6

Valerie radelte über den Uferweg zur Segelschule. Der Tag versprach etwas Besonderes zu werden, wenn sie erst die Jüngstenprüfung hinter sich hatte, die kurzfristig noch einmal verschoben worden war. Die Aussicht, den sympathischen Franzosen wiederzutreffen, beflügelte sie. Überhaupt hatte sie sich nur seinetwegen zu dem Kurs überreden lassen, auch wenn das bedeutete, dass sie am Wochenende nun noch weniger Zeit für Jonas haben würde. Eigentlich hätte sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben müssen, doch seltsamerweise war das nicht der Fall. Im Gegenteil. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so unbekümmert mit einem anderen Mann geflirtet hatte. Jonas und sie hatten schließlich eine klare Abmachung getroffen. Für die Zeit ihres Sabbaticals war jeder von ihnen frei zu tun, was er wollte. Nun musste sich Jonas eben damit abfinden, dass sie ihn am Sonntag für ein paar Stunden sich selbst überlassen würde. Wahrscheinlich würde er nicht sehr begeistert sein, aber das war sein Problem, wenn er sie einfach so mit seinem Besuch überraschte.

Mittlerweile hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie schloss ihr Fahrrad ab und begab sich zu ihren wartenden Prüflingen, die sichtlich nervös waren. Die Kinder waren bereits beim Auftakeln ihrer Boote. Sie half, wo es nötig war, und nutzte die Gelegenheit, um ihnen ein letztes Mal die wichtigsten Punkte für die Prüfung einzuschärfen. Dabei versuchte sie, ihnen die Angst zu nehmen. Werner tippte mit dem Zeigefinger auf seine Uhr, um ihr zu zeigen, dass es Zeit war. Die Prüfer warteten bereits im Beiboot. Der Hauptprüfer bedachte Valerie mit einem mahnenden Blick, der vermutlich seine Autorität unterstreichen sollte. Ohne sich verunsichern zu lassen, nickte sie ihm freundlich zu, denn sie war sich sicher, dass sie ihre Schüler gut vorbereitet hatte. Ein paar Wochen zuvor hätten sie solche Blicke noch aus der Ruhe gebracht. Ein gutes Zeichen, dass ihre Psyche und ihr Selbstbewusstsein wieder an Stärke gewannen.

Sie stieg zu Werner und den Prüfern an Bord und gab das Zeichen zum Aufbruch. Die fünf Jollen, in denen jeweils zwei Kinder saßen, wurden von einem anderen Motorboot an einem langen Tau im Pulk hinausgezogen. Draußen auf dem See herrschte leichter Wind, optimale Bedingungen für die bevorstehende Prüfung. Ganz ruhig gab Valerie über die Flüstertüte ihren Schülern den Befehl, sich von dem Tau zu lösen und die Segel so zu stellen, dass sie Fahrt aufnehmen konnten. Wenig später befanden sich alle Kinder auf Kurs, und die Prüfer übernahmen das Kommando. Fahrt aufnehmen, Kurshalten, Wenden, Halsen und ein Rettungsmanöver. Alles klappte wie am Schnürchen. Zum Schluss wurde von den Kindern noch verlangt, selbstständig in den Hafen zu segeln und dort ihr Boot zu vertäuen.

Dann hatten es alle geschafft. Keines der Kinder war durchgefallen. Valerie zeigte, wie stolz sie auf ihre Segelschüler war. Am Kai standen die Eltern, um ihre Sprösslinge in Empfang zu nehmen. Sie begleiteten ihre aufgeregten Kinder zur offiziellen Verleihung des Jüngstenscheins, die von Werner persönlich vorgenommen wurde. An einer improvisierten Bar gab es kühle Getränke und lobende Worte für Valerie, danach zerstreuten sich alle. Ihr einstiger Problemschüler Adrian verabschiedete sich als Letzter. Er platzte unverkennbar vor Stolz.

