25

Der Sommer mit all seinen aufregenden Ereignissen neigte sich seinem Ende zu. Das Grün der Blätter verlor bereits an Intensität, und die Äpfel an den Bäumen begannen Farbe anzunehmen. Seit unserer Rückkehr nach Grenoble waren mehrere Wochen vergangen, Adèle erholte sich jedoch nur langsam von ihrem Schwächeanfall. Dabei spielte sicherlich auch die Verarbeitung ihrer Erlebnisse während unserer Reise eine große Rolle. Sie hatte sie in der trügerischen Hoffnung unternommen, das Andenken meines Großvaters für mich auf ewig in gute Erinnerung zu rufen. Wer hatte auch schon ahnen können, wie sich die Dinge dann tatsächlich entwickelten? Unvorhersehbare Umstände hatten ihre Lebenslüge auffliegen lassen.

Auf der einen Seite hatte das späte Geständnis meiner Großtante Erleichterung verschafft, auf der anderen Seite verbrauchte sie aber auch einen Großteil ihrer Lebensenergie, um damit zurechtzukommen. Sie war stiller und nachdenklicher geworden, saß oft den ganzen Tag gedankenverloren in einem bequemen Sessel und starrte hinaus in den kleinen Garten, der ihr Haus umgab. Auf meine Anweisung hin war es pflegegerecht umgebaut worden, sodass ich ihr einen Umzug und den Aufenthalt in einer Seniorenresidenz ersparen konnte. Die einzige Schwierigkeit bestand nur darin, eine geeignete Gesellschafterin für sie zu finden. Bis das geschafft war, war es meine Aufgabe, mich um die alte Dame zu kümmern, was sie einerseits genoss, was ihr aber andererseits auch ein schlechtes Gewissen bereitete. »Du musst dein eigenes Leben leben, Junge«, bekam ich ständig von ihr zu hören.

Die ersten Wochen war es mir mit Leichtigkeit gelungen, sie zu beruhigen. Ich hatte keine Verpflichtungen gehabt, konnte bei ihr arbeiten und wusste ohnehin noch nicht, in welche Richtung mein Leben gehen sollte. Doch allmählich wurde es Zeit, wieder in die Zukunft zu blicken. Umso dringender war es, jemanden Geeigneten für sie zu finden. Adèle bestand darauf, dass die Person, die sich um sie kümmern sollte, Französisch sprach und ein gewisses kulturelles Niveau hatte, das ihr anregende Gespräche erlaubte. Außerdem sollte sie zuverlässig für sie da sein. Schon allein wegen dieser Ansprüche fielen die relativ einfach zu bekommenden Fachkräfte aus Polen, Rumänien oder Russland aus. In der Regel beherrschten sie unsere Sprache mehr recht als schlecht, zudem wollten sie nach wenigen Monaten meist wieder für eine gewisse Zeit zurück in ihre Heimat. Französische Fachkräfte waren dagegen rar gesät, oft teuer oder hatten Ansprüche, die wir ihnen nicht erfüllen konnten. Manchmal zweifelte ich daran, ob wir jemals eine geeignete Person finden würden, und langsam stellte ich mich darauf ein, ein Urlaubssemester nehmen zu müssen.

Doch wie es der Zufall wollte, traf ich eines Tages die Nachbarin meiner Tante im Supermarkt, die sich nach ihr erkundigte. Die Frau, eine aufgeschlossene Mittfünfzigerin in abgesicherten Verhältnissen, hatte zwei Jahre zuvor ihren Mann verloren. Als sie hörte, dass Adèle pflegebedürftig war, schlug sie spontan vor, sie einmal zu besuchen. Am nächsten Tag stand sie mit einem Strauß Sonnenblumen vor der Tür. Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb, obwohl sie in den letzten zwanzig Jahren nie mehr als nur ein paar freundliche nachbarschaftliche Worte gewechselt hatten. Sie verabredeten sich gleich wieder für den nächsten Tag, und nach einer Woche war klar, dass Madame Roussel die neue Gesellschafterin meiner Tante sein würde.

Diese erfreuliche Nachricht verschaffte mir endlich wieder die Freiheit, mich um mein eigenes Leben zu kümmern. An erster Stelle stand mein Buch, das ich endlich zu Ende bringen wollte. Die letzten Wochen war ich gut vorangekommen. Bereits in Konstanz hatte ich die Gliederung erstellt und zurück in Frankreich die meisten Kapitel über die Schicksale einiger Kollaborateure während des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Ich hoffte, das Projekt noch während des Wintersemesters abzuschließen. Zu meiner großen Überraschung hatte sich Harvard erneut gemeldet. Die Universität wollte mich immer noch unbedingt für die Gastprofessur und stellte mir sogar einen Zeitvertrag für zwei Jahre in Aussicht. Unter anderen Umständen hätte ich ohne zu zögern zugesagt, doch die Sorge um meine Tante und die Arbeit an dem Buch hatten mich die Entscheidung immer wieder hinauszögern lassen. Außerdem hatte ich immer noch die irrwitzige Hoffnung, dass Valerie sich doch wieder bei mir melden könnte. Sie wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Leider hatte sie auf den Brief, den ich ihr vor meiner Abreise geschickt hatte, nicht reagiert. Das ließ nur den einen Schluss zu – sie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich war für sie nicht mehr als eine kurze Affäre gewesen. Zwischenzeitlich war sie sicherlich schon längst wieder zurück in ihrem alten Leben. Es wurde Zeit, das Unvermeidliche einzusehen und mir diese Frau endlich aus dem Kopf zu schlagen. Ich stellte mir selbst ein Ultimatum bis zum Beginn des Wintersemesters, dann würde ich entscheiden, ob ich die Professur in Harvard annehmen wollte. Die Zeit bis dahin verplante ich für die Feinarbeit an meinem Buch.

