13
Ich konnte mein Glück kaum fassen: ein Segeltörn mit Valerie allein auf dem Wasser – einen ganzen Tag lang! Trotz meiner Befürchtung, sie könnte es sich noch anders überlegt haben, erschien sie am Morgen pünktlich in der Segelschule und hielt ihr Versprechen. Nach dem Kurs begaben wir uns zur angrenzenden Marina, wo ein dreißig Quadratmeter großer Schärenkreuzer auf uns wartete. Valerie schilderte mir die Vorzüge der Leila.
»Der Dreißiger ist ein elegantes Rennboot, das bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Ostseeküste Schwedens gebaut wurde«, schwärmte sie, als handelte es sich um einen hervorragenden Wein. »Durch sein hohes Rigg reagiert es auch auf leichte Brisen, der kurze Kiel macht es besonders wendig. Dadurch ist sportliches Segeln möglich. Allerdings …«, sie rümpfte ein wenig die Nase, »… ist die Yacht nach heutigen Maßstäben untertakelt und kommt aufgrund ihrer schmalen Linien nie ins Gleiten. Damit ist sie vielen anderen Booten unterlegen.«
»Das macht gar nichts. Ich finde, dass ihr gut zueinander passt«, unterbrach ich ihren für mich unverständlichen Redeschwall. Sie verstummte mit einem ungeduldigen Schnauben, das mir meine Ignoranz vor Augen führen sollte. »Wem gehört das Boot eigentlich?«, wechselte ich rasch das Thema.
»Wie gesagt, einem Bekannten von Werner, einem Neurologen aus München. Er ist am vorletzten Wochenende mit der Leila in Konstanz liegen geblieben. Kein Wind und zu wenig Zeit, um mit dem Motor wieder zurückzuschippern.« Sie hob vielsagend die Augenbrauen. »Ihr Heimathafen, der Yachtclub Langenargen, liegt auf der anderen Seeseite. Wir bringen ihm sein Boot wieder zurück, da er es für morgen anderweitig verchartert hat.«
Sie gab mir Anweisungen zum Auftakeln des Bootes, und wenig später legten wir ab. Kaum waren wir ein Stück weit draußen auf dem See, stellte Valerie den Motor ab und gab Anweisungen, die Segel zu hissen. Der Wind frischte leicht auf, sodass wir gut Fahrt aufnehmen konnten. Im Gegensatz zu den letzten Tagen war es relativ schwül, sodass die leichte Brise auf dem Wasser überaus angenehm war. Eine ganze Weile schwiegen wir. Ich genoss den Fahrtwind auf dem wunderbaren Boot, während Valerie sich mit seinen Finessen vertraut machte. Dann drehte der Wind.
Valeries Befehl kam kurz und präzise. »An die Vorschoten und fertigmachen zur Wende!« Ich brachte mich eilig in Position und wartete aufgeregt auf Valeries nächste Anweisung. Bislang hatte ich nur wenig zu tun gehabt. Doch das sollte sich nun ändern. Sie erklärte mir, wie ich die Leinen lösen konnte, auf der anderen Seite musste ich sie wieder festzurren. »Du musst schnell sein, damit wir nicht allzu sehr abfallen. Und achte darauf, dass sich nichts verhakt.«
»Aye, Käpt’n!« Ich war höchst konzentriert, denn Valerie hatte mir, kaum dass ich an Bord gestiegen war, unmissverständlich klargemacht, dass unser Ausflug nicht etwa ein Rendezvous war, sondern eine rein sportliche Herausforderung. Als das Kommando kam, löste ich also rasch die Leine des Vorsegels und zog den Kopf ein, als sich der Großbaum mit dem flatternden Segel auf die andere Seite bewegte, während die Nase der Yacht durch den Wind ging. Sobald das geschehen war, bediente ich die Winschkurbel auf der anderen Seite, bis das Segel wieder straff saß. Doch Valerie war noch nicht mit mir zufrieden.
