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Zu meiner großen Enttäuschung erschien Valerie am nächsten Tag nicht in der Segelschule. Auf meine Frage, ob sie krank sei, zuckte ihr Chef Werner nur mit den Schultern. Er war derjenige, der ihren Kurs übernahm.
»Ich glaub, es ist etwas Privates. Auf jeden Fall wird sie heute nicht kommen.«
Vermutlich will sie noch einen zusätzlichen Tag mit ihrem Freund genießen, dachte ich verstimmt. Der Glückliche! Obwohl ich immer wieder versuchte, sie mir aus dem Kopf zu schlagen, gelang mir das nicht. Seit ich Valerie kennengelernt hatte, musste ich ständig an sie denken. Die vorige Nacht hatte ich sogar von ihr geträumt. Was war nur in mich gefahren? Ich war verschossen wie ein Teenager und konnte nichts daran ändern. Das Schlimme war, dass ich mir einredete, dass auch sie mich sympathisch fand. Es war an der Zeit, mir diese Flausen auszutreiben. Was war da besser als eine sinnvolle Beschäftigung?
So begab ich mich nach dem Segelkurs sofort ins Stadtarchiv, zu dem ich dank Professor Lorchmeyer nun ungehindert Zugang hatte. Das Archiv hatte zwar am Montag für die Öffentlichkeit geschlossen, der Archivleiter erwartete mich dennoch. Die historischen Dokumente der Stadt, die seit dem 13. Jahrhundert hier archiviert wurden, lagen im Westflügel einer ehemaligen Benediktinerabtei auf der rechten Rheinseite. Da ich zum ersten Mal dort war, ließ es sich der Leiter des Stadtarchivs nicht nehmen, mich persönlich durch sein Reich zu führen und mir einen geeigneten Arbeitsplatz anzuweisen. Währenddessen unterhielten wir uns über meine Forschungsarbeit, die ihn sehr interessierte. Ich fragte ihn auch nach Dokumenten von der Insel Mainau.
»Leider ist es nach wie vor schwierig, an sie heranzukommen«, bedauerte der Amtsleiter. »Da gibt es ein gewisses Kompetenzgerangel. Sämtliche Unterlagen werden von der Verwaltung der Mainau GmbH selbst archiviert. Wir besitzen eigentlich nur die Dokumente über die Mainau, die im Zusammenhang mit irgendwelchen Verhandlungen von Konstanz mit der Insel standen. Die Kooperation der Inselgesellschaft bezüglich der Aufarbeitung während des Zweiten Weltkriegs und danach ist nicht unbedingt optimal zu nennen und geschieht meist nur auf Druck der Öffentlichkeit. Der alte Graf Bernadotte wollte sich mit dieser Ära nie befassen. Er ließ uns ausrichten, dass er Unterlagen zur Vergangenheit der Insel nur zehn Jahre aufbewahre, was so nicht ganz stimmte.« Der Archivar lächelte süffisant. »Glücklicherweise gibt es in unserer Stadt unbequeme Geister, die nicht ruhen, bis sie die Wahrheit ans Licht bringen. Einem verehrten Kollegen von mir ist es tatsächlich gelungen, Kopien ausgerechnet der Dokumente zu bekommen, die es angeblich nicht mehr gab. Er hat darüber mehrere Abhandlungen geschrieben, die wir ebenfalls hier vorliegen haben.« Er notierte mir die Signatur des betreffenden Bandes auf einem Notizzettel. »Sie können sich hier den ganzen Tag aufhalten«, fügte er abschließend hinzu. »Ich selbst werde das Haus nicht vor sieben Uhr verlassen. Falls Sie die Zeit nutzen wollen, kann ich Sie abholen, wenn ich gehe.«
Ich bedankte mich für die Unterstützung und machte mich sogleich auf die Suche nach den Dokumenten. In einem der Bände, die besagter Historiker verfasst hatte, ging es um das französische Befreiungskomitee auf der Insel Mainau und das Ende der deutsch-französischen Kollaboration 1944 / 45. Ein weiterer Band beschäftigte sich mit der wechselhaften Geschichte der Insel Mainau. Ich begann sogleich zu lesen und fand das bestätigt, was ich in anderen Quellen schon zum Teil gefunden hatte. Obwohl der schwedische Graf vorgab, während des Krieges unparteiisch gewesen zu sein, hatte er die Insel an die NS-Organisation Todt verpachtet und beträchtlichen Gewinn daraus geschlagen. Als mit dem Einzug der Alliierten 1944 in Frankreich das Vichy-Regime gezwungen war zu fliehen, fand ein Teil der Vichy-Politiker samt ihren Angehörigen auf der Mainau Zuflucht. Der von den Nazis protegierte Anführer Jacques Doriot gehörte dazu.
