er hat sich sogar bereit erklärt, dem Maquis heimlich zu helfen. Er …«

Léon unterbrach sich, weil Lucien mit einem Tablett voller Pastis-Gläser zurückkehrte, das er vor sie auf den Tisch stellte.

»À votre santé!«, fuhr der Bauer dazwischen. Er nahm eines der Gläser, um es sofort in einem Zug zu leeren. Léa und Marguérite lehnten dankend ab, was Lucien nicht weiter scherte. »Dann halten wir beide uns eben daran, mon ami«, rief er und zwinkerte Léon zu, der anstandshalber an seinem Glas nippte. Nachdem Lucien auch noch das dritte Glas Pastis innerhalb kürzester Zeit geleert hatte, war er bereits in bester Stimmung. »Wann geht denn die Musik endlich los?«, brüllte er.

Damit traf er den Nerv der anderen Besucher. Leider gab es auf der Bühne einige Probleme. Die Musiker der Blaskapelle waren noch nicht vollzählig, sodass sie nicht aufspielen konnten. Yves, der Bäcker, rettete schließlich die Situation, indem er Antoine aufforderte, mit seinem Akkordeon schon mal für etwas Stimmung zu sorgen. Zögernd betrat dieser die Bühne. Marguérite fand, dass er ausgesprochen schmuck aussah. Er trug eine graue frisch gebügelte Hose und ein kurzärmeliges weißes Hemd. Nur sein Hut, eine Kreissäge aus Stroh, wirkte irgendwie deplatziert.

Sobald Antoine jedoch vor dem Mikrofon stand, ging eine Verwandlung mit ihm vor, und nun passte alles zueinander. Er richtete sich auf und warf einen prüfenden Blick ins Publikum. Gleichzeitig stippte er sich mit dem Zeigefinger den Hut aus der Stirn, was ihm einen lausbubenhaften Anschein gab. Nicht nur Marguérite stellte fest, wie aus dem schmächtigen, eher unauffällig wirkenden Mann plötzlich eine Persönlichkeit wurde, die eine starke Anziehungskraft auf das Publikum ausübte. Sein Blick wanderte über die Leute, blieb für einen Augenblick länger, als es nötig gewesen wäre, an ihr hängen, um dann auch den anderen Teil der Scheune zu inspizieren.

»Meine Damen und Herren, liebes Publikum, es ist mir eine Ehre, heute hier zu sein«, begrüßte er sie selbstbewusst. »Natürlich habt ihr mit Fug und Recht etwas Besseres erwartet als mich …«

»Genau! Kein Geschwafel, sondern Musik, die was taugt!«, rief Lucien lauthals dazwischen und kam sich dabei ungeheuer witzig vor.

Marguérite strafte ihn mit einem vernichtenden Blick. Léa rollte nur mit den Augen. Doch Antoine ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen. Er lächelte Lucien betont freundlich zu.

»Auch du wirst es überleben, Bourdon«, witzelte er, was ihm prompt einige Lacher einbrachte. »Frédéric und Pascal sind leider noch nicht hier. Frédérics Kuh kalbt, und Pascal hilft ihm im Stall.«

Erneutes amüsiertes Gelächter. Ganz im Gegensatz zu Luciens plumpen Zwischenrufen mochten die meisten Antoines lockere Sprüche. Er schulterte sein Akkordeon und spielte ein paar Töne eines Valse Musette an. Sobald die Leute die Melodie erkannten, wurde ihr Gemurmel leiser, und die Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf ihn und seine Musik. Er spielte nicht nur, er lebte die Melodie und wurde in rhythmischen Bewegungen eins mit seinem Instrument – ebenso virtuos wie leichtfüßig. Im Nu brachte er seine Zuschauer in Stimmung.

Marguérite gelang es schon bald nicht mehr, ihre Vorbehalte gegen Antoine aufrechtzuerhalten. »Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen kennen keine Lieder!« Hatte ihr Vater das nicht immer gesagt? Wenn das Leben doch nur so einfach wäre. Sie seufzte leise. Aber eines musste man diesem Mann lassen. Er verstand sein Handwerk wie kaum ein anderer. Nach dem Valse Musette folgten ein Tango und schließlich ein Foxtrott. Einzelne Paare tummelten sich bereits auf der Tanzbühne und wagten ein erstes beschwingtes Tänzchen.

Nach dem dritten Stück brach Antoine ab und verabschiedete sich mit einem knappen »Merci«. Die Dorfbewohner waren jedoch keinesfalls bereit, ihn einfach so ziehen zu lassen. Einzelne Pfiffe und Zwischenrufe zwangen ihn schließlich auf die Bühne zurück. Antoine tat so, als zierte er sich, doch Marguérite, die selbst Bühnenerfahrung besaß, erkannte gleich, dass dies nur eine Masche war. Sie erinnerte sich, wie wundervoll es war, eine Menschenmenge mit Musik zu begeistern. Wehmütig dachte sie an die eigene Karriere, die gerade erst begonnen hatte, als die Nazis alles zunichtegemacht hatten. Nun würde sie wohl nie wieder auf einer Bühne stehen.

Als hätte Antoine ihre Gedanken erraten, sah er erneut zu ihr herüber, und dieses Mal bildete sie sich nicht ein, dass sein Blick sie gefangen hielt. Sie spürte, wie sie errötete.

