16
Mit einem prächtigen Strauß Sommerblumen stand ich am Abend vor Valeries Appartement. Ich war aufgekratzt wie ein kleiner Junge. Als sie die Tür öffnete, blieb mir einfach die Spucke weg.
»Was ist denn mit dir los?«, begrüßte sie mich belustigt, nachdem ich keine Anstalten machte, ihre Wohnung zu betreten. Völlig fasziniert betrachtete ich sie in ihrem luftigen Sommerkleid, ich konnte meine Augen gar nicht mehr von ihr abwenden. »Darf ich?«
Mit einem verheißungsvollen Augenaufschlag nahm sie mir die Blumen ab und trug sie ins Wohnzimmer. Ich folgte ihr wie hypnotisiert. Noch immer konnte ich kaum glauben, dass ich wirklich bei ihr war. Aus der Küche drang der verführerische Duft von Essen in meine Nase. Um meine Verlegenheit zu überspielen, begann ich, Valerie von meiner Begegnung mit Christian Wallner zu erzählen, die meine Suche nach Antoine endgültig in einer Sackgasse hatte enden lassen. Valerie hörte mir interessiert zu, während sie mir eine Flasche Weißwein zum Öffnen reichte. Sie fragte mich, ob ich sehr enttäuscht darüber sei. Da erst rückte ich mit der wahren Überraschung heraus. Ich erzählte ihr von Professor Lorchmeyers Anruf.
»In dem Augenblick, als ich die Sache mit Antoine schon abgeschlossen glaubte, behauptete der alte Herr doch tatsächlich, etwas über ihn herausgefunden zu haben«, berichtete ich aufgeregt. »Sieht fast so aus, als könne ich Adèle bald mehr über sein Schicksal erzählen.« Ich strahlte sie an und fühlte mich dabei so glücklich wie noch nie in meinem Leben.
»Glückwunsch!«
Valerie trat plötzlich auf mich zu und küsste mich auf den Mund. Ich war so perplex, dass ich kaum darauf reagierte. Erst als sie ebenso abrupt wieder von mir abließ, um zurück in ihre kleine Küche zu gehen, begriff ich, was vorgefallen war. Dieses Mal nutzte ich meine Chance. Ich hielt sie am Arm fest und zog sie wieder zu mir zurück.
»Aber das Beste an meiner Suche nach Antoine ist, dass ich dich dabei gefunden habe«, raunte ich in ihr Ohr.
Dabei stieg mir ihr unverwechselbarer Veilchenduft in die Nase, er brachte mich fast um den Verstand. Sie wollte etwas antworten, doch dieses Mal ließ ich sie nicht gewähren, ich zog sie an mich, um ihren Kuss auf meine Weise zu erwidern.
»Lass uns erst etwas essen, dann …«
Statt sie ihren Satz beenden zu lassen, verschloss ich ihren Mund mit einem weiteren Kuss. Dieses Mal ließ sie sich darauf ein. Ihr Körper reagierte mit einer Heftigkeit, die ich nicht erwartet hatte. Ebenso erregt hob ich sie auf meine Arme und trug sie wie in einem Rausch, der nicht enden wollte, zu ihrem Bett. Ausgehungert fielen wir übereinander her und ließen erst voneinander ab, als der nächste Morgen bereits graute.
Ich hatte mich niemals glücklicher gefühlt als in diesen Stunden. Gäbe es die Möglichkeit, in einer Zeitschleife in die Vergangenheit zu reisen, ich würde mir wieder und wieder diese erste, unbeschwerte Zeit mit Valerie zurückwünschen.
Viel zu rasch mussten wir uns wieder unseren täglichen Verpflichtungen stellen. Nur schweren Herzens verabschiedete ich mich von Valerie, um zu meiner Verabredung mit Professor Lorchmeyer zu gehen. Als wir uns mit einem langen Kuss voneinander verabschiedeten, versprach ich ihr, sie später von der Segelschule abzuholen. Professor Lorchmeyer wohnte in einer der prächtigen Gründerzeitvillen, die das Seeufer gegenüber der Altstadt säumten. Er empfing mich in seiner Etagenwohnung mit Seeblick und führte mich sogleich in ein geräumiges Arbeitszimmer, auf dessen Schreibtisch und Sesseln sich bergeweise Bücher stapelten. Es war offensichtlich, dass der emeritierte Professor immer noch wissenschaftlich arbeitete. Nur ein Stuhl seinem Schreibtisch gegenüber war nicht belegt. Auf diesem bat er mich, Platz zu nehmen.
