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Adèle saß im überdachten Bereich der Terrasse und blickte gedankenverloren auf den See, dessen weiche Wellen sanft ans Ufer plätscherten. Die Weiden am Strand zogen lange Schatten und trugen ebenso zu der friedlichen Stimmung bei wie der Gesang der Vögel, der jetzt am Spätnachmittag, nach dem Abklingen der Hitze, wieder zugenommen hatte. Da ihr kühl geworden war, hatte sie sich eine Strickjacke übergezogen. Trotz ihrer körperlichen Erschöpfung spürte sie eine neue Lebensenergie, seitdem sie an diesem geschichtsträchtigen Ort angekommen war. Es war richtig, dass sie die Reise unternommen hatte. Frau Hufnagel hatte ihr freundlicherweise eine Kanne Tee zubereitet. Adèle schenkte sich nun davon ein. In Gedanken ließ sie die Unterhaltung mit ihrer Wirtin noch einmal Revue passieren. Sie hatte Frau Hufnagel nach der Insel Mainau gefragt.

»Die Insel ist im Sommer einfach wundervoll, wenn man Blumen liebt«, schwärmte sie. »Sie werden begeistert sein.« Sie erzählte von dem Rosengarten, dem Schmetterlingshaus und dem wundervollen Palmengarten. »Allerdings ist um diese Jahreszeit auch sehr viel los«, gab sie zu bedenken. »Wenn Sie nicht in einem Menschenpulk über die Insel geschoben werden wollen, sollten Sie Mainau gleich am frühen Morgen besuchen. Die Öffnungszeiten richten sich nach dem Sonnenstand. Ab halb fünf öffnen die Tore, sie schließen erst gegen zehn Uhr am Abend.«

»Du lieber Gott, das ist ja noch mitten in der Nacht«, erwiderte Adèle verwundert. »Ist das den Aufwand wert?«

»Aber ja!« Ihre Vermieterin lachte glucksend. »Dahinter steckt ein raffiniertes Marketingkonzept. Die Insel ist mit ihren Blumen, seltenen Pflanzen und Bäumen sowie dem Schmetterlingshaus die Haupttouristenattraktion des Bodensees. Die beiden Kinder des alten Grafen Bernadotte verstehen es, die Menschen zu überraschen. Aber das werden Sie ja selbst erleben. Allerdings muss man ganz schön viel laufen, wenn man das alles genießen will.« Frau Hufnagels skeptischer Blick verriet, dass sie ihr die Anstrengung nicht zutraute. »Für eine alte Dame wie Sie ist das kein Pappenstiel«, äußerte sie prompt offen ihre Bedenken.

»Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.« Adèle mochte es nicht, wenn man sich in ihre Belange einmischte, auch wenn die Wirtin recht hatte.

»Natürlich!« Frau Hufnagel hob beschwichtigend die Hände. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen den Rollator meines Mannes ausleihen. Nach seiner Hüftoperation steht er nur noch nutzlos im Schuppen rum.«

»Das ist sehr freundlich, aber ich denke, ich komme auch ohne so etwas zurecht«, bedankte sich Adèle reserviert, woraufhin sich Frau Hufnagel dankenswerterweise einem anderen Thema zuwandte.

Sie hatte die Unterhaltung mit der munteren Frau zwar genossen, war aber nun wieder froh, allein zu sein. Es gab noch so vieles, über das sie nachdenken musste. Sie beobachtete, wie ein paar Stockenten vom See her über die Wiese ganz in ihre Nähe watschelten und sich dort niederließen, um ihr Gefieder zu putzen. Sie hatten keinerlei Scheu vor ihr und waren es offensichtlich gewohnt, genau dort zu pausieren. Das friedliche Bild erinnerte Adèle plötzlich an ein Erlebnis aus ihrer Vergangenheit, und sie gab sich ihren Gedanken hin.