»Das Segel ist zu straff, du musst es etwas lockern, bis es einen leichten Bauch bekommt.« Ich legte beide Hände an die Winschrolle und löste die Leine wieder etwas, bis Valerie zufrieden war. »Gut gemacht!«, entließ sie mich mit einem anerkennenden Lächeln aus meiner Pflicht. »Sobald wir Kurs halten können, kannst du dich etwas entspannen!«
Ich war fasziniert, wie selbstverständlich sie mit den komplizierten Vorrichtungen umging. Völlig entspannt saß sie am Steuer und streckte dabei ihre Nase in den Wind – wunderschön und doch unerreichbar für mich. Manchmal war das Leben eben doch ungerecht. Hinter uns verschwand der Konstanzer Hafen, und wir nahmen Kurs Westnordwest auf die Seemitte zu. Langenargen lag knapp dreißig Kilometer entfernt, was in etwa fünfzehn Seemeilen entsprach. Bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von vier Knoten würden wir den Hafen dort in etwa vier Stunden, also am späteren Nachmittag, erreichen.
Ein stetiger Wind trieb uns zügig voran. Wir unterhielten uns über Belanglosigkeiten und genossen die angenehme Brise. Nach und nach wurde die Stimmung zwischen uns immer lockerer und genauso unbekümmert wie an jenem Tag, als wir uns kennenlernten. Valerie fragte mich ganz genau über meine Recherchen aus und war sehr interessiert daran, was ich bezüglich meines Großvaters herausgefunden hatte. Auch meine Enttäuschung konnte sie gut verstehen.
»Mir gefällt deine Beharrlichkeit. Obwohl du kaum Chancen auf Erfolg siehst, verfolgst du jede auch noch so kleine Spur.« Ihre Stirn kräuselte sich nachdenklich. »Mein Vater Aaron ist da ähnlich gestrickt wie du«, verriet sie mir. »Er hat sich auf der Suche nach meiner Großmutter auch nicht unterkriegen lassen.«
»Deine Großmutter hat für die Maquisards gearbeitet, richtig?«
»Du hast mir aufmerksam zugehört«, sagte sie, sichtlich erfreut, dass ich mich noch daran erinnerte. »Mein Vater hat sie leider nicht kennengelernt. Er ist bei Pflegeeltern aufgewachsen. Sie waren gute Menschen, aber nicht besonders herzlich. Meinem Vater ist es nie gelungen, wirklich warm mit ihnen zu werden. Wahrscheinlich hat er deswegen nach seinen Wurzeln gesucht. Jedes Mal, wenn wir in den Sommerferien in der Provence waren, hat er sich auf die Suche nach Gigis Vergangenheit gemacht, bis er irgendwann einen Überlebenden des Netzwerks ausfindig gemacht hat, das meiner Großmutter damals Unterschlupf geboten hat. Er fand nicht allzu viel heraus, nur dass sie eine deutsche Jüdin war und knapp einer Säuberungsaktion durch die Lyoner Gestapo entgangen ist. Sie hat meinen Vater bei Bauersleuten in den Bergen des Vercors zur Welt gebracht und ist dann in Richtung Meer geflüchtet, um sich dort den Maquisards anzuschließen. Bei einem ihrer Einsätze wurde sie von den Deutschen aufgegriffen und später erschossen. Mein Vater, der in der Obhut von Freunden geblieben ist, wurde nach ihrem Tod zu den Pflegeeltern nach Aix-en-Provence gebracht, die sich um ihn kümmerten. C’est tout.« Sie lächelte mir zu.
»Deine Großmutter war eine sehr mutige Frau. Du kannst wirklich stolz auf sie sein.«
»O ja! Das bin ich …« Sie zog die Nase kraus. »Und ich wünschte, ich hätte etwas mehr von ihr geerbt!« Valerie wurde plötzlich nachdenklich. »Ich hätte sie wirklich gern kennengelernt.«
»Da haben wir ja etwas gemeinsam«, meinte ich. »Für mich ist mein Großvater auch sehr wichtig, obwohl ich ihn nicht kannte. Seit ich mich erinnern kann, ist er in mir lebendig. Adèle hat nur Gutes über ihn erzählt. Durch ihre Beschreibungen ist er für mich zu meinem Vorbild geworden. Immer wenn ich als Kind einen Rat brauchte, sagte Adèle mir, dass mein Großvater die Sache sicher so oder so geregelt hätte. Manchmal hatte ich das Gefühl, er lebt als unsichtbares Familienmitglied bei uns.«
»Und was ist mit deinem Vater?«, wollte Valerie wissen.
Ich zuckte abfällig mit den Schultern. »Mein Erzeuger hat meine Mutter verlassen, kaum dass ich auf der Welt war. Ich habe ihn nie richtig kennengelernt. Ich glaube, Isabelle und er waren auch nicht besonders lange zusammen, bevor das mit mir passierte.« Als ich ihren bedauernden Blick sah, versicherte ich ihr, dass ich ihn nie vermisst hatte.