»Da sind Sie nun also«, begann er unsere Unterhaltung etwas merkwürdig. Sein Blick war nüchtern und abwartend, so als müsste er sich erst noch einen umfassenden Eindruck von mir verschaffen, bevor er sein Wissen mit mir teilte. Das verunsicherte mich ein wenig, denn bei unserer ersten Begegnung hatte ich ihn sehr viel unvoreingenommener erlebt. »Das, was ich Ihnen nun zu sagen habe, wird Sie in keiner Weise erfreuen«, begann er schließlich mit einem Paukenschlag. »Antoine Mardieu war mitnichten ein Held der Résistance, wie Sie gern glauben würden.« Noch bevor ich den Inhalt seiner Behauptung begriff, begann er, das Ungeheuerliche zu erklären. »Es geht mir nicht darum, das Andenken an Ihren Großvater zu zerstören«, fuhr er nüchtern fort. »Es geht mir lediglich darum, die Mittäter des damaligen Regimes zu entlarven und mein Wissen der Öffentlichkeit preiszugeben. Hass und die Freude an Vergeltung mögen mich früher angetrieben haben. Doch sie führen zu nichts. Heute geht es mir nur darum, die Erinnerung an diese Schreckenszeit wachzuhalten, solange meine Kräfte mir das noch erlauben. Verstehen Sie das?« Seine Frage war rein rhetorisch gemeint. »Der Massenmord an uns Juden hat nicht erst mit den Gaskammern begonnen. Er begann mit der Demontage von Demokratie und Menschenrechten. Dieselben negativen Ansätze gibt es heute leider auch wieder. Denken Sie nur an die ausländerfeindlichen Anschläge gewisser national gesinnter Gruppierungen in diesem und auch in Ihrem Land …«
»Verzeihung!«, unterbrach ich die Ausführungen des Professors. »Aber was hat das mit Ihrer merkwürdigen Behauptung über meinen Großvater zu tun?« Ich hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl.
Lorchmeyer ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, sondern machte mir mit einem Winken deutlich, dass ich ihn ausreden lassen sollte. »Ich habe im Laufe meiner Tätigkeit in ganz Europa und auch Übersee Kontakte geknüpft, die es mir erlauben, auf ein riesiges Archiv aus der Zeit des Nationalsozialismus zuzugreifen. Dort sind nicht nur die Namen der uns bekannten Opfer, auch die vieler Täter verzeichnet.« Er machte eine kurze Pause und sah mich durch seine dicken Brillengläser prüfend an. »Ich nehme an, Sie wissen, wovon ich rede?«
»Ich denke schon.«
»Sie haben mir erzählt, dass Ihr Großvater in der Gegend von Lyon dem Maquis angehört haben soll. Das war der Ausgangspunkt für meine Nachforschungen«, fuhr er fort. »Zufällig habe ich in Lyon einen guten Freund und Kollegen, der lange das dortige Museum der Résistance geleitet hat. Ich habe ihn kontaktiert und gebeten, einige Recherchen für mich vorzunehmen. Tatsächlich stieß er relativ rasch auf den Namen Antoine Mardieu.« Sein Blick durchbohrte mich nun fast. Ich verstand immer noch nicht, was er mir damit sagen wollte. »Antoine Mardieu, Ihr Großvater, war kein Mitglied der Résistance. Er war ein Milizionär, ein Kollaborateur. Er gehörte zur Gruppe eines gewissen Pierre Laval und arbeitete als enger Verbindungsmann zu den Nazis. Sagt Ihnen der Name Klaus Barbie etwas?«
»Sie meinen den Schlächter von Lyon?«, brachte ich fassungslos hervor. Lorchmeyers Behauptungen waren wie ein Schlag ins Gesicht. Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet. »Wollen Sie etwa behaupten, dass mein Großvater mit diesem Monster in irgendeiner Verbindung stand?« Mir drohte die Stimme zu versagen.
Statt einer Antwort schob mir der Professor den Ausdruck eines Dokuments über den Tisch.