»Später werde ich Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff, und dann nehme ich dich mit auf Weltreise«, tönte er selbstsicher zum Abschied. Valerie sah dem aufgekratzten Jungen lachend hinterher.

»Wittere ich da Konkurrenz? Der Junge ist wohl nicht der Einzige hier, der dich mag«, hörte sie eine wohlvertraute Stimme hinter sich. Richards französischer Akzent war unverkennbar.

»Richard! Du schon wieder?« Scheinbar erstaunt wandte sie sich zu ihm um.

Seine verschmitzte Art hatte etwas sympathisch Jungenhaftes. In seinen knielangen Khakishorts und dem hellgrauen Freizeithemd fand sie ihn außerdem verdammt attraktiv.

»Meine Freunde nennen mich Rick«, bemerkte er, fuhr sich durch sein strubbeliges dunkles Haar und sah sie lächelnd an. Das Graublau seiner Augen wurde von dichten Augenbrauen dominiert.

»Bereit für die erste Segelstunde?«

Valerie räusperte sich verlegen. Seine offenen Avancen brachten sie doch etwas aus der Ruhe. So etwas geschah ihr normalerweise nicht so leicht.

»Ich bin so bereit, wie man es nur sein kann.« Er sah sich suchend um. »Bin ich etwa der Einzige? Das finde ich wunderbar.«

Valerie tippte auf ihre Uhr. »Der Kurs beginnt erst um drei Uhr«, erinnerte sie ihn amüsiert, »jetzt ist es gerade mal halb drei!«

»Das ist wirklich zu dumm!« Rick verzog enttäuscht das Gesicht. »Ich würde am liebsten mit dir allein in See stechen.« Er legte seinen Kopf schief und bedachte sie mit einem treuherzigen Hundeblick.

Valerie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Seine Art entbehrte nicht einer gewissen Theatralik. Auch wenn es ihr gefiel, beschloss sie, ihn wieder etwas auf Abstand zu bringen. Er war nur ihr Segelschüler, außerdem gab es noch einiges zu erledigen.

»Freu dich mal nicht zu früh«, dämpfte sie seine Vorfreude. »Heute beginnen wir mit Theorie und gehen gar nicht aufs Wasser. Du kannst schon mal die Stühle aus dem Schuppen holen und da vorne aufstellen. Die Kiste mit den Tauen brauchen wir ebenfalls.« Sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Außer dir kommen noch vier andere Schüler. Ich muss in der Zwischenzeit noch ein paar Sachen organisieren. Bis später.«

Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, ließ sie ihn stehen und ging hinüber zu Werner, der bereits darauf wartete, mit ihr die Übergabe zu regeln, bevor er aufbrach. Seine Mutter war ernsthaft erkrankt und brauchte ihn an ihrer Seite.

Als sie gegen drei Uhr zum Schuppen zurückkehrte, hatte Rick alles vorbereitet. Die anderen Segelkursteilnehmer hatten sich mittlerweile ebenfalls eingefunden. Valerie begrüßte die kleine Gruppe und erklärte, was sie in den nächsten Tagen alles vorhatten. Danach begann sie mit ihrer Einführung in die Theorie des Segelns. Rick hatte sich zwischen Cordula und Jens, einem Ehepaar mittleren Alters aus Bottrop, platziert. Daneben saßen Felix und Kevin aus Leipzig. Das Paar verbrachte seine Hochzeitsreise am Bodensee. Alle lauschten hochmotiviert ihrem Vortrag, den sie nach knapp einer halben Stunde für eine kurze Pause unterbrach.

»Können wir jetzt nicht doch noch wenigstens ein klitzekleines bisschen auf den See hinaus?«, erkundigte sich Cordula ungeduldig in breitem Ruhrpottslang. Sie war eine kräftige, große Frau, die für ihr leichtes Übergewicht jedoch überraschend beweglich war.