Nach reiflicher Überlegung hatte ich mich dazu entschlossen, ein Kapitel meinem Großvater zu widmen, auch wenn die Auseinandersetzung mit seinem unwürdigen Schicksal unentwegt Wunden aufriss. Ich war es mir und meinem Berufsethos schuldig, zu seiner Geschichte zu stehen, um die Angelegenheit zu verarbeiten. Für die abschließenden Recherchen stand ich seit einiger Zeit mit dem Dokumentationszentrum in Izieu in Kontakt, deren leitende Historikerin mir äußerst hilfsbereit ihre Unterstützung zusagte. Sie hatte versprochen, mir einige Adressen von Zeitzeugen zukommen zu lassen, die sich noch gut an die Zeit erinnerten, als die Kinder im Waisenhaus gewesen waren. Und erneut flammte die Hoffnung auf, noch einmal auf die Spur meines Großvaters zu stoßen. Bislang hatte ich über weitere Recherchen in Lyon immerhin herausgefunden, dass er sich mit anderen Milizionären für Säuberungsaktionen in der Zeit zwischen dem Sommer 1943 und dem Frühjahr 1944 in der Gegend von Belley aufgehalten hatte. Da meine Mutter im Sommer 1944 geboren worden war, war anzunehmen, dass mein Großvater hier auch Marguérite, meine Großmutter, kennengelernt hatte. Vermutlich stammte sie aus Belley oder von einem der Bauernhöfe in der Umgebung.

Sobald ich Adèle bei Madame Roussel in besten Händen wusste, packte ich meinen alten Campingbus und fuhr mit ihm in Richtung Genf. Bei Romagnieu bog ich von der Autobahn ab und fuhr über Saint-Genix-sur-Guiers und Champagneux nach Murs-et-Gélignieux, das am Oberlauf der Rhône liegt. Ich stellte meinen Bus auf den dortigen Campingplatz und beschloss, die letzten Kilometer bis nach Izieu mit meinem mitgebrachten Rennrad zu absolvieren. Mir lag daran, mich mit der Landschaft, in der sich meine Großeltern womöglich kennengelernt hatten, auseinanderzusetzen. Ich wollte versuchen, das zu sehen, was auch sie gesehen hatten, selbst wenn sich in den letzten fünfundsiebzig Jahren sehr vieles verändert hatte.

Am Campingplatz vermittelte die Rhône fast den Eindruck eines Sees, denn der Fluss wurde hier für das Laufwasserkraftwerk von Brégnier-Cordon gestaut. Es gab einen kleinen Hafen und am gegenüberliegenden Ufer ein Schwimmbad. Über einen steilen Anstieg ging es ins Dorf Izieu. Unterhalb des kleinen Ortskerns befand sich der Weiler Lélinaz mit dem ehemaligen Waisenhaus. Wenn man sich vom Tal her über die engen Kurven der ehemaligen Seidenspinnerei näherte, sah das Anwesen wie ein prächtiger Gutshof aus. Das helle zweistöckige Gebäude mit Walmdach lag auf einem lang gestreckten Hügel, von dem aus man weit ins Rhône-Tal und zu dem dahinterliegenden Massif de la Chartreuse sehen konnte. Es verfügte über einen Haupteingang und einen Nebeneingang, der in die Diensträume führte. Großzügige Fenster mit hellblau gestrichenen Fensterläden und eine Aussichtsterrasse mit schmiedeeisernem Gitter deuteten darauf hin, dass es sich einmal um ein Herrenhaus gehandelt hatte.

Mittlerweile war das Haus Gedenkstätte und Museum. Die Räume waren entsprechend der damaligen Umstände rekonstruiert und mit den alten Möbeln und Dokumenten der Kinder bestückt. Direkt daneben befand sich ein weiteres großes Gebäude aus unverputztem Naturstein. Darin hatte sich ursprünglich einmal eine Seidenspinnerei befunden, deren Räumlichkeiten später zu Schlafsälen für die Waisenkinder umgebaut worden waren. Davor befand sich ein großzügiger ummauerter Brunnen, der an ein Schwimmbassin erinnerte. Damals war er die einzige Wasserquelle für das Anwesen gewesen. Unterhalb der Gedenkstätte befand sich das Dokumentationszentrum, das die alte Scheune mit einem modernen Glasbetonbau verband. Rechts von der alten Spinnerei stand ein Bauernhof, der immer noch bewirtschaftet wurde.