»Lesen Sie selbst!«, forderte er mich auf. Es war eine Kopie einer Mitgliederliste der französischen Milizionäre in Lyon mit Eintrittsdatum in die GMR, die Groupe mobile de Réserve. Laut der Auflistung trat mein Großvater im April 1943 der Miliz bei. Mit zitternden Händen legte ich das Papier wieder beiseite. »Sie sind weiß Gott nicht der Einzige, der diese Erfahrung machen muss«, sagte Lorchmeyer ohne erkennbares Bedauern. »Nach dem Krieg wurden aus vielen Nazis vermeintliche Helden des Widerstands. Doch wenn dem so wäre, hätte es das Dritte Reich gar nicht geben dürfen, nicht wahr?« Er lachte bitter. »Dabei waren es weniger als ein Prozent der Bevölkerung, die sich gegen Hitler aufgelehnt haben, übrigens auch in Frankreich. Wenn ich Ihnen einen gut gemeinten Rat geben darf, dann gehen Sie offensiv mit Ihrem Wissen um. Akzeptieren Sie, wer Ihr Großvater war. Möge Ihnen die Erkenntnis helfen, neues Unrecht zu vermeiden. Denken Sie an die vielen Flüchtlinge, die gerade Europa fluten!«
Lorchmeyer war schonungslos in dem, was er sagte. Er gab sich keine Mühe, mir die Wahrheit rücksichtsvoll beizubringen. Ich war geschockt, doch ich konnte ihm seine Reaktion auch nicht verübeln. Der Professor war als Junge selbst ein Opfer des Holocaust geworden. Nachdem er nicht nur die Schrecken des Konzentrationslagers erlebt, sondern dabei auch den Großteil seiner Familie verloren hatte, hatte er sich der Suche nach Gerechtigkeit und Aufklärung verschrieben. Wie sein ebenfalls jüdischer Kollege Simon Wiesenthal in Wien verstand er sich als ein Gerechter, dessen Lebensziel es war, als Leidtragender des Holocaust vor dem Vergessen der Shoa, dem nationalsozialistischen Völkermord an den Juden, zu warnen. Ich war mir sicher, seine mahnenden, von selbst erfahrenem Leid und daraus resultierender Unduldsamkeit geprägten Worte nie mehr zu vergessen. Alles in mir sträubte sich, das Ungeheuerliche zu glauben. Mein Großvater war immer mein Held gewesen, mein Vorbild, an dem ich mich messen wollte, und nun sollte er ein mieser Verbrecher gewesen sein?
Und doch lagen Beweise vor. Nach Minuten betroffenen Schweigens fühlte ich mich endlich in der Lage, Lorchmeyer zu fragen, ob er noch mehr über Antoine herausgefunden hatte. In Verbindung mit Obersturmführer Klaus Barbie schossen mir sofort die schrecklichen Razzien in der Lyoner Gegend durch den Kopf. Dieser Mann, der als der Schlächter von Lyon in die Geschichte eingegangen war, hatte die grauenvollen Judenverfolgungen aus dieser Zeit zu verantworten, besonders die Deportation der vierundvierzig Kinder und deren Betreuer des Waisenhauses von Izieu. Nicht nur für mich als Mensch, sondern auch als Historiker waren diese Taten der Inbegriff an Unmenschlichkeit. Allein der Gedanke, dass mein Großvater dabei seine Finger im Spiel gehabt haben könnte, verursachte mir Übelkeit.
Leider konnte Lorchmeyer mir meine Ängste nicht nehmen. »Ich weiß nicht mehr als das, was auf dieser Liste steht«, gab er mir zur Antwort. »Aber als Historiker werden Sie vermutlich in der Lage sein, etwas Licht in das Dunkle der Vergangenheit Ihres Großvaters zu bringen.« Zum ersten Mal, seitdem ich bei ihm war, huschte so etwas wie Mitgefühl über sein Gesicht. »Ich wünsche Ihnen die Kraft, das alles zu ertragen.«
Wie benommen verabschiedete ich mich kurze Zeit später von dem alten Herrn und trat nach draußen auf die Straße. Dort blieb ich stehen und starrte eine ganze Weile auf den grauen See. Ich registrierte weder den strömenden Regen noch die Autos, die hupend auf sich aufmerksam machten. Erst als ich bis auf die Haut durchnässt war, stieg ich in meinen VW-Bus und fuhr ohne festes Ziel eine Weile durch die Gegend.
Irgendwann verspürte ich das Bedürfnis, mich jemandem anzuvertrauen. Ich lenkte mein Gefährt zum Hafen und traf Valerie in dem Schuppen, der auch das Büro der Segelschule beherbergte. Sie war in das Einordnen von Rechnungen vertieft und bemerkte mich erst, nachdem ich die Tür bereits geschlossen hatte. Mein völlig desolater Anblick erschreckte sie. Sie ließ sofort alles stehen und liegen und nahm mich in die Arme. Ohne zu fragen, was geschehen war, hielt sie mich einfach nur fest.
Ihre Nähe war so wohltuend, dass sich der Stau an Gefühlen in mir zu lösen begann. Wie ein Ventil, aus dem plötzlich Luft entwich, ließ der angestaute Druck endlich nach. Ich begann zu weinen wie ein kleines Kind. Valerie wartete geduldig ab, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Dann griff sie zu ihrer Jacke und schlug vor, in ihre Wohnung zu fahren.