»Dat mein ich auch«, stimmte Jens seiner Frau treuherzig zu. »Wir haben uns schon so da drauf gefreut!«

»Alles zu seiner Zeit!« Valerie ließ sich nicht beirren. »Ohne das theoretische Grundzeug habt ihr keinen Spaß, vor allem, weil noch keiner von euch gesegelt ist. Morgen geht es aber dann gleich los.«

»Valerie hat recht«, bemerkte der ängstliche Felix. »Erst das Rüstzeug, dann das Vergnügen. Kevin und ich möchten auf keinen Fall ein Risiko eingehen, nicht wahr, Darling?« Sein Partner warf ihm zur Bestätigung eine Kusshand zu, während er die Gruppe nebenbei filmte.

Rick fand an seinen Mitseglern sichtliches Vergnügen. Außerdem zeigte er sich als eifriger Schüler. Valerie ertappte sich dabei, wie ihre Augen immer wieder zu ihm hinwanderten, während sie ihren Vortrag fortsetzte. Einmal begegneten sich ihre Blicke, und er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie mit einem Lächeln antwortete und sich gleich darauf dafür schämte. Ich benehme mich wie ein Teenager, schalt sie sich und beendete schließlich ihre Stunde.

»Wir sehen uns morgen früh pünktlich um zehn Uhr. Dann geht es auf die Boote«, verabschiedete sie ihre Gruppe. Während sich die anderen Kursteilnehmer schnell zerstreuten, begann Rick in aller Ruhe mit dem Aufräumen. Valerie half ihm dabei.

»Gehen wir noch etwas trinken?«, fragte Rick, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

»Ich hab keine Zeit«, erwiderte sie perplex und ärgerte sich im nächsten Augenblick, da sie so rasch abgelehnt hatte. »Ich muss noch einkaufen, weil ich morgen Besuch bekomme«, fügte sie rasch hinzu und dachte schuldbewusst an den gähnend leeren Kühlschrank in ihrem Appartement.

»Vielleicht kannst du das ja ein wenig nach hinten verschieben, oder wartet jemand auf dich?«

»Nein, ich wohne allein«, erwiderte sie schnell. Als sie mehr als sieben Monate zuvor Berlin verlassen hatte, hatten Jonas und sie sich darauf geeinigt, dass in der nächsten Zeit jeder seine eigenen Wege gehen würde. Auch wenn sie sich nicht offiziell voneinander getrennt hatten, so sollte sich jeder frei fühlen. So hatte sie es jedenfalls verstanden. Dass Jonas sich nicht an diese Vereinbarung hielt, war streng genommen gegen ihre Abmachung. Plötzlich ärgerte sie sich sogar darüber, dass er ihr das Wochenende mit seinem Überraschungsbesuch verdarb. In einer trotzigen Anwandlung änderte sie ihre Meinung. »Warum also nicht?«, fügte sie schließlich hinzu. »Auf der anderen Rheinseite ist ein hübsches Gartenrestaurant. Von dort hat man einen wunderschönen Blick auf die Alpen. Hast du ein Fahrrad?«

Als Rick verneinte, fiel ihr ein, dass im Schuppen noch eines stand, das im Augenblick nicht gebraucht wurde. Sie bot es Rick kurzerhand an. Wenig später machten sie sich gemeinsam auf den Weg. Es war ein traumhafter Frühsommerabend. Eine angenehme Brise strich vom See her über das Land, während sie über die Rheinbrücke auf die andere Seite radelten. Entlang des Sees führte ein Weg direkt am Ufer entlang bis zu besagtem Lokal. Sie fanden einen freien Platz auf der Terrasse und genossen die Aussicht auf das schweizerische Ufer mit dem Bergmassiv des Säntis und des Alpsteins, während die Bedienung ihnen eisgekühlten Weißwein servierte.