Ich stellte mein Fahrrad unter einer alten Linde ab und setzte mich auf ein Mäuerchen, um den Ort in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Auf dem großen Parkplatz etwas unterhalb des Anwesens parkte gerade ein großer Bus, dem eine Gruppe Jugendlicher entstieg. Die Schüler eines Lycée wurden samt ihren Lehrern vor dem Dokumentationszentrum von einer Frau empfangen, die sie mit hinein in die ständige Ausstellung nahm. Dem kurzen lebhaften Intermezzo folgte wieder eine angenehme Ruhe. Überhaupt machte der Ort einen sehr friedlichen Eindruck in seiner Abgeschiedenheit hoch oben über dem Oberlauf der noch jungen Rhône. Es fiel mir leicht, mir auszumalen, wie hier eine Schar Kinder unbeschwert gespielt hatte. Wie sie sich im Sommer mit Wasser bespritzt oder auf der Rasenfläche daneben Fußball gespielt hatten, während andere im Schatten der großen Linde gesessen und mit einer Betreuerin Lieder gesungen hatten.

Und irgendwann war diese Idylle zerstört worden. Ein Schauer überfiel mich, als ich mir vorstellte, wie an einem schönen Osterferientag plötzlich die Lastwagen der Gestapo hier hochgefahren waren, die Männer mit schwarzen Ledermänteln und Soldaten ausgespuckt hatten. Sie hatten das Haus gestürmt, um mit äußerst brutaler Gewalt die Kinder und ihre Betreuer zu deportieren. Lediglich ein junger Mann war dem Desaster entkommen, ein gewisser Léon Reifmann, der sich durch einen Sprung aus dem Fenster in Sicherheit hatte bringen können. Was für ein schreckliches Schicksal barg dieser vordergründig so friedliche Ort.

Nach meinen Erkenntnissen war die Gedenkstätte Maison d’Izieu im Anschluss an den Prozess 1987 gegen Klaus Barbie in Lyon entstanden. Parallel dazu war ein Museum in Lyon geschaffen worden, das sich mit der Geschichte des Widerstandes und der Deportation befasste. Dass es so weit gekommen war, war der unermüdlichen Tätigkeit der ehemaligen Heimleiterin Sabine Zlatin und dem Ehepaar Beate und Serge Klarsfeld zu verdanken, die nie zugelassen haben, dass die Erinnerung an dieses grausame Kriegsverbrechen verblasste.

Sabine Zlatin, die mit ihrem Mann Miron das Heim geführt hatte, war einige Tage nach der Razzia ahnungslos nach Izieu zurückgekehrt und hatte das Haus ausgeplündert und leer vorgefunden. Statt zu verzweifeln, hatte sie die Briefe und Zeichnungen der Kinder sowie sämtliche Dokumente, die sie noch vorgefunden hatte, zusammengesucht und archiviert. Sobald Frieden eingekehrt war, hatte sie dafür gesorgt, dass Gedenkveranstaltungen an die Razzia in Izieu stattfanden.

Dem unermüdlichen Einsatz des Ehepaars Beate und Serge Klarsfeld wiederum war es zu verdanken, dass der Verantwortliche für diese Gräueltaten, Klaus Barbie, aufgespürt und verhaftet worden war. Die beiden Aktivisten hatten es sich nach eigenen bitteren Erfahrungen während des Krieges zur Lebensaufgabe gemacht, untergetauchte NS-Verbrecher aufzuspüren und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Außerdem war es ihnen ein Anliegen, jedem einzelnen Opfer ein Gesicht und einen Namen zu geben, indem sie Listen und Dokumentationen anfertigten, die deren Leben und ihren Tod schilderten. Damit holten sie die Opfer aus der Anonymität heraus.

Ungerechterweise war es Klaus Barbie, dem Schlächter von Lyon, gelungen, rechtzeitig vor dem Einmarsch der Alliierten in Lyon unterzutauchen und zu entkommen. Wie viele andere Naziverbrecher auch zog er Nutzen aus dem Kalten Krieg und wurde von amerikanischen Sonderdiensten für ihre Zwecke rekrutiert. Erst auf Druck der französischen Regierung, die Barbie in einem Prozess in dessen Abwesenheit für seine Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt hatte, ließen ihn die Amerikaner fallen. Im Frühjahr 1951 floh er mit seiner Familie nach Südamerika, dort nannte er sich Klaus Altmann. Er war erfolgreich als Berater für verschiedene südamerikanische Diktatoren tätig. Unter anderem bildete er ihre Sicherheitsdienste aus und unterwies sie in Beschattung, Verfolgung und Folterung der politischen Gegner.

Anfang der Siebzigerjahre stießen die Klarsfelds auf Barbies Spur in Lateinamerika und machten sich auf die Suche nach ihm. Nach einer beinahe zehn Jahre dauernden Verfolgung gelang es ihnen endlich, Barbie nach Frankreich überführen zu lassen, wo er in einem öffentlichen Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Unterstützt wurden sie und Sabine Zlatin von zwei Müttern – Ita Halaunbrenner, deren Kinder Mina und Claudine Opfer der Razzia in Izieu gewesen waren, und Fortunée Benguigui, die ihren Sohn Jacques auf dieselbe Weise verloren hatte. Klaus Barbie starb 1991 im Gefängnis an Krebs.