»Es ist schon seltsam, wie die Geschichte unserer Großeltern unsere Gegenwart bestimmt«, sinnierte Valerie.
Damit traf sie genau das, was auch mir im Kopf herumging. Wahrscheinlich war ich nur Historiker geworden, weil mich dieser Umstand faszinierte. Unser Gespräch nahm nun eine sehr persönliche Wendung. Valerie begann, von ihrer Familie und Kindheit zu erzählen, und ich von meiner. Je länger wir uns unterhielten, desto näher fühlte ich mich ihr. Ich hatte das Gefühl, mit ihr über alles reden zu können, was mir wichtig war. Unsere Gespräche waren so angeregt, dass wir die Zeit vergaßen und gar nicht mitbekamen, wie sich die Fahrt unserer Yacht verlangsamte, weil der Wind nachgelassen hatte. So etwas kam auf dem Bodensee wohl häufig vor.
Da wir es nicht besonders eilig hatten, ließen wir das Boot ein wenig vor sich hindümpeln. Wir hatten die Seemitte gerade überschritten und hielten nun Kurs in Richtung Langenargen. Durch den mangelnden Wind wurde die Luft wieder drückender, deshalb schlug ich vor, ein Bad zu nehmen. Doch Valerie lehnte ab, nachdem sie einen Blick auf das Schweizer Ufer geworfen hatte.
»Da zieht ein Unwetter auf.« Sie kräuselte besorgt die Stirn.
»Das sind doch nur ein paar Wolken und noch dazu sehr weit weg.« Ich verstand nicht, was sie meinte.
»Die werden schneller hier sein, als uns lieb ist.« In Valerie kam plötzlich Bewegung. »Los! Lass das Vorsegel runter. Ich werde das Großsegel schon mal reffen.«
»Ist das nicht etwas übertrieben?«
Es regte sich kein Lüftchen, und der Himmel sah auch nicht wirklich bedrohlich aus.
»Ich bin hier der Kapitän«, gab sie sehr bestimmt zurück und machte sich an die Arbeit.
Schulterzuckend tat ich, was sie von mir verlangte. Ich ließ das Vorsegel herab, sobald sie das Boot in den Wind gedreht hatte. Kaum hatte ich es unten, änderte sich das Wetter. Der Wind frischte mit einem Mal auf und fing sich in dem Großsegel, das Valerie noch reffte. Ich übernahm ihre Aufgabe, damit sie sich wieder an die Pinne setzen konnte, um das Boot weiter im Wind zu halten. Der Wind wurde immer stärker und unberechenbarer, und ich begriff plötzlich, weshalb der Bodensee auch das Schwäbische Meer genannt wurde. An bestimmten Punkten des Ufers blinkten bereits die Sturmwarnleuchten mit ihrem orangefarbenen Licht auf. Die eben noch so friedlich dahinplätschernde Seeoberfläche wurde vom Wind aufgewühlt, das Wasser bäumte sich zu kurzen, unangenehmen Wellen auf. Die Sonne verschwand hinter einem bleiernen Wolkenvorhang.
»Wir müssen versuchen, so schnell wie möglich das Ufer zu erreichen«, rief mir Valerie zu. »Wenn der Wind noch stärker wird, muss ich abfallen und den Kurs ändern, sonst laufen wir Gefahr zu kentern.«
Sie hielt auf den nächstgelegenen Punkt an Land zu, was bedeutete, dass wir hart am Wind segeln mussten. Als eine heftige Bö uns erfasste, legte sich der Schärenkreuzer so schief, dass ich beinahe das Gleichgewicht verloren und über Bord gegangen wäre. Valerie reagierte sofort und fiel ab, indem sie das Boot aus dem Wind nahm. Jetzt verstand ich, weshalb sie die Segelfläche vermindert hatte. Wären wir noch voll betakelt gewesen, wären wir sicherlich gekentert. In den nächsten Minuten näherte sich die dunkle Wolkenwand in gefährlichem Tempo. Die eben noch so heitere, sonnige Sommerstimmung war zu einem bedrohlichen Szenario geworden. Auf dem neuen Kurs lag der Schärenkreuzer trotz des aufbrausenden Windes und der unangenehmen Wellen jedoch sicher im Wasser. Valerie saß mit voller Aufmerksamkeit an der Pinne und betätigte, wenn nötig, die Großschot. Ich saß mehr oder weniger untätig daneben und hoffte nur, dass wir rechtzeitig das Ufer erreichten.