»Ich hab einen Bärenhunger nach der ganzen Segeltheorie«, verkündete Rick gut gelaunt. »Kann ich dich vielleicht auch zum Essen überreden?«

»Da sag ich nicht Nein!« Valerie ließ sich gern auf seine unkomplizierte Art ein. Im Gegensatz zu ihr selbst schien Rick alles leichtzunehmen. »Aber was ist mit deiner Tante? Wartet sie nicht auf dich?«

»Sie war ziemlich erschöpft nach unseren Ausflügen gestern und heute Morgen. Sie wollte für den Rest des Tages allein sein. Außerdem kümmert sich unsere Wirtin rührend um sie.« Er grinste vielsagend. »Ich bin also in jeder Beziehung frei und ungebunden. Und du?« Er sah sie prüfend an. Ihr war sofort klar, auf was er abzielte. Dennoch zögerte sie mit einer klaren Antwort.

»Ich hab auch Hunger«, erwiderte sie ausweichend und griff nach der Karte, um sie eingehend zu studieren.

Er beließ es dabei. Sie wählte einen Spargelsalat mit Erdbeeren und Ciabatta, während Rick sich einen Bodenseefelchen mit Bratkartoffeln und Salat bestellte. Die Zeit bis zum Essen verbrachten sie mit zwangloser Konversation. Dabei erfuhr sie, dass Rick Historiker war und für ein Buch über die NS-Zeit recherchierte. Als das Essen gebracht wurde, machte er sich mit großem Appetit über seine Portion her. Valerie fiel auf, dass er nicht mit Lob sparte, während er aß. Das erinnerte sie an ihren Vater, der auch in Frankreich geboren war. Unwillkürlich verglich sie sein Essverhalten mit dem von Jonas. Unterschiedlicher können zwei Männer wohl kaum sein, dachte sie amüsiert. Wenn sie mit ihm in einem Restaurant war, mäkelte er grundsätzlich an allem herum. Nichts schien ihm gut genug. Außerdem war er Veganer und konnte es nur schwer ertragen, wenn jemand an seinem Tisch Fisch oder Fleisch aß. Valerie war im Laufe der Zeit zwangsläufig zur Vegetarierin geworden, obwohl sie eigentlich ganz gern einmal Fisch oder Fleisch aß.

»Früher hieß es immer, dass die Deutschen nicht kochen können«, unterbrach Rick ihre Gedanken und wischte sich mit der Serviette über den Mund, »aber in der Zwischenzeit scheinen sich die Verhältnisse umzukehren. Wir haben so viele schlechte Restaurants in Frankreich. Ich liebe das deutsche Essen!«

»Und ich das französische, genau genommen das provenzalische!« Valerie legte ihr Besteck beiseite und geriet nun ihrerseits ins Schwärmen. »Die Tomates provençales, die mein Vater zubereitet, sind einfach unübertrefflich. Wenn es danach noch eine rosa gebratene Lammschulter mit weißen Bohnen gibt, könnte ich dafür sterben …« Sie legte ihr Kinn auf die aufgestützten Hände und sah verklärt in den Himmel. Sie vermisste ihn plötzlich. »Mein Vater ist in der Provence aufgewachsen«, erklärte sie versonnen. »Deswegen hab ich fast alle Sommerferien in Frankreich verbracht.«

Dann spürte sie Ricks überraschten Blick auf sich ruhen. »Sieh an, dann steckt also eine halbe Landsmännin in dir?«, bemerkte er auf Französisch.

»Findest du das schlimm?« Valerie zog spöttisch die Augenbrauen hoch. Ohne Probleme ging sie auf den Sprachwechsel ein. Auch wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr Französisch bei Weitem nicht so gut war wie Ricks Deutsch, machte es sich nun bezahlt, dass ihr Vater darauf bestanden hatte, sie zweisprachig zu erziehen. Sie hielt seinem Blick stand und spürte gleichzeitig, wie die Luft zwischen ihnen beiden zu knistern begann. Dieses Mal war es Rick, der zuerst den Blick abwandte. Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort. »Wie kommt es eigentlich, dass du so gut Deutsch sprichst?«, fragte sie, um die Leere zwischen ihnen wieder zu füllen.