Während ich mir diese schrecklichen Umstände noch einmal vor Augen führte, geisterte ständig die Frage in meinem Kopf herum, welche Rolle mein Großvater während dieser Verbrechen gespielt hatte. War es möglich, dass er direkt an der Razzia beteiligt gewesen war? Am erschreckendsten war für mich dabei die Vorstellung, dass er womöglich einer der Soldaten gewesen war, die die Kinder abgeführt hatten. Wie würde ich mit solch einer Gewissheit umgehen können? Aus der Theorie betrachtet, war es leicht zu sagen, dass man sich den Schandtaten seiner Vorfahren stellen musste. War man jedoch betroffen, stellte sich die Situation ganz anders dar. Aus diesem Blickwinkel verstand ich Adèles Reaktion viel besser. Egal, was ich herausfinden würde, ich musste es öffentlich machen, wenn ich vor mir bestehen wollte. Es war nicht nur meine Pflicht als Historiker, sondern auch als Mensch, mich dieser moralischen und ethischen Verantwortung zu stellen. Nur wenn wir uns den Vergehen der Vergangenheit stellten und uns damit auseinandersetzten, konnte es uns gelingen, in Zukunft diese Fehler nicht noch einmal zu begehen.

Trotz dieser Überzeugung musste ich mehrfach tief durchatmen, bevor ich den Mut aufbrachte, das Dokumentationszentrum zu betreten, wo ich von einer Madame Pintel erwartet wurde.

Der Besuch der Erinnerungsstätte wurde für mich zu einer Konfrontation mit einem Schrecken, der durch seine Anschaulichkeit noch grausamer wurde. Tief beeindruckt und noch mehr erschüttert von der eindringlichen Darstellung und ausführlichen Dokumentation der damaligen Geschehnisse und politischen Hintergründe, ließ ich mich von Madame Pintel durch die Ausstellung führen. Danach lud sie mich in ihr Büro ein, wo sie mir Einblick in ihre eigenen Forschungsergebnisse gewährte. Dadurch, dass sämtliche Dokumente und Unterlagen digitalisiert waren, konnte ich sie auch nach dem Namen meines Großvaters fragen, der zu meiner Erleichterung im Zusammenhang mit dem Waisenhaus zumindest hier nicht auftauchte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte ich Madame Pintel, ob der Name Marguérite möglicherweise irgendwo im Zusammenhang mit dem Waisenhaus auftauchte. Sie gab den Namen in die Suchmaschine ein und wurde tatsächlich fündig.

»Der Name taucht einige Male in den Listen auf, einmal im November 1943 und ein anderes Mal im Februar 1944. Sie wird als Betreuerin erwähnt, allerdings geht daraus nicht hervor, wie lange sie hier gearbeitet hat. Und auch ihr Nachname wird niemals genannt.« Sie sah mich fragend an. »Spielt die Frau in Zusammenhang mit Ihrem Großvater eine Rolle?«

Ich hatte mich entschieden, Madame Pintel gegenüber offen zu sein und ihr alles über die mögliche Verstrickung meines Großvaters in die damaligen Geschehnisse erzählt. Sie zeigte sich sehr aufgeschlossen, verzichtete auch auf jegliche kritische oder gar abfällige Bemerkungen, wofür ich ihr sehr dankbar war.

»Wahrscheinlich nicht«, gab ich zu, »aber mein Großvater hat während dieser Zeit meine Großmutter kennengelernt. Von ihr weiß ich nur, dass sie Marguérite hieß. Mir kam in den Sinn, dass sie hier aus der Gegend stammen könnte. Es ist natürlich eine weit hergeholte Idee, Informationen über sie ausgerechnet an diesem Ort zu vermuten.«

»Nun ja, das war damals ein sehr häufiger Name«, gab Madame Pintel mir recht. »Aber möglich wäre es dennoch. Es gab einige Leute hier in der Umgebung, die für das Kinderheim gearbeitet haben.« Sie reichte mir vier Adressen von Zeitzeugen. »Vielleicht finden Sie ja noch mehr heraus, wenn Sie diese Leute befragen. Es ist erstaunlich, an wie viele Details und Namen sie sich noch erinnern. Vielleicht hat etwas davon eine Bedeutung für Sie.«

Ich bedankte mich für die Unterstützung und verabschiedete mich. Bevor ich zurück zum Campingplatz fuhr, streifte ich noch mal allein durch das Herrenhaus, in dem die Kinder damals gelebt hatten. Es war unglaublich, wie präsent sie auch nach so vielen Jahren noch waren. Während ich durch die Räume schritt, glaubte ich, hinter jeder Ecke gleich Kindergeschrei zu hören, doch es blieb bedrückend still. Selbst die Schüler des Lycée, denen ich hier begegnete, liefen leise und sichtlich betroffen durch die Räume. Überall an den Wänden hingen Zeichnungen und Briefe der Kinder, die verdeutlichten, wie lebensfroh und voller Hoffnung sie gewesen waren.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, die alten Herrschaften aufzusuchen, deren Adressen mir Madame Pintel gegeben hatte. Von der Tochter der damaligen Wäscherin, Simone Héritier, erfuhr ich einige interessante Dinge über das Alltagsleben und die Organisation in der Kolonie.

