Brégnier-Cordon, Lyon, Frankreich, Juni 1943

Seit dem entsetzlichen Vorfall in der Schlucht wurde Antoine von Albträumen geplagt. In diesen Träumen erschien ihm immer wieder der Junge, der erschossen worden war. Der Traum verlief immer gleich. Antoine trieb in einem Fischerboot auf einem tiefblauen Bergsee. In der Mitte des Sees gab es einen schroff aufragenden Felsen, auf dem eine Gestalt stand. Magische Kräfte, denen er sich nicht entziehen konnte, zogen ihn mit aller Gewalt auf den Felsen zu. Er besaß weder Steuer noch Ruder und war den Mächten des Wassers ausgeliefert. Immer schneller trieb das Boot auf den Felsen zu, dessen schroffe Spitze steil aus dem Wasser ragte. Doch nicht die Angst vor dem Zerschellen machte ihm zu schaffen, sondern der Junge, der mit seiner von dem Schuss zerfetzten Brust dastand und anklagend auf ihn zeigte. Er trug die Gesichtszüge seines Bruders Eric.

In dem Augenblick, als sein Boot an dem Felsen zerschellte, wachte er jedes Mal schweißgebadet auf. Danach war es ihm beinahe unmöglich, wieder in den Schlaf zu finden. Dementsprechend müde und abgeschlagen fühlte er sich und war bald nur noch ein Schatten seiner selbst. Seinen Kameraden konnte er sich nicht anvertrauen. Er fürchtete, dass ihn keiner verstehen würde. Im Gegenteil: Sie würden ihn für eine Memme halten, weil er sich mit unsinnigen Schuldgefühlen herumschlug. Keinem von ihnen schien der Vorfall besonders nahegegangen zu sein. Schon am Morgen danach hatten sie wieder Witze gerissen und waren zur Tagesordnung übergegangen, als wäre nichts geschehen.

Antoines Gewissen plagte ihn, also versuchte er, sich einzureden, dass es eine gerechte Sache gewesen war, für die er sich eingesetzt hatte. Wie ein Mantra wiederholte er jede Nacht vor dem Einschlafen diesen Satz, bis seine Schuldgefühle wenigstens hin und wieder in den Hintergrund traten. Er sagte sich, dass es nicht an ihm lag, darüber zu urteilen, was richtig und was falsch war. Er war nur ein Befehlsempfänger. Somit trug er auch keine Verantwortung. Trotzig schrieb er einen Brief an seine Schwester Adèle, worin er behauptete, dass sein Leben im Jura völlig ereignislos und langweilig sei. Sie durfte niemals erfahren, was wirklich ablief und welche Schuld er bereits auf sich geladen hatte. Diese Verdrängungstaktik zusammen mit seinem Entschluss, nie wieder die Menschen im Ort zu verraten, egal, was er über sie herausfand, bewirkte immerhin, dass seine Albträume nachließen. Seinetwegen sollte nicht nochmals ein Mensch ums Leben kommen.

Das brachte ihn jedoch in ein Dilemma. Sowohl Laval als auch der Obersturmführer erwarteten von ihm Erfolge. Wie lange würde er sie an der Nase herumführen können, bis sie merkten, dass er seiner Aufgabe als Spitzel nicht mehr effektiv nachging? Antoine versuchte, sich darüber möglichst wenige Gedanken zu machen. Also ging er weiterhin ins Wirtshaus und spielte mit dem Schmied, dem Lehrer und dem Pfarrer Karten. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass er sie verraten hatte. Als er kurze Zeit später wieder etwas von einer Flüchtlingsgruppe, die an Belley vorbeigeschleust wurde, mitbekam, behielt er die Neuigkeiten für sich. Ihm war jedoch klar, dass er damit auf Dauer nicht durchkommen würde. Capitaine Laval würde irgendwann auffallen, dass er zu nachlässig war. Hinzu kam, dass er schon bald in Lyon erwartet wurde, um dem Obersturmführer Bericht zu erstatten. Georges hatte ihm mehr als einmal klargemacht, dass Barbie die Freilassung seiner Brüder nur dann unterstützen würde, wenn er im Gegenzug dafür etwas erhielt. Über kurz oder lang würde er sich etwas einfallen lassen müssen, um ihm Informationen zu liefern, die ihn befriedigen würde.