Eines Tages, der Krieg hatte bereits begonnen, kam Antoine mit einer toten Ente unter dem Arm nach Hause und präsentierte sie ihrer Mutter stolz. An der rechten Hand hatte er eine blutende Bisswunde, die ihm ein wildernder Hund zugefügt hatte. Ihr Bruder hatte ihm seine Beute streitig gemacht und auf diese Weise für eine willkommene Fleischmahlzeit gesorgt. Die Mutter schimpfte, weil er sich verletzt hatte. Sie fürchtete, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Doch Antoine lachte nur und tat seine Verletzung als belanglos ab.

Solch eine Reaktion war typisch für ihn. Sein Charakter passte so gar nicht zu dem bedächtigen Beruf des Uhrmachers. Antoine war von allen Geschwistern immer der Lebhafteste gewesen, wagemutig, voller Temperament und Abenteuerlust. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er sich liebend gern als Soldat für den Krieg gemeldet. Antoine hatte seine Brüder Eric und Louis immer darum beneidet, dass sie handwerklich so ungeschickt waren, dass sie für den Beruf nicht infrage kamen. Nur sein ältester Bruder Charles und er hatten die scharfen Augen und die feinen Hände des Vaters geerbt, die sie in die Lage versetzten, die filigrane Arbeit eines Uhrmachers auszuüben. Charles ging in dem Beruf auch völlig auf, Antoine verrichtete seine Arbeiten an den Uhrwerken mit den komplizierten Mechanismen nur widerwillig. Während ihrer Jugend war es nicht üblich gewesen, dass man selbst entschied, wie die eigene Zukunft aussah. Der Vater hatte es bestimmt, und so musste es geschehen. Kein Wunder, dass Antoine nie wirklich glücklich gewesen war.

Was Antoine wirklich liebte, war Musik. Er spielte geradezu virtuos Gitarre und Akkordeon. Außerdem war er mit einer klangvollen Stimme gesegnet, hatte eigene Ideen für Lieder und unterhielt mit seinen Darbietungen während eines Festes mühelos die ganze Gesellschaft. Wie sehr er an seiner Leidenschaft hing, wusste nur Adèle. Ihr allein hatte er verraten, dass es sein heimlicher Wunsch war, sein Glück als Musiker in Paris zu suchen und seinem Bruder Charles die Uhrmacherwerkstatt zu überlassen. Er wartete nur auf die passende Gelegenheit, um endlich von zu Hause fortgehen zu können.

Der Krieg machte jedoch vorerst alle Hoffnungen zunichte. Charles, Louis und Eric wurden eingezogen. Als Eric gleich zu Beginn des Westfeldzugs ums Leben kam, verfiel der Vater in eine tiefe Depression und konnte nicht mehr arbeiten. Antoine war gezwungen, die Verantwortung für die Werkstatt und die Ernährung der Familie zu übernehmen, wenigstens bis Charles zurückkam. Der Vater erholte sich entgegen ihrer Hoffnungen nicht, sondern wurde ernsthaft krank. Das Einzige, was ihn noch am Leben hielt, war seine Hoffnung, dass Antoine sein Lebenswerk fortführte. Ihr Bruder wagte nicht, ihn zu enttäuschen.

Dann kam Ende Juni 1940 die verheerende Nachricht, dass Frankreich von den Nazis besetzt worden war. Nach nur gut einem Monat Kampf war es zu einem Waffenstillstand zwischen Frankreich und Deutschland gekommen, infolgedessen das Land in zwei Zonen unterteilt worden war. Das nördliche Frankreich wurde von den Deutschen besetzt gehalten, während der Süden, also auch Grenoble und damit ihre Heimat, von der nazitreuen Vichy-Regierung unter Maréchal Pétain regiert wurde. Alle rechneten damit, dass Charles und Louis nun bald nach Hause zurückkehren würden. Doch dann wurde Antoines Hoffnung erneut zerstört, denn ihre Brüder waren mit ungewissem Schicksal als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert worden. Statt endlich seinem Traum zu folgen, musste Antoine weiterhin im häuslichen Betrieb bleiben und für die Familie sorgen.