Nach der Flucht der französischen Kollaborateure im April 1945 wurde auf der Mainau ein Reservelazarett eingerichtet. Professor Sauerbruch versuchte, Kliniken der Berliner Charité auf die Mainau zu verlegen, auch Freiburger Kliniken wären gern aus der ausgebombten Stadt auf die ruhige Insel gezogen. Doch dazu kam es nicht, denn am 26. April 1945 besetzten französische Truppen Konstanz und requirierten die Inseln Mainau und Reichenau für die Unterbringung von KZ-Insassen aus Dachau.
So weit waren mir die Sachverhalte bekannt. Allerdings erfuhr ich nun Details, die mir bislang verborgen geblieben waren. Dank der Aufzeichnungen der Frau des französischen Generals de Lattre gab es Schilderungen des bedauernswerten Zustandes der Kranken. Unter anderem erwähnte sie mehrfach, dass einige der Kranken jeglichen Kontakt zu ihren Familien verloren hatten. Auch der Friedhof der Insel wurde erwähnt und die immerhin tröstliche Tatsache, dass die Toten mit militärischen Ehren und im Beisein eines französischen Bischofs beigesetzt worden waren. Ich notierte mir, dass der Sohn des Gartenbaudirektors als Ministrant amtiert hatte. Das konnte ein nützlicher Hinweis sein. Der Junge war vermutlich zu diesem Zeitpunkt zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt gewesen. Es war durchaus denkbar, dass er noch lebte und mir wertvolle Hinweise geben konnte, falls es mir gelang, seine Identität herauszufinden.
Weiterhin stieß ich auf Kopien von Listen, die den Gesundheitszustand der Kranken dokumentierten. Darauf war die Größe der Kranken notiert, ferner ihr Gewicht vor den Schrecknissen des Krieges sowie ihr Gewicht bei Einlieferung ins Hospital und dann wieder bei ihrer Entlassung. Die Namen der Patienten waren lediglich als Kürzel notiert worden, was mir die Suche nach meinem Großvater nicht gerade erleichterte. Auf zwei Listen stieß ich auf das Kürzel Ma. Leider konnte es alles Mögliche bedeuten. Im Französischen gab es zahllose Namen, die mit Ma begannen.
Je mehr Listen und Unterlagen zu den Häftlingen ich durchsah, desto geringer wurde meine Hoffnung, auf den Namen von Antoine Mardieu oder Mardi zu stoßen. Dabei war ich anfangs noch so zuversichtlich gewesen. Der Name Antoine Mardi hatte auf der Lagerliste für Tuberkulosekranke in Dachau gestanden. Doch er fand sich nicht auf den Listen der Eingelieferten. Vielleicht war mein Großvater auf dem Transport gestorben. Eine weitere Möglichkeit war allerdings, dass Antoine zu den schwersttraumatisierten Häftlingen gehört hatte, die sich nicht mehr an ihre Vergangenheit und Familien erinnern konnten, sodass er nicht mehr mit dem Namen auf der Lagerliste in Zusammenhang gebracht werden konnte. Madame de Lattre hatte diese bedauernswerten Menschen ja mehrfach erwähnt. Doch wie konnte ich herausfinden, ob mein Großvater zu ihnen gehört hatte?
Meine Hoffnung, die Suche eingrenzen zu können, schwand weiter, als ich feststellen musste, dass damals auch Kranke aus weiter entfernten Lagern wie Mauthausen oder Buchenwald an den Bodensee geholt und anschließend mit den Leuten aus Dachau in schweizerische Krankenhäuser gebracht wurden. Das verkomplizierte die Suche erheblich. Die Spuren verteilten sich immer weiter und wurden unübersichtlicher. Es war, als würde man eine Stecknadel im Heuhaufen suchen. Ich stieß auf erschütternde Berichte der damaligen Ärzte über den Zustand der ehemaligen Lagerinsassen und über die Probleme bei ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Ich mochte mir nicht vorstellen, dass mein Großvater einer von ihnen gewesen war. Laut der Beschreibungen waren viele der Patienten bei ihrer Ankunft so schwach gewesen, dass man sie liegend in das Notspital transportieren musste. Ihr Allgemeinzustand war katastrophal.