Doch dann zog Laval ihn plötzlich von seinen Aufgaben ab. Er war wohl zu der Überzeugung gelangt, dass es keinen Zweck mehr hatte, ihn weiter als Spitzel im Ort einzusetzen. »Sie sind verbrannt«, teilte ihm der Kommandant seiner Truppe mit. »Wahrscheinlich ahnen Ihre Zechkumpane, dass Sie sie verraten haben. Versuchen Sie Ihr Glück weiter weg auf dem Land. Dort kennt man Sie noch nicht.«

Wenig später wurde er mit Flambert in einen kleinen Ort namens Brégnier-Cordon an der Rhône abkommandiert. Sie bezogen ein Zimmer in einem Gasthaus. Ihre offizielle Aufgabe war es, als Unterstützung der Gendarmerie für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. Inoffiziell sollten sie herausfinden, ob in der Gegend Aktivitäten des Maquis zu erwarten waren. Anfangs missfiel Antoine der Gedanke, ausgerechnet mit jenem Kameraden das Zimmer teilen zu müssen, der den armen Jungen erschossen hatte. Er hielt ihn für abgebrüht und skrupellos. Sein Kamerad war allerdings schweigsam und meist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Abends ging er seiner eigenen Wege. Wenn sie gemeinsam auf Patrouille gingen, konnte es sein, dass sie den ganzen Tag kein einziges Wort miteinander wechselten. Antoine war das recht. So hatte er wenigstens seine Ruhe.

Eines Tages, der Frühsommer zeigte sich von seiner schönsten Seite, legten sie auf einer der Bergwiesen eine Pause ein. Sie waren auf dem Weg nach Izieu, zu einem Weiler namens Lélinaz. Nachdem sie eine Weile ins Tal geblickt hatten, durchbrach Flambert überraschend sein Schweigen.

»Du hältst mich für einen Mörder, stimmt’s?«, hielt er ihm vor.

Antoine riss einen Grashalm aus, um für seine Antwort etwas Zeit zu gewinnen. »Nichts rechtfertigt, einfach auf Kinder zu schießen.« Er wich Flamberts Blick nicht aus.

»Glaubst du vielleicht, die Sache mit dem Jungen hat mich kaltgelassen?«, fragte Flambert mit versteinerter Miene. Sein Blick schien hart, doch seine Lippen bebten. »Ich hab mich nur verteidigt, als er auf mich einschlug. Das war Notwehr! Was hättest du denn an meiner Stelle getan?«

Antoine erschauderte. Mit einem Mal stand ihm die ganze Situation wieder vor seinem inneren Auge. Er sah den Jungen mit dem erhobenen Ast und hörte gleichzeitig den Schuss, der ihn zusammenbrechen ließ. Er musste zugeben, dass er nicht sicher sein konnte, wie er selbst reagiert hätte.

»Nichts rechtfertigt, einfach auf Kinder zu schießen«, wiederholte er dennoch trotzig. »Der Junge wollte nur sich und das kleine Mädchen retten.«

»Meinst du vielleicht, sein Tod ist mir egal?« Flambert schlug mit der Faust auf den Boden. Seine Augen sahen ihn gequält an. »Aber es sind keine Friedenszeiten!« Er ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. »Wenn wir nicht kämpfen, hört der beschissene Krieg nie auf, verstehst du?«

Antoine begriff, was er damit sagen wollte. Krieg war niemals gerecht. Auf beiden Seiten starben Unschuldige. Doch man war gezwungen, für die zu kämpfen, für die man sich entschieden hatte. Wie man damit fertigwurde, blieb jedem selbst überlassen.