»Zum Tanz ist nach dem Essen Zeit, wenn alle einen dicken Bauch haben«, verkündete Antoine und wandte sich damit wieder seinem Publikum zu, das nach Tanzmusik verlangt hatte. »Aber …« Er machte eine Kunstpause. »Das bedeutet natürlich nicht, dass ihr auf Musik verzichten müsst. Wie wäre es mit einem Chanson von Charles Trenet?«

Der populäre Künstler war im ganzen Land für seine unbeschwerten Lieder bekannt, die die Menschen über die schlechten Zeiten hinwegtrösten sollten. Keine schlechte Wahl, dachte Marguérite. Damit hält er die Leute bei Laune. Ohne auf die Zustimmung seines Publikums zu warten, begann er zu seinem Akkordeonspiel Je Chante zu singen. Die Melodie und der Text gingen sofort in alle Ohren. Antoines kräftiger Tenor war wohlklingend und animierte zum Mitsingen. Selbst Léa begann mitzusummen, obwohl sie überhaupt nicht musikalisch war. Lucien verfolgte die Darbietung nur mit mürrischer Miene. Er widmete sich einem neuen Pastis, den er sich in der Zwischenzeit besorgt hatte. Nach Je Chante folgte ein weiterer Gassenhauer. Jemand aus dem Publikum forderte La Vie en Rose. Antoine zierte sich.

»Wenn ich es allein vortrage, werde ich der großen Edith Piaf nur unrecht tun«, verkündete er. Plötzlich blieb sein Blick auf Marguérite ruhen. »Aber …«, fügte er nach einer kleinen Pause mit schalkhaft aufblitzenden Augen hinzu. »Es gibt jemanden hier im Raum, der Edith Piaf ohne Mühe das Wasser reichen könnte.« Er deutete in einer großen Geste auf Marguérite, die auf einmal sämtliche Blicke im Saal auf sich spürte und vor Verlegenheit am liebsten im Boden versunken wäre. »Dort sitzt Mademoiselle Marguérite! Sie ist eine wundervolle Sängerin, auch wenn sie sich im Moment noch etwas ziert.« Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und konnte dennoch nichts dagegen tun, dass sie bis zu den Haarwurzeln errötete.

»Das stimmt! Marguérite kann wunderbar singen«, fiel Léa ihr prompt in den Rücken, indem sie viel zu laut beistimmte.

»Spinnst du?«, zischte sie wütend in Richtung ihrer Freundin. »Du willst mich wohl vor allen blamieren.«

»Ach, komm schon, du kannst das!«, drängte Léa, die sich von Antoine angestachelt fühlte. »Das ist deine Chance. Du hast mir doch selbst erzählt, wie sehr du deine Auftritte vermisst.«

»Aber nicht hier! Außerdem sind meine Stimmbänder eingerostet. Ich müsste mich zumindest einsingen.«

»Wozu soll das denn gut sein?« Léa ließ sich durch nichts überzeugen.

Die Menschen um sie herum beobachteten amüsiert, wie die beiden sich kabbelten. Einige begannen »Marguérite« zu intonieren, und als Antoine sie noch mal aufforderte, zu ihm auf die Bühne zu kommen, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als dem Folge zu leisten.

»Sie Schuft«, zischte sie in sein Ohr, als er ihr auf die Bühne half. »Das werden Sie noch bereuen.«

Antoine überging ihre Drohung mit einem charmanten Lächeln. Seine braunen Augen blitzten vor Vergnügen und sahen sie herausfordernd an. So bedrängt, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als sich vor das Mikrofon zu stellen und das Beste aus ihrer Situation zu machen. Antoine ließ sie nicht aus den Augen, während seine Finger über die Tasten und Knöpfe seines Akkordeons huschten und ihm die ersten Töne der Melodie entlockten. Er spielte ebenso kräftig wie gefühlvoll, sodass die Musik sofort Besitz von ihr ergriff. Sie begann unwillkürlich, sich leicht im Takt zu wiegen, und wusste in dem Augenblick, als ihr Einsatz zum Singen kam, dass es genau das war, was sie wollte.

Antoine und sie standen einander gegenüber. Er war eins mit seinem Instrument und wurde eins mit ihr, als ihre Stimme auf seine Melodie reagierte.

»Des yeux qui font baisser les miens, un rire qui se perd sur sa bouche. Voilà le portrait sans retouches de l’homme auquel j’appartiens. Quand il me prend dans ses bras, qu’il me parle tout bas: Je vois la vie en rose.

Il me dit des mots d’amour, des mots de tous le jours. Et ça me fait quelque chose …«

Während sie sang und er spielte, blieben ihre Augen ineinander verhaftet. Es war, als hätte sich eine Art Zauber über sie gelegt, der die Worte des Chansons wahr werden ließ:

Augen, die die meinen küssen,

ein sich verlierendes Lächeln auf seinem Mund.

Hier ist das Porträt ohne Retusche

von einem Mann, zu dem ich mich hingezogen fühle.

Wenn er mich in seine Arme nimmt,

mit tiefer Stimme zu mir spricht,

seh ich das Leben durch die rosarote Brille.

Er sagt Worte der Liebe zu mir,

Worte für alle Tage,

und das macht irgendetwas mit mir.

Nächte der Liebe und kein Ende,

ein großes Glück ergreift Besitz,

Kummer und Leid vergehen.

Glücklich, zum Sterben glücklich.

Als die letzten Töne verklangen, war für einen Moment Stille in der Scheune. Marguérite und Antoine sahen sich an, als gäbe es nur sie beide auf der Welt. Der Zauber schwand erst, als das Publikum in jubelnden Beifall ausbrach. Antoine lächelte ihr zu und nahm wie selbstverständlich ihre Hand, damit sie sich gemeinsam verbeugten.