»Meine Großmutter war Deutsche«, erklärte er. »Ich hab sie zwar nie kennengelernt, aber meine Mutter hat immer gesagt, dass es wichtig ist, sich auf seine Wurzeln zu besinnen. Sie hat mich deswegen auf die Deutsche Schule in Paris geschickt. Daher kann ich einigermaßen gut Deutsch.«

Valerie fiel auf, dass sie sich immer noch auf Französisch unterhielten. Irgendwie lief ihr Gespräch in dieser Sprache flüssiger.

»Und weshalb bist du mit deiner Großtante hier am Bodensee?«, erkundigte sie sich neugierig. Sie hatte mit einem Mal das Bedürfnis, mehr über ihn zu erfahren.

Rick lehnte sich zurück und nippte an seinem Glas Wein. Sein Blick wanderte in die Ferne, bevor er ihr antwortete. »Das ist etwas kompliziert«, begann er schließlich zu erklären. »Meine Mutter Isabelle ist bei meiner Großtante Adèle aufgewachsen. Bauern haben sie als Baby zu ihr gebracht, da ihre Eltern verschollen waren. Adèle ist die Schwester meines Großvaters und diesem schon als Kind sehr verbunden gewesen. Sein unbekanntes Schicksal hat ihr zeit ihres Lebens keine Ruhe gelassen. Deshalb sind wir hier. Wir wollen herausfinden, was mit ihm geschehen ist. Seine Spur führt an den Bodensee auf die Insel Mainau, wo einst Tuberkulosekranke untergebracht wurden. Meine Tante und ich wollen herausfinden, ob Antoine einer von ihnen war. Es ist die einzige Spur, die wir haben«, schloss er seine Erklärung.

»Und wie wollt ihr das anstellen? Hofft ihr, hier auf sein Grab zu stoßen?« Valerie fand überaus spannend, was er erzählte.

»Das mit den Gräbern ist so eine Sache …«

Rick verwandelte sich plötzlich ganz in einen nüchternen Wissenschaftler und erzählte ihr von diversen Schwierigkeiten, die sich ihnen in den Weg stellten. Hinter dieser Nüchternheit spürte sie dennoch seine Gefühle.

»Du hängst wohl sehr an deiner Tante«, sprach sie ihn darauf an.

Rick stimmte ihr zu. »Adèle hat sehr viel für meine Familie getan, nachdem ihre Eltern gestorben waren«, gestand er ihr. »Sie hat meine Mutter allein großgezogen und war später auch immer für mich da, wenn Maman arbeiten musste. Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht. Ich liebe sie sehr.« Seine Augen glänzten, während er von ihr sprach. Doch dann wechselte er das Thema. Er bestand darauf, dass auch sie etwas von sich erzählte. »Stammt deine Familie vom Bodensee?«

Valerie gefiel Ricks Interesse an ihr. Bereitwillig erzählte sie, dass sie in Berlin lebte und nur den Sommer am See verbrachte. »Mein Vater Aaron kam als Medizinstudent von Aix-en-Provence nach Berlin und arbeitete später als Arzt an der Charité. Dort lernte er meine Mutter Mia kennen. Sie ist um einiges jünger als er, also hab ich einen relativ alten Vater, auch wenn er sehr viel jünger wirkt.« Sie lächelte versonnen. »Die beiden sind sehr glücklich miteinander, ich bin froh, dass ich sie als Eltern habe.«

»Leben deine Großeltern in Aix noch?«, wollte Rick wissen.