»Ich verurteile dich nicht«, sagte er schließlich und erhob sich.

Flambert nickte ihm dankbar zu. Da nun alles zwischen ihnen gesagt war, folgten sie der Route, die sie sich für den Tag vorgenommen hatten. Mit einem Mal war das Eis zwischen ihnen gebrochen. Flambert wurde gesprächiger, und Antoine gelang es, seine Vorbehalte ihm gegenüber abzulegen. Vielleicht würden sie keine Freunde werden, doch nun wusste er zumindest, dass sein Kamerad auch ein Gewissen hatte.

Ein Stück weiter den Berg hinauf lag der Weiler, den sie inspizieren wollten. Dort waren seit einiger Zeit in einer alten Spinnerei Waisenkinder untergebracht. Rundherum gab es einige Heuschober, die sie in Augenschein nehmen sollten. Laval erwartete täglich einen Bericht über mögliche Flüchtlingsbewegungen.

»Ich bin froh, dass sie uns hierherversetzt haben«, vertraute Flambert ihm an. Mit einem Mal war er sehr leutselig. »Ich glaube nicht, dass wir besonders viel zu tun haben werden.« Er grinste vielsagend. Antoine überlegte, was er damit sagen wollte. Flambert blieb plötzlich stehen und nahm sein Käppi ab, um sich ausgiebig am Kopf zu kratzen. »Hast du was dagegen, wenn ich für ein, zwei Stunden von hier verschwinde?«, fragte er mit schief gelegtem Kopf.

Antoine hob erstaunt die Augenbrauen. »Einfach so?«

Flamberts Grinsen wurde breiter. »Ich kenne da eine hübsche Madame im Dorf, die auf mich wartet …« Antoine erfuhr, dass er schon seit zwei Wochen ein Verhältnis mit der Bäckerin von Brégnier-Cordon hatte. »Ihr Ehemann ist um diese Tageszeit unterwegs«, gestand er ihm. »Ich möchte die Gelegenheit gern nutzen, um ihr einen kurzen Besuch abzustatten, wenn du verstehst, was ich meine …«

Antoine gab nicht preis, wie verwundert er war. Sein Kamerad zeigte mit einem Mal ganz neue Seiten. Dass er ein Schürzenjäger war, hätte er ihm nicht zugetraut. »Dann mal viel Spaß«, verabschiedete er ihn.

Er hatte nichts dagegen, eine Zeit lang allein zu patrouillieren. Sie verabredeten sich in einigen Stunden am Brunnen des Dorfes und gingen getrennte Wege. Während Flambert sich wieder talwärts hielt, stieg Antoine weiter den Berg hinauf. Es war ein schöner, sonniger Tag, und die Luft war klar und rein. Wenn er noch ein Stück weiter hinauflief, würde er einen wunderschönen Blick auf das Massiv de la Chartreuse haben und dort ein wenig verweilen können. Er stieg immer höher, bis er von einem Aussichtspunkt aus unter sich den Weiler von Lélinaz liegen sah. Das musste die Kolonie sein, wie das Waisenhaus von der Bevölkerung genannt wurde. Daneben befand sich ein Bauernhof mit mehreren Gebäuden. Ein herrlicher Ort für Kinder.

Weiter im Hintergrund erblickte er die Kirche und einige Häuser des Dorfes Champagneux. Unterhalb des malerischen Felsdorfes lag die Rhône und rechts davon der See von Pluvis. Eingerahmt wurde alles von dem mächtigen Gebirgszug der Chartreuse. Antoine genoss den wunderbaren Ausblick und nutzte die Gelegenheit, sich ein wenig auszuruhen. Kurz entschlossen legte er sich auf die Wiese und überließ seinen Blick dem wolkenlosen Himmel über sich, bis ihn eine wohlige Schläfrigkeit erfasste.