»Meine Mutter und die anderen Frauen und Männer, die für die Kolonie arbeiteten, bekamen ihr Geld vom Kinderhilfswerk OSE, für das Madame Zlatin arbeitete. Es kam für viele der finanziellen Bedürfnisse der Kinder auf, reichte aber hinten und vorne nicht. Madame Zlatin war sehr beliebt, sodass es ihr immer wieder gelang, auch andere Hilfsquellen aufzutun. Eine wertvolle Unterstützerin war die Sekretärin des damaligen Präfekten von Belley, Madame Marie-Antoinette Cojean. Sie besorgte über den Secours National Möbel und Decken und organisierte Nahrungsmittelkarten. Auf diese Weise gab es im Heim regelmäßig Fleisch, Gemüse und Käse zu essen.«

»Erinnern Sie sich zufällig an eine Betreuerin mit Namen Marguérite?«, unterbrach ich ihren lebhaften Redefluss.

»Aber ja«, erwiderte sie mit leuchtenden Augen. »Sie hatte eine goldene Stimme. Einmal, bei einem unserer Dorffeste, hat sie vor allen gesungen. Die Leute waren begeistert und haben noch lange davon erzählt. Ich erinnere mich noch so gut daran, weil es mein erstes Dorffest war.« Bedauerlicherweise war das alles, was die Tochter der Wäscherin des Heimes über sie wusste.

Mein nächster Besuch galt dem vierundneunzigjährigen Bauern Jean Clunot, der bei seinem Sohn und dessen Familie auf dem Hof lebte. Wie sich herausstellte, war er als junger Bursche oft in Lélinaz gewesen, um dort seinen Freund zu besuchen. Julien Favet war Knecht bei dem Bauern gewesen, dessen Hof sich direkt neben dem Kinderheim befand.

»Julien und ich haben oft mit den Jungen Fußball gespielt«, erzählte der alte Mann, der für sein Alter noch erstaunlich rüstig war. »Und natürlich haben wir auch den jungen Frauen nachgeschaut. Aber weder Léa noch Marguérite haben uns jemals Aufmerksamkeit geschenkt. Wir waren einfach noch zu unbeholfen.« Er ließ ein aufgekratztes Lachen hören. »Was gäb ich jetzt darum, noch einmal so jung zu sein.«

Schon wieder tauchte der Name Marguérite auf, ohne dass es einen Hinweis darauf gab, ob sie möglicherweise meine Großmutter gewesen war.

»Wissen Sie noch mehr über diese Marguérite? Stammte sie aus der Gegend hier, vielleicht aus Belley?«, fragte ich in der Hoffnung, etwas über diese Frau zu erfahren.

Der alte Mann musste nicht lange nachdenken. »Aus der Gegend kam sie wohl eher nicht. Sie hatte einen merkwürdigen Akzent. Ich nehme mal an, dass sie Jüdin war, möglicherweise aus Deutschland so wie viele der Kinder. Natürlich wussten wir das damals nicht, obwohl einige von uns es vermuteten. Aber wir Bauern haben uns in der Regel nicht um die Politik geschert. Es gab Wichtigeres zu tun. Die Kinder haben uns nur leidgetan.« Er kratzte gedankenverloren an seinen Bartstoppeln, bevor er fortfuhr. »Marguérite war ausgesprochen hübsch, sie hat viel mit den Kindern gesungen. Vor allem bei den jüngeren war sie sehr beliebt. Sie …«, er zögerte, als ob er überlegen müsste, ob er damit herausrücken wollte, »… sie hatte offenbar zwei Verehrer. Einer von denen wurde später verdächtigt, Barbie verraten zu haben, dass in dem Kinderheim jüdische Kinder versteckt wurden.«

Diese Information ließ mich sofort aufhorchen. »Können Sie sich an diese Männer noch erinnern?«, fragte ich mit mulmigem Gefühl.

»Nicht mehr in allen Einzelheiten«, wehrte Jean Clunot ab. »Das ist schon viel zu lange her. Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr besonders zuverlässig.« Er lächelte bedauernd.

»Bitte versuchen Sie es«, drang ich weiter in ihn ein.

Der alte Mann sah mich ratlos an, doch dann schien er sich doch zu besinnen. »Der eine war ein Bauer aus der Gegend«, erinnerte er sich, »ein ziemlich eigenbrötlerischer Typ, den niemand hier so richtig mochte. Der andere war sympathischer, aber auch nicht gerade was für ein jüdisches Mädchen, denn er gehörte zur Miliz, wenn Sie wissen, was ich meine. Einer von denen hat auf jeden Fall das Kinderheim verraten, darauf möchte ich wetten.«

Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte, sobald Clunot den Milizionär erwähnte. »Erinnern Sie sich noch an seinen Namen? Hieß er vielleicht Antoine Mardieu?«

Clunot zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, wie gesagt, ich war noch ziemlich jung und hatte andere Flausen im Kopf. Ich erinnere mich nur noch daran, dass er ein lustiger Kerl war. Der hat die Musik genauso gerngehabt wie Marguérite. Die beiden sind sogar mal bei einem unserer Dorffeste gemeinsam aufgetreten …« Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn, als könnte er daraus einen Namen klopfen. »Tut mir leid«, bedauerte er schließlich, »aber an seinen Namen kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern.«