Wenig später saß ich ihr frisch geduscht und in eine warme Decke gehüllt gegenüber. Valerie hatte mir einen heißen Tee gemacht und wartete geduldig, bis ich bereit war, über meine Erlebnisse bei Professor Lorchmeyer zu reden. Sie hörte mir aufmerksam zu und versuchte erst gar nicht, ihr Entsetzen über Antoines mögliche Gräueltaten zu verbergen. Ich war ihr dankbar dafür, dass sie die Sache nicht herunterspielte.
»Es tut mir so leid für dich!«, sagte sie schließlich traurig. »Dein ganzes Leben lang war dein Großvater für dich der wichtigste Mann in deinem Leben. Es muss schrecklich sein zu erfahren, dass es nur eine Illusion war.«
»Er war mein Held, der Mensch, an dem ich mich immer aufgerichtet habe. Ohne die Erzählungen über ihn hätte ich niemals Geschichte studiert. Ich hielt ihn für einen Gerechten, dem ich nacheifern wollte. Und nun …« Ich spürte, wie mir wieder Tränen in die Augen stiegen. »Und nun muss ich erfahren, dass er mit einem der widerwärtigsten Kriegsverbrecher, die das Regime hervorgebracht hat, eng zusammengearbeitet hat. Ich kann und will das einfach nicht glauben. Wie kann ich denn jemals noch in meinem Leben an das Gute glauben, wenn mein eigener Großvater ein Mörder war?« Eine ganze Weile suhlte ich mich in Selbstmitleid. Dann erinnerte ich mich wieder an Lorchmeyers Worte: Als Historiker werden Sie vermutlich in der Lage sein, etwas Licht in das Dunkle der Vergangenheit Ihres Großvaters zu bringen. Plötzlich wusste ich, dass er recht hatte. »Ich werde die ganze Wahrheit über Antoine herausfinden und alles veröffentlichen«, teilte ich Valerie schließlich mit. »Und dann werde ich dafür sorgen, dass so etwas nie wieder in meiner Familie geschieht.«
»Aber wieso willst du dich damit quälen?«, fragte Valerie besorgt. »Du bist nicht für die Taten deines Großvaters verantwortlich, egal, was er getan hat.«
»Weil ich sonst nicht mehr weiterleben kann!« Ich sah, wie meine heftige Reaktion sie erschreckte, und versuchte, sie zu beruhigen. »Bislang weiß ich doch nur, dass er bei den Milizionären war. Möglich, dass er ganz grauenvolle Dinge getan hat, aber es ist doch auch denkbar, dass es noch eine andere Geschichte hinter der Wahrheit gibt. Ich möchte einfach nicht glauben, dass Antoine ein skrupelloser Mörder war. Deshalb muss ich versuchen, mehr über ihn herauszufinden.«
Ich seufzte und wünschte mir, dass ich nie vor diese Entscheidung gestellt worden wäre. Dann fiel mir Adèle ein. Wie würde sie wohl mit der Wahrheit umgehen? Durfte ich ihr überhaupt davon erzählen?
»Wie kann es sein, dass deine Tante nichts davon erfahren hat?«, fragte Valerie, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Du hast erzählt, dass die beiden einander sehr nahestanden.«
Darüber hatte ich auch schon nachgedacht.
»Möglicherweise hat Antoine ihr nie etwas darüber erzählt«, mutmaßte ich. »Wenn er wirklich an den Gräueltaten beteiligt gewesen ist, dann wird er damit wohl kaum geprahlt haben.«
Doch warum hätte Antoine seiner Schwester verschweigen sollen, dass er bei den Milizen gewesen war? Zur damaligen Zeit waren Milizionäre in der ehemals freien Zone durchaus angesehen. Die Soldaten bekamen einen anständigen Sold, mit dem sie ihre Familien finanzieren konnten. War das vielleicht der Grund, weshalb Antoine Grenoble verließ? Er wollte seine Familie ernähren?
Valerie saß mir mit aufgestützten Armen gegenüber, das Kinn auf die Hände gelegt, und versuchte, meinen Gedanken zu folgen. »Du musst mit Adèle reden«, sagte sie schließlich. »Es war doch auch ihr Wunsch, mehr über ihren Bruder zu erfahren.«
»Es wird ihr das Herz brechen«, fürchtete ich.
Mir graute davor, sie mit der Wahrheit zu konfrontieren. Und doch ahnte ich längst, dass auch sie mir etwas verschwieg.
»Sie hat ein Recht darauf!« Valerie blieb bei ihrer Meinung. »Du würdest nicht glücklich werden, wenn du es ihr verschweigst. Vielleicht hilfst du ihr ja sogar damit, ihren Bruder endlich loszulassen!«