Er musste für eine Weile eingenickt sein, denn plötzlich hörte er nicht weit entfernt von sich Kinder ein beliebtes Frühlingslied singen, das ihn an seine Jugend erinnerte. Mit einem Mal mischte sich in den Gesang eine Frauenstimme, die dem Lied ungemein kraftvoll eine besondere Nuance verlieh. Die Sängerin begleitete nicht nur den Gesang der Kinder, sie verlieh ihm etwas Gefühlvolles, wie er es noch nie gehört hatte. Antoine, den die Welt der Musik schon als Junge berührt und nie wieder losgelassen hatte, erkannte sofort, dass diese Stimme professionell geschult worden war. Der Sopran hatte trotz seiner Klarheit ein schönes, weiches Timbre. Gebannt blieb er liegen und lauschte den hinreißenden Klängen. Nicht weit von ihm ließ sich die Gruppe nieder. Weder die Kinder noch die wundervolle Sängerin hatten ihn bislang entdeckt. Das gab ihm die Gelegenheit, die Vorführung zu genießen, bis das Lied zu Ende war. Erst danach erhob er sich, um sich bemerkbar zu machen.

Keine fünfzig Meter von ihm entfernt saßen etwa zehn Kinder in einem Kreis und schickten sich an, ein Spiel zu spielen. Als eines von ihnen ihn erblickte, warnte es seine Begleiterin, die mit dem Rücken zu ihm saß. Die Angesprochene wandte sich überrascht um. Als sie seine Uniform bemerkte, sah er, wie sie erschrak und den Kindern etwas zuraunte. Da er noch zu weit weg war, verstand er nicht, was. Einige der Kleinen sprangen sofort auf und sahen sich furchtsam um. Da er dachte, dass sie sich vor seinem Gewehr fürchteten, legte er es demonstrativ auf den Boden und hob friedfertig die Arme.

»Tout va bien!«, rief er. »Alles in Ordnung!«

Die junge Frau gab den Kindern ein Zeichen, woraufhin sie sich wieder niederließen. Dann stand sie auf und kam ihm mit einem verhaltenen Lächeln entgegen.

»Bonjour«, begrüßte sie ihn zögerlich. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn wir uns hier ein wenig aufhalten.« In ihrer Stimme erkannte er das weiche Timbre ihres Gesangs wieder. Außerdem fiel ihm auf, wie hübsch sie war. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig. Hübsche braune Locken umrahmten ein fein geschnittenes Gesicht mit einer Stupsnase. Die großen hellen Augen blickten wachsam, fast misstrauisch. Als die Frau sah, wie seine Augen den Korb an ihrem Arm streiften, fühlte sie sich sofort bemüßigt, ihm zu erklären, was darin war. »Wir sammeln mesclun, Kräuter und junge Salatblätter.«

Erst jetzt bemerkte Antoine den charmanten Akzent, der nur schwer einzuordnen war. »Sie müssen sich hier für nichts rechtfertigen! Es war nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken«, beeilte er sich zu versichern. »Ich war nur so beeindruckt von Ihrem wundervollen Gesang.«

»Die Kinder lieben es zu singen«, antwortete die junge Frau mit einem Anflug von Röte. »Es tut mir leid, wenn wir Sie gestört haben.«

»Aber das haben Sie ganz und gar nicht!« Antoine fand die Art, wie sie sich ständig für alles entschuldigte, bezaubernd. »Sie haben eine wunderschöne Stimme, Mademoiselle, wenn ich das bemerken darf.«

Ihre Miene verdunkelte sich. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Caporal«, antwortete sie steif. Offenbar war er zu forsch gewesen. Plötzlich hatte sie es eilig. »Wenn Sie uns bitte entschuldigen. Wir wollten ohnehin gerade aufbrechen.«

Sie nickte ihm kurz zu und rief die Kinder zusammen, die sich sofort gehorsam um sie herum versammelten. Antoine hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, weil er es sich mit der hübschen jungen Frau verscherzt hatte. Wie konnte er auch ahnen, dass sie so empfindlich war. Auf keinen Fall wollte er sie so einfach wieder ziehen lassen.