Aufgewühlt verabschiedete ich mich von dem alten Bauern und fuhr wieder auf meinem Fahrrad ins Tal hinunter. Ich ließ die Informationen noch einmal Revue passieren. Sowohl Simone Héritier als auch Jean Clunot konnten sich an eine Marguérite erinnern, die im Maison d’Izieu gearbeitet hatte. Sie war mit großer Wahrscheinlichkeit Jüdin gewesen. Das würde auch erklären, dass sie plötzlich verschwunden war. Laut beider Aussagen gab es damals nur noch eine andere Marguérite in der näheren Umgebung. Diese Frau kam allerdings nicht als meine Großmutter infrage, denn sie war verheiratet und schon über fünfzig Jahre alt gewesen. Auch das ließ natürlich noch längst nicht darauf schließen, dass die Marguérite aus dem Heim meine Großmutter gewesen war. Doch seit Clunot von ihrem Verehrer gesprochen hatte, der sowohl Milizionär als auch Musiker gewesen war, ging mir der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf.

Immerhin wusste ich, dass Antoine in Belley gewesen war. Der Ort war keine zwanzig Kilometer von Izieu entfernt. Es war also durchaus möglich, dass er Marguérite auf irgendeine Weise kennengelernt hatte. Ich spürte, dass ich der Wahrheit ein Stück näher gekommen war, auch wenn noch alle Fäden lose vor mir lagen. Nun hatte ich noch zwei Besuche vor mir.

Mein dritter Anlaufpunkt war der Sohn des damaligen Bäckers aus Brégnier-Cordon, das westlich von Lélinaz lag. Jean-Yves Jaillot war ein rüstiger Rentner Anfang achtzig. Als ehemaliger Geschichtslehrer am Lycée von Belley erinnerte er sich an so einiges aus der Vergangenheit, vor allem an die Machenschaften der damaligen Résistance in der Gegend. Sein Vater hatte immer wieder davon erzählt.

»Mein Vater Yves war ein enger Vertrauter des Maquisard Gaston«, berichtete der Mann voller Stolz. »Die beiden und einige andere Vertraute haben es den boches und den Kollaborateuren nicht immer leicht gemacht. Sie haben Lastwagen sabotiert und Verbindungsstraßen in die Luft gejagt. Pouff!« Er wedelte vielsagend mit den Händen, während er spitzbübisch lachte. Im Gegensatz zu Clunot erinnerte er sich noch sehr gut an die beiden Milizionäre, die damals in Brégnier-Cordon für einige Monate gelebt hatten. »Sie waren plötzlich da, um die örtliche Gendarmerie zu unterstützen. Alle im Dorf wussten natürlich, dass sie auch nach Juden und Widerstandskämpfern Ausschau hielten. Einige fanden das in Ordnung, andere hielten sie für Verräter, doch im Großen und Ganzen waren sie gut ins Dorfleben integriert.«

»Erinnern Sie sich vielleicht auch noch an ihre Namen?«, stellte ich erneut meine Frage.

»Der eine hieß Charles Flambert, sein Begleiter war ein gewisser Antoine. An seinen Nachnamen kann ich mich gerade nicht erinnern«, kam es prompt.

Mir verschlug es die Sprache. Das konnte nur mein Großvater gewesen sein, auch wenn er sich nicht an seinen Nachnamen erinnerte. Mir wurde ganz flau im Magen. Auf so viele Neuigkeiten war ich nicht vorbereitet gewesen. Auf der einen Seite hatte ich endlich die Spur, nach der ich so lange gesucht hatte, auf der anderen Seite rückte die Möglichkeit, dass mein Großvater in die Deportation verstrickt war, in immer größere Nähe.

»Können Sie mir noch mehr von den beiden Milizionären erzählen?«, brachte ich schließlich heraus.

Bereitwillig setzte der Bäckerssohn seinen Vortrag fort. Ich erfuhr, dass mein Großvater mit seinem Kameraden seit Frühsommer 1943 bis zur Deportation der Waisenkinder im Dorf gelebt hatte. »Danach war er plötzlich verschwunden. Sein Kamerad blieb noch etwas länger, bis mein Vater ihn hier im Haus erschossen hat.« Ich sah Jaillot befremdet an. »Meine Mutter hatte ein Verhältnis mit diesem Flambert«, erklärte er mir ohne jede Scheu. »Mein Vater hat die beiden irgendwann erwischt und sich den Kerl vorgeknöpft.«

»Wissen Sie noch mehr über Flamberts Freund, diesen Antoine?«, versuchte ich das Thema noch einmal auf meinen Großvater zu bringen.

Jaillot schüttelte den Kopf. Doch dann fiel ihm doch etwas ein. »Im Gegensatz zu Flambert hat mein Vater Antoine seltsamerweise irgendwie gemocht. Sie haben sich sogar ab und zu in der Bar auf einen Aperitif oder ein Glas Wein getroffen. Und er hat ihn gebeten, auf dem Dorffest zu musizieren. Das hätte er wohl kaum getan, wenn er ihn verachtet hätte, nicht wahr?«

Darauf hatte ich keine Antwort. »Wissen Sie, ob Antoine ein Mädchen aus dem Dorf hatte?«, fragte ich stattdessen.

