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Marguérite und Antoine wurden also in jenem Spätsommer 1943 ein Liebespaar?«, fasste ich Claudilles Erinnerungen zusammen.
»So war es.«
Die alte Dame hatte wirklich das Zeug zu einer großen Erzählerin. Sie besaß die Fähigkeit, eine Geschichte so lebendig darzustellen, dass man das Gefühl hatte, ein Teil davon zu werden. Wenn alles zutraf, was Marguérite Claudille als junges Mädchen geschildert hatte, war sie tatsächlich meine Großmutter. Allerdings hatte die alte Dame auch etwas von einem anderen Verehrer erwähnt, einem gewissen Lucien Bourdon. Was genau der für eine Rolle in Marguérites Leben gespielt hatte, war mir nicht ganz klar. Ich beschloss, sie direkt darauf anzusprechen.
»Gibt es einen besonderen Grund, weshalb Sie mir so ausführlich von Marguérites anderem Verehrer erzählen? Spielte dieser Lucien Bourdon in ihrem Leben eine besondere Rolle?« Gleichzeitig kam mir noch eine ganz andere Idee. »Vielleicht war ihr Kind ja gar nicht von Antoine, sondern von ihm?«
Claudille tätschelte begütigend meine Hand. »O nein! Das glaube ich nun wirklich nicht. Marguérite, so wie ich sie kennengelernt habe, hätte sich niemals auf solch einen rauen Gesellen eingelassen, wie dieser Bourdon es gewesen ist. Dafür hatte sie ein zu feines Empfinden.« Sie schenkte uns Tee nach und gab sich Mühe, wieder in die Geschichte hineinzufinden. »Ich habe diesen Teil der Geschichte nur erwähnt, weil ich nichts von all dem auslassen wollte, was mir Ihre Großmutter damals erzählt hat. Wahrscheinlich spielt es auch gar keine große Rolle. Immerhin genoss Lucien Bourdon keinen guten Ruf, auch nach dem Krieg nicht.«
Ich sah sie fragend an. »Warum nicht?«
»Nachdem die Kinder aus dem Waisenhaus deportiert worden waren und auch in der Zeit nach dem Krieg hat man immer wieder versucht herauszufinden, wer die Kolonie damals an die Nazis verraten hat«, erklärte sie mir. »Es gab allerlei Spekulationen und zwei Hauptverdächtige …« Sie machte eine kurze Pause. »Dabei handelte es sich um Lucien Bourdon und Antoine. Den Nachnamen von Antoine kenne ich nicht, Marguérite hat ihn nie erwähnt. Aber ich weiß, dass er es war, der ihr Herz gewonnen hatte.« So schön es auch für mich war, etwas mehr über meinen Großvater zu erfahren, so bitter war es, nun nochmals bestätigt zu bekommen, dass Antoine doch der Verräter sein könnte. Also hatte Professor Lorchmeyer mit seinen Spekulationen tatsächlich ins Schwarze getroffen. Claudille merkte, wie schweigsam ich geworden war. »Es gibt viele hier, die glauben, dass Lucien der Übeltäter gewesen ist«, versuchte sie, mich zu trösten. »Man hat ihm sogar nach dem Krieg den Prozess gemacht. Allerdings wurde er wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Über Antoine gab es nur Gerüchte. Er wurde nach der Deportation nie wieder in Izieu gesehen. Das war wohl der Grund, weshalb er für viele verdächtig erschien.«
Ich geriet ins Grübeln. Das alles passte für mich noch nicht so richtig zusammen. »Aber wenn Antoine Marguérite wirklich geliebt hat, wieso sollte er dann ihre Freunde und vor allem die Kinder verraten haben?«, äußerte ich meine Zweifel.
Claudille zuckte mit den Schultern. »Böse Zungen behaupten, dass er einen Auftrag von Barbie hatte, den er damit ausgeführt hatte.« Sie griff nach ihrer Teetasse und nippte nachdenklich. »Ich hatte damals das Gefühl, dass Marguérite selbst nicht ganz sicher war, welche Rolle ihr Geliebter gespielt hat. In der Zeit ihrer Genesung bei uns auf der Almhütte hat sie ein paarmal erwähnt, dass Antoine Schuld auf sich geladen hat.«
»Welche Art von Schuld?«
»Das weiß ich auch nicht so genau …« Claudille zuckte mit den Schultern. »Es könnte sein, dass er dafür verantwortlich war, dass man den Anführer des Maquis in unserer Region, einen gewissen Gaston, geschnappt hat. Marguérites Geliebter hat eng mit der Gestapo in Lyon zusammengearbeitet. Er musste regelmäßig dort Bericht erstatten. Auf der anderen Seite hat mir Marguérite auch erzählt, dass er das Vertrauen der Dorfbewohner und der Leute im Waisenhaus gewonnen hat.« Sie sah mich bedauernd an. »Es tut mir leid, Sie damit quälen zu müssen, junger Mann.«
Ich schluckte, denn ich wusste, worauf sie hinauswollte. »Sie wollen mir damit vermutlich sagen, dass mein Großvater Barbie Gastons Versteck verraten hat, nicht wahr?«
Sie zuckte erneut mit den Schultern und überließ die Beantwortung der Frage mir. »Das weiß ich nicht. Marguérite sagte nur, dass alle sich wunderten, dass ausgerechnet Gaston festgenommen wurde. Sein Versteck lag so abgelegen in den Bergen, dass es nur wenigen Menschen bekannt war. Sowohl Miron als auch Yves hatten versichert, mit niemandem jemals darüber gesprochen zu haben. Und so machte sie sich Gedanken, ob Antoine möglicherweise davon gewusst haben könnte, weil er zufällig ein Gespräch einiger Maquisards belauscht hatte, kurz nachdem sie ein Rendezvous gehabt hatten.«
»War Marguérite sich sicher?«
Claudille schüttelte unsicher den Kopf. »Soweit ich mich erinnere, war es nur eine Befürchtung. Und dann geschahen ja auch ganz andere Dinge, die sie beschäftigten.«
Sie redete nicht weiter, sondern ließ ihren Blick hinaus in den Park schweifen. Ich spürte, dass unsere lange Unterhaltung sie sehr angestrengt hatte. Ich bot ihr an, sie zu beenden, worauf sie gern einging. Wir verabredeten jedoch ein weiteres Treffen für die kommende Woche. Jetzt wollte ich endlich Valerie wiedersehen.