Valerie verneinte. »Sie sind schon lange tot. Ich hab kaum noch eine Erinnerung an sie. Ich weiß nur, dass sie Papa in den letzten Kriegsmonaten als Säugling bei sich aufgenommen haben. Seine Mutter Gigi Sternfeld war eine deutsche Jüdin, die im Untergrund lebte. Sie arbeitete für die französischen Partisanen innerhalb der Résistance. Sie war eine mutige Maquisarde und wurde erschossen, nachdem man sie bei einem Einsatz erwischt hatte. Von meinem leiblichen Großvater weiß ich nur seinen Namen. Er war Franzose und hieß ebenfalls Antoine! C’est tout! Aber das ist Schnee von gestern.«

Rick sah sie tadelnd an. »So sollte man niemals über seine Familiengeschichte reden«, sagte er mit erhobenen Augenbrauen. »Ohne diesen ›Schnee von gestern‹ wären Menschen wie ich arbeitslos.«

Valerie erhob beschwichtigend die Hände.

»So hab ich das natürlich nicht gemeint. Es ist nur so, dass die Vergangenheit meines Vaters nie eine große Rolle in meinem Leben gespielt hat. Sein Verhältnis zu seinen Pflegeeltern war nicht besonders herzlich, auch wenn er ihnen sehr viel zu verdanken hat. Außerdem sind sie früh gestorben. Und auch meine Mutter hat keine Verwandten mehr. Für Aaron waren Mia und ich seine Familie. Das hat uns allen genügt.«

»In meiner Familie wurde dagegen sehr viel über die Vergangenheit geredet«, sinnierte Rick. »Womöglich bin ich deswegen Historiker geworden. Es ist wie eine Sucht, ich muss immer alles über die Menschen und ihre Vergangenheit erfahren.« Er lächelte ihr verschmitzt zu. »Aus diesem Grund würde ich auch gern wissen, was du tust, wenn du dich nicht gerade mit Touristen beim Segeln herumschlägst.«

Bislang hatte ihr Gespräch einen eher unverfänglichen Verlauf genommen, doch nun berührte Ricks Frage einen heiklen Punkt in Valeries Leben. »Ich bin eigentlich Gymnasiallehrerin«, begann sie, unsicher, wie viel sie preisgeben sollte. Sie wollte die gelöste Stimmung nicht mit ihren Problemen zerstören. Doch dann fand sie, dass sie zu ihr gehörten, und entschloss sich, mehr zu erzählen. »Im letzten Herbst hatte ich allerdings einen Zusammenbruch in der Schule. Ich war gezwungen, mir eine Auszeit zu nehmen«, gestand sie.

Sie presste die Hände auf ihre Schenkel, weil sie zu zittern begannen. Es fiel ihr immer noch nicht leicht, über diese Zeit zu reden. Außerdem hatte sie plötzlich Angst, sich lächerlich zu machen.

»Du musst mir nichts erzählen, was du nicht magst«, erwiderte Rick sofort feinfühlig. »Ich hab wirklich nicht die Absicht, dich in Verlegenheit zu bringen.«

»Und du musst dich nicht entschuldigen.« Valerie fühlte sich nach seinen Worten sofort viel besser. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. »Vielleicht ist es ja jetzt an der Zeit, einmal darüber zu reden.« Sie sah Rick unsicher an. »Ich hab im letzten Jahr Schlimmes durchgemacht«, fuhr sie zögernd fort. »Nach meinem Referendariat kam ich gleich an eine Brennpunktschule mitten in Berlin. Die Schüler kamen mehr oder weniger alle aus prekären Verhältnissen, Migrationshintergrund, Arbeitslosigkeit, Drogen, Gewalt, Mobbing, die ganze Palette eben. Ich hielt mich für ziemlich robust, doch dann musste ich feststellen, dass all meine Kollegen gegeneinander intrigierten. Es gab keinen Rückhalt bei Schwierigkeiten im Schulalltag, den Eltern war das Schicksal ihrer Sprösslinge sowieso relativ gleichgültig. Ich hatte keinerlei Handhabe, etwas Positives zu bewirken. Meine Autorität wurde von allen Richtungen untergraben. Doch anstatt die äußeren Umstände verantwortlich zu machen, gab ich mir selbst die Schuld. Ich sah nur mein eigenes Versagen. Mein Selbstwertgefühl ging mit jedem Monat mehr den Bach runter. Eines Tages wachte ich auf und konnte nicht mehr aufstehen. Ich war wie gelähmt, nicht mehr in der Lage, mich in irgendeiner Weise zu irgendetwas zu motivieren. Damals wäre ich am liebsten gestorben.«