Jaillot lachte nur. »Ich war damals noch ein kleiner Junge, da interessiert man sich für andere Dinge als für Liebschaften.«

»Sie hieß Marguérite«, insistierte ich dennoch. »Sie war wahrscheinlich ein Bauernmädchen hier aus der Umgebung oder kam mit den anderen Betreuern hierher. Sie hat in der Kolonie gearbeitet.« Der Sohn des ehemaligen Bäckers schüttelte bedauernd den Kopf. »Wie gesagt, ich habe lieber Räuber und Gendarm gespielt. Worauf wollen Sie denn hinaus, wenn ich fragen darf?«

»Wahrscheinlich war dieser Antoine mein Großvater«, antwortete ich aufrichtig. »Er war Kollaborateur und hat in der Zeit, in der er hier stationiert war, meine Großmutter, eine gewisse Marguérite, kennengelernt. Ich möchte herausfinden, was damals geschehen ist.«

Ich war mir auf einmal ganz sicher, dass es richtig war, mich dazu zu bekennen. Nur so war meine Forschungsarbeit auch glaubwürdig.

Jaillot musterte mich jäh mit deutlich weniger Respekt. Ich konnte richtig sehen, wie in ihm eine Verwandlung vor sich ging. »Das ist ganz schön mutig, in der unrühmlichen Vergangenheit Ihres Großvaters zu bohren und bestimmt nicht leicht«, bemerkte er schließlich distanziert. »Sie könnten von Dingen erfahren, die Ihnen und Ihrer Familie nicht angenehm sein dürften.« Er räusperte sich, bevor er weitersprach. »Diese Marguérite aus dem Heim war vermutlich Jüdin, Ihr Großvater dagegen Antisemit. Das hat sie ihm wohl dann verschwiegen, nicht wahr?« Ich sah Jaillot an, dass ihm diese Gedankenspiele Spaß machten, vielleicht gerade, weil er sah, wie sie mich quälten. Er fuhr fort: »In den Augen der Antisemiten hat er Rassenschande begangen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?« Sein Blick wurde bohrend. Nun hatte ich genug.

»Sie spielen darauf an, dass mein Großvater es herausgefunden hat und darüber so wütend geworden sein könnte, dass er sie und die Kinder verraten hat?«, erboste ich mich. »Das ist reine Spekulation! Er stand vielleicht politisch gesehen auf der falschen Seite, aber ein solches Verbrechen zu begehen, das traue ich ihm nicht zu.«

»Sind Sie sich da wirklich sicher? Sie kannten Ihren Großvater doch gar nicht!«, bemerkte Jaillot mit dem selbstzufriedenen Blick eines Mannes, der andere gern piesackte. »Auf jeden Fall hat jemand aus der Gegend die Bewohner des Waisenhauses verraten. Es ist doch nicht abwegig, dass es aus einem persönlichen Grund geschehen ist.«

»Noch ist nicht bewiesen, dass Antoine mein Großvater war«, antwortete ich verstimmt. Auch wenn natürlich das Gegenteil der Fall war. Immerhin war es mein Recht als Enkel, ihn zu verteidigen, solange nicht das Gegenteil bewiesen war.

Ich beschloss, die unangenehm gewordene Unterhaltung zu beenden, und verabschiedete mich. Nur weil Jaillots Vater auf der richtigen Seite gekämpft hat, war er noch lange nicht allen anderen überlegen, dachte ich aufgebracht, während ich mich auf mein Fahrrad schwang, um die letzte Adresse aufzusuchen, die ich bekommen hatte. Nach allem, was ich von Antoine wusste, war er kein Antisemit gewesen. Adèle hatte oft erwähnt, wie tolerant und spontan er gewesen war. Warum sollte er sich nicht Hals über Kopf in eine Jüdin verliebt haben?

Sofort kam mir wieder Valerie in den Sinn, mit der es mir genauso ergangen war. Womöglich hatten die beiden eine amour fou, eine überaus leidenschaftliche Liebe, die durch irgendwelche Verkettungen ein tragisches Ende genommen hatte? Doch all die Spekulationen brachten mich nicht weiter. Ich brauchte mehr Fakten, und die hoffte ich von Beatrice Lavoille zu bekommen. Sie war keine wirkliche Zeitzeugin, sondern lediglich die Nichte der damaligen Lehrerin des Kinderheimes.

Madame Lavoille lebte als Ärztin in Belley. Sie war eine zierliche Person Ende fünfzig mit einem grauen Pagenschnitt und klaren grauen Augen. Erfreulicherweise gehörte sie mit zu dem Komitee, das die jährliche Erinnerungsfeier in Izieu organisierte, und stellte sich als eine politisch engagierte Person heraus. Ihre Tante, Gabrielle Perrier, war damals Lehrerin der Waisenkinder gewesen und der Razzia nur entgangen, weil sie am Vorabend zu einem Besuch ihrer Familie abgereist war.