Der erste Donnerschlag fuhr mir durch Mark und Bein. Ich muss offen zugeben, dass ich Angst hatte, während Valerie uns weiter hochkonzentriert und mit bewundernswerter Ruhe durch das Unwetter steuerte. Erst als sie mir aufmunternd zulächelte, fiel mir auf, dass auch sie ziemlich angespannt war. Kurz darauf setzte ein Platzregen ein, der uns sofort bis auf die Haut durchnässte. Trotz der Schwimmwesten wurde es empfindlich kalt. Aus dem Starkwind war ein regelrechter Sturm geworden. Um das Boot nicht noch mehr in Schieflage zu bringen, sahen wir uns gezwungen, noch weiter abzufallen und damit den Kurs zu ändern.
Statt direkt aufs Land zuzusteuern, fuhren wir nun parallel dazu. Wir waren dem Ufer schon sehr nah gekommen, doch dann wurde der Regen so stark, dass zumindest ich jegliche Orientierung verlor. Das Wasser sammelte sich im Boot, und Valerie schrie mir durch das Geknatter der Segel und den platschenden Regen zu, ich solle damit beginnen, es mit einem Gefäß aus dem Rumpf zu schöpfen. Ich war dankbar, eine Aufgabe zu haben, und machte mich wie ein Wilder daran, um meine Angst zu besänftigen. Um uns herum tobte ein wildes Inferno. Blitz, Donner, Regen, ständig wechselnde Windböen. Irgendwann ließ sich das Boot nicht mehr richtig steuern. Valerie versuchte immer wieder, einen Kurs zu halten, doch das Ufer war längst aus unserem Sichtfeld gekommen, und wir hatten die Orientierung verloren.
»Wir müssen abwettern und das Segel ganz herunterholen«, schrie Valerie gegen den tosenden Wind an. »Mach die Schot los und hol das Großsegel ein.« Ich kroch zum Mast, um das Kommando auszuführen. Doch irgendetwas hatte sich am Niederholer des Segels verhakt. Es gelang mir einfach nicht, das Seil zu lösen. Valerie, die versuchte, das Boot im Wind zu halten, damit kein Druck auf das Segel kam, ließ für einen Augenblick die Pinne los, um mir zu helfen. Sie schaffte es tatsächlich, das Seil zu lösen. Das Segel ließ sich nun, mit etwas Mühe, aber dennoch herunterziehen. Sie überließ mir die Aufgabe und begab sich zurück zum Steuer.
Bevor sie es erreichte, drehte jedoch der Wind. Ich versuchte noch, den Großbaum zu halten, doch der änderte mit Gewalt seine Richtung und traf Valerie am Hinterkopf. Durch den heftigen Schlag geriet sie aus dem Gleichgewicht und wäre über Bord gefallen, hätte ich sie nicht im letzten Augenblick noch am Kragen ihrer Schwimmweste zu fassen bekommen und zurück ins Boot gerissen. Keuchend lag ich über ihr und stellte voller Entsetzen fest, dass der Schlag sie außer Gefecht gesetzt hatte. Mit flatternden Augenlidern lag sie auf dem Rücken und war nicht ansprechbar. Über uns führte der Großbaum sein Eigenleben. Er schlug unkontrolliert mit dem fast heruntergezogenen Großsegel hin und her. Ich war ratlos. Was sollte ich tun? Wir hatten immer noch Fahrt, jedoch die Kontrolle über das Boot verloren.
Voller Panik stellte ich fest, dass Valerie das Bewusstsein verloren hatte. Immer wieder versuchte ich, sie mit leichten Schlägen auf die Wange zurückzuholen. Dann endlich schlug sie die Augen auf und starrte mich verwirrt an. Ich war so erleichtert, dass ich ihr spontan einen Kuss auf den Mund drückte. Ihre Lippen waren eiskalt. Ihrem verwunderten Blick folgte ein kurzes Lächeln. Sie versuchte, sich aufzurichten, sank jedoch mit einem leichten Stöhnen wieder zurück. Der Großbaum schlenkerte immer noch unkontrolliert über unseren Köpfen hin und her.