Wie ungerecht das Schicksal doch ist, überlegte Adèle mit einem bitteren Lächeln. Wenn Charles rechtzeitig zurückgekommen wäre, wäre vielleicht alles anders gekommen. Was für schlimme Zeiten es doch gewesen waren.

Erics Tod brach dem Vater das Herz. Nur sechs Monate nach dem Tod seines Sohnes folgte er ihm ins Grab. Antoine blieb nichts anderes übrig, als für den Unterhalt der Mutter und seiner kleinen Schwester zu sorgen. Doch die wirtschaftlichen Folgen des Krieges gingen auch an ihrer Werkstatt nicht unbemerkt vorüber. Die Kunden blieben aus, weil sie kein Geld mehr hatten. Es wurde zunehmend schwierig, die Familie zu ernähren. Adèle erinnerte sich noch allzu gut, wie in dieser Zeit auch die Sorglosigkeit ihres Lieblingsbruders einer tiefen Verbitterung wich. Er hatte ihr schon immer nähergestanden als der Rest der Familie. Für alle war sie das Nesthäkchen, noch dazu ein Mädchen, um das sich niemand so recht kümmerte. Nur Antoine hatte in ihr immer etwas Besonderes gesehen.

Ihr um sechs Jahre älterer Bruder verstand es wie kein anderer, sie zum Lachen zu bringen. Außerdem war er der einzige ihrer Brüder, der sich die Mühe machte, sie ab und zu mit in die Berge zu nehmen oder ihr Dinge zu zeigen, die sie sonst niemals gesehen hätte. Er schnitzte ihr Spielsachen, schenkte ihr sogar eine Spieluhr mit der Marseillaise. Noch heute hütete sie das Stück wie ihren Augapfel. Als sie einmal sehr traurig war, lange vor dem Krieg war das, nahm er sie mit auf eine Bergtour, um ihr den schönsten Platz auf Erden zu zeigen, wie er ihr versicherte. Weder die Eltern noch einer der Brüder wussten davon, als sie noch vor Morgengrauen Grenoble verließen und mit dem Bus ins Val Pelouse fuhren.

Ihr Weg führte über eine Skipiste auf eine Bergflanke, der sie in leichtem Auf und Ab bis zu einer Berghütte folgten, die immerhin schon auf einer Höhe von tausendachthundertfünfzig Metern lag. Danach schlängelte sich ein Pfad immer steiler bergauf, bis sie nach etwa zwei Stunden den Wald verließen und auf felsiges Gelände stießen. Sie erinnerte sich, wie sie es plötzlich mit der Angst zu tun bekam, als sie den Grat auf fast zweitausendfünfhundert Metern Höhe erreichten, der zum Gipfel führte. Rechts und links fiel der Hang steil ab. Ein falscher Schritt, und sie wären in den Abgrund gestürzt. Doch Antoines zuversichtliches Lächeln und seine Ermunterungen verliehen ihr den notwendigen Mut. »Du schaffst das«, wurde er nicht müde, ihr zu versichern, und drückte dabei fest ihre Hand. Seine Ermunterungen wurden später zu ihrem Leitsatz: »Nur wenn du deine Angst überwindest, wirst du auch dein Ziel erreichen. So ist das immer im Leben. Vertrau auf dich selbst und folge mir. Schritt für Schritt. Wir haben es gleich geschafft.«

Adèle lächelte in sich hinein. Und genau so war es gewesen. Sie hatte Antoines Worte nie vergessen. Sie hörte sie jedes Mal, wenn es in ihrem Leben schwierig wurde. Adèle wurde warm ums Herz, als sie daran dachte, wie sie ihrem Bruder auf dem Pfad gefolgt war, die Augen stur auf den Boden vor sich gerichtet, ohne auch nur einen Blick für die Schönheit der Landschaft um sich herum übrigzuhaben. Sie versank wieder in ihren Erinnerungen.