Bevor sie aufgenommen wurden, brachte man sie durch eine Entlausungsstation, danach in eine Zwischenstation, wo ein Chirurg und ein Internist die gründliche Untersuchung der Patienten vornahmen und daraufhin die Kranken den einzelnen Abteilungen zuwiesen. Oft waren sie bei ihrer Aufnahme nicht imstande zu sprechen, ihren Namen richtig zu sagen, sich zu bewegen, sich auf die Latrine zu setzen, zu essen oder zu trinken. Der Sprachverlust legte sich bei manchen erst nach acht bis zehn Tagen, andere ehemalige Häftling fanden ihre Sprache nie wieder. Zerlumpt, schmutzig, die Haut mit Furunkeln bedeckt, hinterließen sie einen apathischen und stumpfen Eindruck. Auf emotionelle Reize reagierten sie oft kindisch mit Weinen, Lachen, Händeklatschen. Laute Stimmen ließen sie zusammenzucken oder in Abwehrhaltung gehen.
Viele Patienten klagten über Vergesslichkeit, waren desorientiert und litten unter Depressionen und Halluzinationen. Wenn sie sich nach einiger Zeit aus ihrer Starre lösten, begannen sie, von ihrem Leiden und den Demütigungen zu erzählen, und immer auch von dem Hunger, den sie erlitten hatten. Die Krankenpfleger auf der Mainau waren für sie Heilsbringer. Viele der ehemaligen Häftlinge verhielten sich ihnen gegenüber schon auf fast peinliche Weise anhänglich und dankbar. Was mich überaus beeindruckte, war die Tatsache, dass die wenigsten dieser bedauernswerten Menschen mit Hass über ihre Kerkermeister sprachen.
Auf der anderen Seite zeigten viele ein gestörtes Verhältnis zum Inventar des Krankenhauses und allgemein zu Eigentumsverhältnissen. Die qualvolle Lagerhaft hatte die Menschen sozial verwahrlosen lassen, ganz besonders die Jugendlichen: Betten, Leintücher, Kopfkissen, Seife, warmes Wasser waren für sie der Inbegriff von Luxus und wurden immer wieder gestohlen. Soziales, mitmenschliches Verhalten war ihnen genauso fremd wie das Sicheinfügen in die Gemeinschaft. Enormer Egoismus, Verwechslung von Mein und Dein, Diebstähle und Lügen prägten den Alltag und machten das Zusammenleben in der neuen Freiheit schwer. Ich las von einem, der seine Armbanduhr zum Händewaschen auszog und auf den Fenstersims legte. Als er sich umdrehte, um sie wieder an sich zu nehmen, war sie gestohlen worden. Armee- und Rotkreuzmaterial, Wolldecken, Nahrungsmittel und Wäsche wurden heimlich beiseitegeschafft und in Kopfkissenbezügen verstaut. Der Zwang, sich die Dinge anderer anzueignen, war offenbar eine psychische Störung, denn die Diebe waren meist so naiv, dass sie die gestohlenen Dinge sofort zur Schau stellten, sodass es nicht schwierig war, das entwendete Gut wieder aufzufinden. Nichts war vor ihnen sicher.
Für die Helfer war es eine enorme Herausforderung, die Menschen wieder in die soziale Gemeinschaft zu integrieren. Mit viel Mühe und Geduld brachten Feldprediger die Menschen nach und nach dazu, ihre verwilderten Wertevorstellungen wieder in Ordnung zu bringen. So sorgten die Geistlichen zum Beispiel dafür, dass jeder etwas Eigenes bekam: Kleidung, Taschenmesser, Portemonnaie, Zahnbürste, Schreibpapier – dadurch sollte die Notwendigkeit zum Stehlen überflüssig gemacht werden. Zum Teil konnten die Patienten selbst einkaufen gehen. Es wurde eine Bibliothek eröffnet, Musikabende wurden veranstaltet und Arbeiten für die Gemeinschaft entlohnt. Es gab Gottesdienste in allen drei Religionen, die verstorbenen Patienten wurden mit militärischen Ehren beigesetzt.