»Wir müssen das Segel ganz runterholen«, sagte Valerie schließlich. Ich half ihr, sich aufzusetzen. Sie brauchte eine Weile, um richtig zu sich zu kommen, dann biss sie die Zähne zusammen und raffte sich hoch. Mit letzter Kraft assistierte sie mir beim Einholen. Anschließend fixierte sie den Großbaum und setzte sich ans Steuer. »Uns bleibt im Augenblick nichts anderes übrig, als uns ohne Segel treiben zu lassen«, erklärte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Der Winddruck auf den Mast wird uns dennoch vorantreiben. Wir müssen nur darauf achtgeben, dass das Boot nicht beim Ablaufen einer Welle querschlägt, sonst kentern wir.«
Sie zeigte mir, was sie meinte, und übergab dann mir die Pinne, weil ihr schon wieder schwarz vor Augen wurde. Irgendwie gelang es mir, das Boot über Wasser zu halten. Keine Ahnung, wie lange wir so hilflos auf dem See trieben, aber irgendwann war das Gewitter über uns hinweggezogen, es trug auch den Starkwind mit sich fort. Erschöpft und froh, das Abenteuer überstanden zu haben, setzten wir wieder die Segel und nahmen Kurs auf unser Ziel. Valerie hatte eine ordentliche Beule am Kopf, doch sie behauptete, dass es nur halb so schlimm sei.
Mit einigen Stunden Verspätung trafen wir schließlich im Hafen von Langenargen ein. Dieter, der Besitzer der Leila, empfing uns mit großem Hallo und noch größerer Erleichterung. Er hatte sich bereits Sorgen gemacht und mit dem Gedanken gespielt, die Wasserschutzpolizei zu verständigen. Außerdem war er in Eile, da er am Abend noch einen wichtigen Termin in München hatte. Unsere späte Ankunft hatte auch seine Pläne durcheinandergebracht. Ursprünglich war vorgesehen, dass er uns nach Meersburg auf die Fähre bringen sollte, doch nun lief ihm die Zeit davon. Er bot uns an, uns ein Taxi zu bezahlen.
Doch kaum war Valerie an Land, geriet sie ins Straucheln. Es gelang mir gerade noch, sie aufzufangen, sonst wäre sie gestürzt. Ich half ihr, sich auf einen Poller am Kai zu setzen, und erzählte Dieter von ihrem Missgeschick.
»So etwas sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen«, meinte er besorgt und beugte sich sofort über sie. »Darf ich mal?« Er zog eine kleine Taschenlampe aus seiner Hosentasche und leuchtete damit in Valeries Pupillen. Mir fiel ein, dass Valerie erwähnt hatte, dass er Arzt war. Er machte einige Tests mit ihr und stellte ihr gezielte Fragen, auch, an was sie sich noch erinnern konnte. Glücklicherweise zeigte Valerie keinerlei Auffälligkeiten. Ihr war nur etwas übel und schwindlig.
»Du hast eine Gehirnerschütterung und musst dich möglichst sofort hinlegen«, stellte Dieter schließlich fest. »Nach ein paar Stunden Ruhe sollte es dir morgen schon deutlich besser gehen.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss leider schnell nach München, sonst würde ich mich selbst um euch kümmern.« Er überlegte kurz und machte dann einen Vorschlag. »Ich besitze eine kleine Ferienwohnung im Ort«, sagte er. »Die könnt ihr gern heute Nacht benutzen. Ich gebe euch den Schlüssel, und ihr werft ihn morgen einfach wieder in den Briefkasten.«
»Ich weiß nicht. Ich möchte eigentlich lieber nach Hause«, meinte Valerie schwach. Sie versuchte aufzustehen, musste jedoch gleich darauf würgen. Dieter sah mich an. »Es ist besser, wenn sie heute Nacht nicht allein bleibt. Hat sie jemanden, der auf sie aufpasst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Im Augenblick wohl nicht.«
»Dann solltet ihr mein Angebot besser annehmen.« Dieter griff in seine Jackentasche und reichte mir einen Schlüssel. »Ich fahr euch schnell zur Wohnung.«
»Ist das für dich okay?« Valerie sah mich unglücklich an. »Du hast doch bestimmt heute Abend noch etwas anderes vor.«
»Überhaupt nicht«, versicherte ich ihr. »Tante Adèle kommt gut ohne mich zurecht. Ich kümmere mich gern um dich!«
Valerie zögerte einen Moment, dann gab sie sich geschlagen.