Dr. Lavoille empfing mich in ihrem Ordonnanzzimmer nach Ende ihrer Sprechstunde. Ich nahm ihr gegenüber auf der anderen Seite ihres Schreibtisches Platz. Da ich mich vorher angemeldet hatte, war sie auf meinen Besuch vorbereitet und zeigte mir gleich zu Beginn die Abschrift eines Interviews, das ihre Tante einst der Zeitung Les Voix d’Izieu gegeben hatte.

»Ich möchte Ihnen damit zeigen, dass es einigen Leuten hier in der Gegend sehr wohl bekannt war, dass die Kinder des Waisenhauses jüdischer Herkunft waren«, erläuterte sie, bevor ich zu lesen begann.

Ich fand, dass diese Schüler ein bisschen anders waren als die, die ich bisher hatte, weil sie einfach reifer waren. Sie waren reifer als die anderen, man sah es ihnen an, dass sie bereits gelitten hatten. Ja, und dann waren das Kinder, die nicht über ihre Herkunft sprechen wollten. Sie weigerten sich, über ihre Herkunft zu sprechen und über die Ereignisse, die sie bis dahin durchlebt hatten. Am Anfang hat mich das ein wenig gestört. Aber schließlich hatte ich davon gehört, dass es sich um jüdische Kinder handelte, und verstand es.

»Meine Tante hat sich wie die meisten hier in der Gegend nicht darum geschert, welchen Glaubens die Kinder waren. Die Leute hier waren recht tolerant. Als jedoch im September 1943 die italienische Zone von den Deutschen besetzt wurde, durfte man seine Toleranz nicht mehr öffentlich zeigen, wenn man nicht als Sympathisant der Résistance verdächtigt werden wollte«, erklärte Dr. Lavoille. »Meine Informationen stammen aus zahlreichen Gesprächen mit Tante Gabrielle. Sie hat sich oft mit mir über diese Zeit unterhalten. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, weshalb ich mich so für die Erhaltung der Erinnerungskultur einsetze.« Wir unterhielten uns eine Weile über Sabine Zlatin, der das Memorial zu verdanken war. Obwohl ich mit Jaillot keine besonders guten Erfahrungen gemacht hatte, war ich auch Madame Lavoille gegenüber offen und erzählte ihr von der möglichen Verbindung zwischen meinem Großvater, dem Kollaborateur, und dem jüdischen Mädchen Marguérite. Ich fragte sie, ob sie etwas über die beiden wisse. Leider war dem nicht so. Dr. Lavoille konnte wohl einiges über die Kinder, aber kaum etwas über die Erwachsenen berichten. »Über das damalige Personal weiß ich leider überhaupt nichts«, entschuldigte sie sich mit einem bedauernden Lächeln. »Mein Engagement in dieser Sache ist mehr politisch. Ich möchte dafür sorgen, dass diese Gräueltat immer im Gedächtnis der Öffentlichkeit bleibt.«

»Dann werde ich wohl damit leben müssen, nie mehr über das Schicksal meiner Großeltern zu erfahren«, bemerkte ich enttäuscht. »Vielleicht irre ich mich ja sogar, und diese Marguérite war gar nicht meine Großmutter … Und selbst wenn sie es war, wie könnte man schon herausbekommen, wohin sie schwanger von hier aus geflüchtet ist?«

»Sie wird sich in den Bergen versteckt haben«, mutmaßte Dr. Lavoille und runzelte plötzlich die Stirn. »Eine schwangere junge Frau, die durch die Berge irrt …«, murmelte sie vor sich hin. »Das sagt mir etwas. Warten Sie!« Plötzlich begann sie, in dem Karteikasten, der auf dem Schreibtisch stand, nach etwas zu suchen. Schließlich zog sie eine Karte mit einer Adresse heraus und schrieb sie auf einen Zettel. »Vielleicht habe ich ja doch noch etwas für Sie«, verkündete sie schließlich mit einem triumphierenden Lächeln. »Als Allgemeinmedizinerin bekomme ich vieles zu hören. Besonders die älteren Leute erzählen mir dies und jenes bei meinen Hausbesuchen. Als Sie gerade erwähnten, dass Ihre Großmutter schwanger gewesen sein musste, fiel mir Claudille Bertrand ein. Sie lebt hier in Belley in einem Seniorenheim, seit ihr Mann gestorben ist, und hat ihre Kindheit in den Bergen der Chartreuse verbracht. Die alte Dame hat mir schon öfter davon erzählt, wie sie und ihr Vater in einer Almhütte eine kranke junge Frau vor den Nazis versteckt hielten. Diese Frau war schwanger … Das könnte doch ein Hinweis sein, nicht wahr?« Sie reichte mir den Zettel und sah mich freundlich lächelnd an. »Sie sollten Madame Bertrand unbedingt aufsuchen. Sie ist eine gute Erzählerin und erinnert sich noch an sehr vieles.«

Ich nahm den Zettel dankend an und verabschiedete mich. Hätte ich damals gewusst, was mir die Bekanntschaft mit Claudille Bertrand an unangenehmen Überraschungen bringen würde, ich glaube, ich hätte die alte Dame niemals aufgesucht.