Als sie am Ende ihres Weges den Gipfel mit seinen losen Steinbrocken erreichten, wurden sie für alle Mühen und Ängste entschädigt. Die Aussicht war so atemberaubend schön, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Vor ihnen lag die Chartreuse mit ihren steilen Bergwänden, daneben sah man die Berge der Belledonne-Kette und im Hintergrund die Vanoise. Aber am meisten beeindruckte sie der Anblick des schneebedeckten Mont Blanc, der sich wie ein Berg der Verheißung in der Ferne erhob. Antoine hatte unterdessen seinen Rucksack abgenommen und ihre Wegzehrung ausgepackt. Sie teilten sich ein Stück Käse, frisches Brot und zwei Äpfel. Adèle war sich sicher, dass sie nie in ihrem Leben wieder etwas Besseres essen würde. Danach ruhten sie eine Weile. Antoine brach endlich das Schweigen.

»Hier oben habe ich das Gefühl, wirklich frei zu sein«, gestand er ihr. »Auf dem Gipfel gibt es keine Zwänge, die einen einengen. Es ist nur schade, dass ich von hier aus mein Leben nicht lenken kann.«

Adèle wusste nichts auf seine seltsamen Worte zu antworten. Erst später begriff sie, wie sehr er sich als Opfer der äußeren Umstände fühlte und darunter litt. Als hätte die Bergluft die Last seiner Sorgen von ihm genommen, begann Antoine, über seine Lebensträume zu reden. Er schwärmte von Paris, der Stadt seiner Träume, von den Künstlerkneipen und Nachtclubs sowie den unendlichen Möglichkeiten, die das Leben dort bot. Er hoffte, eines Tages ein bekannter Musiker zu werden. Seine Begeisterung war so groß, dass auch sie davon angesteckt wurde. Dann wollte er von ihr wissen, was sie sich für ihr Leben wünschte. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Mädchen hatten keine Pläne, außer dass sie sich Mühe gaben, einen anständigen Mann zu heiraten, um mit ihm eine Familie zu gründen. Sie zierte sich, doch er ließ nicht nach, sie zu ermuntern, bis sie ihm ihre geheimsten Träume verriet. Sie war schon immer eine gute Zeichnerin gewesen und wusste, dass sie ein besonderes Gespür für schöne Kleidung hatte. Also war ihr größter Wunsch, bei ihrem Vorbild Coco Chanel in die Lehre gehen zu können. Später wollte sie in Paris ihr eigenes Atelier besitzen, um eigene Mode zu kreieren. »Ich wünschte, ich könnte Kleider für die Hautevolee in Paris anfertigen«, gestand sie ihm und vergaß dabei für einen kleinen Augenblick, wie absurd ihr Wunsch in Zeiten wie diesen war. Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gehuscht, schämte sie sich auch schon. Sie fürchtete, dass Antoine sie auslachen könnte. Doch das tat er nicht. Im Gegenteil, er machte ihr Mut und ermunterte sie, für ihre Träume zu kämpfen. »Träume sind das Wertvollste, was wir haben«, verriet er ihr. »Ohne sie ist das Leben wie eine fade Suppe ohne Salz. Sie nähren uns in Zeiten wie diesen und geben uns die Hoffnung, einmal Wirklichkeit zu werden. Halte daran fest, dann wirst du sehen, dass sie einmal wahr werden!«

Für dieses Erlebnis war Adèle ihrem Bruder noch heute dankbar. Mit seinen Worten hatte er den Grundstein dafür gelegt, dass sie später für ihren Traum gekämpft hatte. Ohne Antoines Ermunterungen hätte sie niemals den Mut gefunden, nach dem Krieg nach Paris zu gehen, um die Aufnahmeprüfung an der École de la chambre syndicale de la couture parisienne zu machen. Obwohl sie vom Land kam, hatte man sie an der Modeschule für hochrangige Haute Couture angenommen – und das, obwohl sie sich damals um ihre kleine Nichte Isabelle hatte kümmern müssen. Es war eine schöne Zeit gewesen, trotz aller Schwierigkeiten, die die Nachkriegszeit mit sich gebracht hatte.