»Gehören Sie und die Kinder zum Waisenhaus?«, rief er ihr hinterher. »Wenn Sie wollen, kann ich Sie ein Stück begleiten. Ich muss ohnehin runter ins Dorf.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte die Frau nicht sehr begeistert.

Auch die Kinder wirkten verunsichert. Einige musterten ihn sogar ängstlich, als er sein Gewehr wieder aufnahm und sich ihnen anschloss. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher. Ihm fiel auf, dass die Kinder es vermieden, miteinander zu reden. Wahrscheinlich hatten sie Angst vor ihm. Das tat ihm leid.

»Wie wär’s, wenn wir zusammen ein Lied singen würden?«, schlug er ihnen deshalb vor. »Vielleicht Alouette?«

Da keine Reaktion kam, fing er einfach an, das Volkslied von der kleinen Lerche zu singen.

»Alouette, gentille alouette, alouette, je te plumerai. Je te plumerai la tête, je te plumerai la tête. Et la tête, et la tête. Alouette, Alouette, aah!«

Die ersten beiden Strophen sang er allein. Keines der Kinder wagte, in das bekannte Lied mit einzustimmen, obwohl sie es mit Sicherheit alle kannten. Um sie zu animieren, untermalte er das Lied pantomimisch. Er gebärdete sich wie ein kleiner gerupfter Vogel und sprang immer wieder erschreckt in die Höhe. Seine Albernheit lockerte die Stimmung endlich, und er hörte vereinzeltes Kichern. Als auch die Betreuerin laut auflachte, war der Bann gebrochen.

Antoine begann noch einmal, das Lied zu singen, und dieses Mal stimmten alle mit ein. Danach sangen sie Les trois jeunes tambours, das er ebenfalls mit ausdrucksvollen Gesten und wechselndem Mienenspiel untermalte. Die junge Frau übernahm sofort die zweite Stimme. Ihr glockenheller Klang ergänzte seinen wohlklingenden Bariton, als hätte er eine instrumentale Begleitung. Die Kinder klatschten begeistert, nachdem sie fertig waren. Mit einem Mal war die angespannte Stimmung zwischen ihnen wie aufgelöst, und alle lachten befreit.

»Ich bin Antoine«, stellte er sich vor. »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu singen, Mademoiselle.«

»Und ich heiße Marguérite.« Ihr Lächeln war nun offen und unbefangen, was sie noch hübscher machte. Dabei fielen ihm die sternförmigen Grübchen auf ihrer Wange auf. »Sie singen ebenfalls nicht schlecht«, lobte sie ihn.

»Für mich gibt es nichts Schöneres als Musik«, schwärmte Antoine und fühlte sich dabei so leicht wie schon lange nicht mehr. Er freute sich, dass er in Marguérite eine Gleichgesinnte gefunden hatte. »Sobald der Krieg vorüber ist, möchte ich nach Paris, um dort mein Glück als Musiker zu versuchen.«

»Das ist eine wirklich sehr schöne Idee«, bemerkte sie zurückhaltend.

Er war sich nicht sicher, ob sie seine Pläne wirklich interessierten, dennoch erzählte er sofort freimütig. »Mein Traum ist es, auf den Bühnen von Paris mit meinem Akkordeon aufzutreten und meine eigenen Lieder vorzutragen. Außerdem möchte ich nebenbei Komposition studieren. Ich hab so viele Lieder in meinem Kopf, die ich in eine richtige Form bringen möchte, und auch eine Idee für ein Musical, selbst wenn das jetzt etwas hochtrabend klingen mag.«

Marguérite hörte ihm interessiert zu und stellte immer wieder Fragen, die ihm zeigten, wie viel sie von Musik verstand. Im Nu fachsimpelten sie über unterschiedliche Musikrichtungen und ihre persönlichen Vorlieben. Dann versuchte er, sie ein wenig auszufragen, und erfuhr, dass sie in klassischem Gesang ausgebildet worden war. Als er wissen wollte, wo, antwortete sie enttäuschend einsilbig.