Die Ferienwohnung lag im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses nicht weit vom See entfernt. Dieter zeigte uns schnell die Örtlichkeiten, dann verabschiedete er sich und ließ uns allein. Ich richtete Valerie auf dem großzügigen Sofa im Wohnzimmer ein gemütliches Lager her und inspizierte die Wohnung. Sie war nicht besonders groß, aber geschmackvoll eingerichtet. Von der Terrasse hatte man einen wundervollen Blick über den See. Als ich von meinem Rundgang zurückkam, fragte ich Valerie, ob sie etwas essen wollte. Doch sie war nur müde und hatte keinen Appetit. Ich bestellte uns dennoch eine Pizza. Dann rief ich Adèle an, um sie zu informieren.
Als die Lieferung schließlich kam, schlief Valerie tief und fest. Ich deckte sie zu und machte es mir auf einem Sessel neben ihrem Sofa bequem. Es war ein gutes Gefühl, Valerie in meiner Nähe zu spüren, auch wenn die Situation nicht so war, wie ich sie gern gehabt hätte. Fasziniert beobachtete ich von meinem Platz aus das Farbenspiel des Lichtes über dem See. Ein paar letzte Wolken ließen den Himmel in gelben, orangefarbenen und violetten Tönen erstrahlen, bevor die Sonne ganz verschwand und die Dunkelheit sich über den See senkte. Kurze Zeit später bemerkte ich, dass die Nacht gar nicht dunkel war, weil der Mond strahlend hell über dem Wasser stand und das Wasser silbrig glänzen ließ. Alles war friedlich und ruhig, sodass es kaum vorstellbar war, dass vor wenigen Stunden hier ein Gewittersturm getobt hatte. Fasziniert von dem Zauber der Nacht, bemerkte ich nicht, dass Valerie wieder wach wurde. Erst als sie sich aufrichtete, wurde ich aufmerksam. Im dunklen Raum war nur ihr Schemen zu erkennen, und als sie sich mir zuwandte, konnte ich ihre Augen leuchten sehen.
»Geht es dir besser?«
»Mir ist nicht mehr so übel. Nur mein Kopf brummt noch etwas.« Sie zog die Knie zu sich heran und stützte ihren Kopf darauf. »Danke, dass du bei mir geblieben bist«, sagte sie leise. »Es ist schön, jetzt nicht allein zu sein.«
Ihre Worte wärmten mein Herz. »Und ich bin froh, dass ich bei dir sein kann.« Ich wagte nicht, mich zu rühren, um den Zauber des Augenblicks nicht zu stören.
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn du dich ein wenig zu mir setzt?«, fragte sie unvermittelt. Mein Herz schlug schneller, als sie im nächsten Augenblick ihre Hand nach mir ausstreckte, und ich tat, was sie wünschte. Als ich neben ihr Platz genommen hatte, legte sie sich wieder hin und bettete ihren Kopf auf meinen Schoß. Dann schloss sie die Augen. Ich dachte schon, dass sie wieder eingeschlafen wäre, aber dann schlug sie sie wieder auf und ließ ihren Blick gedankenverloren an die Decke schweifen, wo er verharrte. Der Mond schien so hell, dass ich ihre feinen Gesichtszüge gut erkennen konnte, auch die Tränen, die sich in ihren Augen sammelten. »Es gibt Momente, in denen ich mich schrecklich verloren fühle und ganz schwach«, gestand sie mir. »Dann sehne ich mich nach jemandem, der mich auffängt.«
»Das kann ich gut verstehen«, antwortete ich unsicher. Ihre Offenheit rührte mich. Vorsichtig strich ich über ihre Wange. »Kein Wunder, dass du so durcheinander bist. Wir hätten heute um ein Haar Schiffbruch erlitten.«
Sie lächelte gequält. »Ich muss ganz schön was auf den Kopf bekommen haben, dass ich dir hier meine tiefsten Gefühle preisgebe …«
»Du glaubst gar nicht, was deine Worte mir bedeuten …«
Unsere Blicke begegneten sich und hielten einander fest. Im selben Augenblick, als ich mich zu ihr beugte, um sie zu küssen, spürte ich ihre Hand in meinem Nacken, die mich zu ihr zog.