Erschüttert über das unermesslich große Leid, mochte ich mir gar nicht vorstellen, was mein Großvater alles durchgemacht hatte, bevor er starb. Wie konnten Menschen einander nur so etwas antun? Und was war mit denen geschehen, die diesen Irrsinn überlebt hatten? Waren sie jemals in der Lage gewesen, wieder ein normales Leben zu führen? Ich suchte weiter und stellte fest, dass das Krankenhaus auf der Mainau sehr schnell wieder aufgelöst wurde. Bereits am 15. September 1945 war alles zu Ende. Einen Teil der Patienten verlegte man in das französische Militärhospital der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt auf der Insel Reichenau. Auch hierzu existierten Listen, die ich durchforstete. Doch auf keiner fand ich den Namen meines Großvaters oder einen Hinweis auf ihn.
Nun blieb nur noch die winzige Hoffnung, dass Antoine einer der Toten war, die man auf der Mainau begraben hatte, ohne deren Identität je festgestellt zu haben. Doch wie sollte ich das herausfinden? Es war beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Ob ich es nun wollte oder nicht, ich war in einer Sackgasse gelandet. Adèle hatte das schon lange erkannt. Ich würde mich wohl damit abfinden müssen, dass die Umstände des Schicksals meines Großvaters nie geklärt werden würden. Immerhin hatten mir meine Recherchen so einiges an wertvollem Material für meine Forschungsarbeit geliefert. Ich würde die nächsten Tage dazu nutzen, die Dokumente zu kopieren, um sie in einen sinnvollen Zusammenhang setzen zu können.
Müde von der intensiven Arbeit verließ ich schließlich das Archiv und musste feststellen, dass der Tag bereits fast verstrichen war. Ich beschloss, Adèle mit einem schönen Abendessen zu verwöhnen, und machte einen Abstecher in einen Supermarkt. Dort besorgte ich außerdem ein paar Delikatessen für den morgigen Segeltörn. Ich wollte Valerie damit überraschen.
Adèle saß mit Therese Hufnagel vergnügt im Garten und schien mich keinesfalls vermisst zu haben. Die beiden alten Damen unterhielten sich so angeregt, dass sie mich erst bemerkten, als ich zu ihnen an den Tisch trat.
»Oh, da bist du ja!«, begrüßte meine Tante mich freudig. »Hattest du einen schönen Tag?«
Ich erzählte von meiner erfolglosen Durchsicht der Archivunterlagen und gab zu, dass meine Zuversicht, einen Hinweis auf Antoine aufzuspüren, enorm abgenommen hatte.
»Mir fallen nur noch Zeitzeugen ein, die mir weiterhelfen könnten«, erklärte ich abschließend. »Aber wie soll ich sie finden? Und selbst wenn, sind sie schon sehr alt und können sich wahrscheinlich nicht mehr an einzelne Menschen erinnern.«
Adèle nahm die Nachricht wieder mit erstaunlicher Gelassenheit auf. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass sie beinahe erleichtert wirkte. Therese hingegen, die unserer Unterhaltung schweigend, aber mit großer Aufmerksamkeit gefolgt war, mischte sich plötzlich ein.
»Sie haben vorhin erwähnt, dass der Sohn des damaligen Gartenbaudirektors bei den Beerdigungen der Häftlinge auf der Insel dabei war. Ich kenne Christian Wallner sehr gut.« Als wir sie erstaunt ansahen, lächelte sie verlegen. »Wir waren mal einen Sommer lang so etwas wie ein Liebespaar. Das muss in den Sechzigerjahren gewesen sein. Aber dann traf Christian seine Trude, und ich hatte nichts mehr zu melden.« Sie räusperte sich, als sie unsere verständnislosen Blicke sah. »Na ja, er war ja auch um einiges älter als ich«, fügte sie erklärend hinzu, bevor sie sich erneut auf das konzentrierte, was sie eigentlich sagen wollte. »Christian lebte während des Krieges auf der Insel, er hat vieles mitbekommen, was dort geschehen ist. Natürlich ist er schon ziemlich alt, aber immer noch ganz helle im Kopf. Wenn Sie möchten, kann ich ein Treffen mit ihm arrangieren. Er ist auch heute noch ein sehr kontaktfreudiger Mensch und wird Ihnen vielleicht weiterhelfen.«
»Aber was soll das bringen?«, warf Adèle skeptisch ein. »Der alte Herr wird wohl kaum die Namen von über dreihundert Patienten behalten haben.«
»Das mag schon sein. Aber einen Versuch ist es doch wert, oder?« Ich war begeistert. »Auch wenn dieser Christian Wallner nichts über Antoine weiß, kann er mir doch einiges über die damaligen Zustände erzählen.«
Auf diese Weise zeichnete sich am Ende eines relativ frustrierenden Tages doch noch ein kleiner Lichtblick ab.