Valerie schluckte, kämpfte mit aufsteigenden Tränen. Plötzlich spürte sie, wie Ricks Finger sanft ihre Hand berührten, die sie fest auf die Tischplatte gedrückt hielt, um das Zittern in den Griff zu bekommen.

»Das muss ganz schrecklich für dich gewesen sein. Ich hab zwar nichts ähnlich Schlimmes erlebt. Doch ich weiß auch, was es heißt, durch ein tiefes Tal zu gehen. Ich hab mich vor einem halben Jahr von meiner langjährigen Freundin getrennt. Erst dachte ich, es sei eine Befreiung, in Wirklichkeit hat mich die Trennung am Boden zerstört. Aber wie gesagt, das ist natürlich nicht mit deiner Situation vergleichbar!« Seine Empathie tat ihr gut. »Du warst damals sicherlich froh, dass du deine Familie um dich hattest.« Seine Stimme drückte Mitgefühl aus, ohne dass sie es als verletzend empfand.

»Ja, meine Eltern haben wirklich alles getan, um mich aus meinem Tief wieder herauszuholen …« Sie hielt kurz inne, bevor sie weitersprach. »Und Jonas, mein Freund, war ebenfalls sehr bemüht. Doch sie konnten mir alle nicht helfen. Ich musste für ein paar Wochen in eine Klinik, um wieder auf die Beine zu kommen. Danach hatte ich das Gefühl, dass es nicht mehr so weitergehen kann wie bisher. Deswegen hab ich mir eine Auszeit genommen.« Langsam gelang es ihr, die Fassung zurückzugewinnen. Sie lächelte Rick tapfer zu. »Im Herbst werde ich wohl wieder zurück nach Berlin gehen und als Lehrerin arbeiten, wenn auch an einer anderen Schule. Ich liebe meinen Beruf und möchte ihn auf jeden Fall weiterhin ausüben.«

»Du bist bestimmt eine ganz wundervolle Lehrerin«, bemerkte Rick.

Er drückte kurz ihre Hand, bevor er sie wieder zurückzog. Sie lächelte ihm dankbar zu, auch wenn es sie verlegen machte. Sie kannte diesen Mann überhaupt nicht und hatte ihm doch vorbehaltlos ihr Herz geöffnet. Plötzlich musste sie an Jonas denken und bekam ein schlechtes Gewissen. Sie sah absichtlich auf die Uhr.

»Ich muss los«, sagte sie abrupt, »sonst schließen die Geschäfte.«

Rick nickte. Sie sah, wie er nachdenklich auf seiner Unterlippe kaute. »Dieser Jonas ist dein Freund, der morgen kommt, richtig?«, sagte er schließlich.

Sie bildete sich ein, einen Hauch von Enttäuschung in seiner Stimme zu hören. Schnell zuckte sie mit den Schultern, denn sie wollte ihn nicht belügen.

»Er will mich unbedingt sehen, obwohl wir eigentlich verabredet hatten, dass wir eine Beziehungspause einlegen.« Sie sah kurz weg.

»Dann musst du ihm sehr wichtig sein.«

Rick lächelte unverbindlich und nahm der Situation die Peinlichkeit, indem er der Bedienung winkte, damit sie bezahlen konnten. Als sie sich voneinander verabschiedeten, war nichts mehr von der vertrauten, selbstverständlichen Nähe zwischen ihnen zu spüren.