»Ich hatte in meiner Mutter eine begabte Lehrerin«, antwortete sie zurückhaltend. »Sie hat meine Liebe zur Musik immer gefördert.«

»Dann hatten Sie mehr Glück als ich«, musste sich Antoine begnügen. »Mein Vater bestand darauf, dass ich das Handwerk eines Uhrmachers erlerne, weil das in meiner Familie so üblich ist. Wären meine Brüder nicht immer noch in Kriegsgefangenschaft, wäre ich schon längst in Paris.«

»Ihre Brüder sind in Kriegsgefangenschaft?«, entfuhr es Marguérite erstaunt.

»Sie waren Soldaten im Krieg«, beeilte er sich zu sagen, damit sie nicht dachte, sie gehörten zur Résistance. »Mir wurde versprochen, dass sie freikommen, sobald sie bestätigen, dass sie die Vichy-Regierung unterstützen.«

Marguérite quittierte das mit einem verhaltenen Lächeln. Ihre Aufmerksamkeit wurde durch eines der Kinder abgelenkt, das etwas von ihr wollte. Sie ging in aller Ruhe auf seine Bedürfnisse ein, womit ihr anregendes Gespräch ein Ende fand. Wenig später kamen sie an eine Wiese, auf der ein Bauer gerade mit einer Sense Gras mähte. Sobald er sie beide mit den Kindern sah, legte er sein Werkzeug nieder und schritt zielstrebig auf sie zu.

»Marguérite! Du kommst mich besuchen!«, begrüßte er sie, als hätte er sie längst erwartet.

Antoine betrachtete den derben Mann und fragte sich, in welchem Verhältnis er zu ihr stand. Als er versuchte, ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange zu geben, wich Marguérite einen Schritt zurück und hielt ihn mit ausgestreckten Armen auf Abstand.

»Bonjour, Lucien«, antwortete sie deutlich reserviert.

Antoine stellte sich demonstrativ neben sie, um dem Bauern zu zeigen, dass er die junge Frau zu respektieren hatte. Das zog sofort dessen Aufmerksamkeit auf ihn.

»Was hat denn die Miliz hier zu suchen?«, erkundigte er sich feindselig. Und an Marguérite gewandt: »Macht er dir Ärger?«

»Niemand macht hier Ärger«, stellte Antoine sofort klar. Ihm ging die aufdringliche Art des ungehobelten Kerls gehörig auf die Nerven. »Ich hoffe, Sie machen auch keinen!«

»Was will er dann von dir?«, grunzte Lucien.

»Wir sind uns zufällig auf der Bergwiese begegnet. Er begleitet uns ein Stück des Weges«, erwiderte Marguérite.

Der Bauer zeigte sein Missfallen, indem er Antoine nicht weiter beachtete. Stattdessen wandte er sich erneut an Marguérite. »Du schuldest mir noch eine Antwort wegen dem Scheunenfest.« Er grinste selbstgefällig. »Du gehst doch mit mir hin?«

»Wahrscheinlich brauchen mich die Kinder«, antwortete Marguérite ausweichend.

»Dann rede ich eben mit Zlatin. Der wird dich schon gehen lassen, wenn ich ihm das sage. Schließlich tue ich ihm einen großen Gefallen, indem ich den Jungen durchfüttere, obwohl er faul und verfressen ist wie alle verdammten Juden.« Mit einem provozierenden, schon fast hinterhältigen Blick streifte er erst die junge Frau und dann Antoine. »Ich weiß schließlich, was sich für einen anständigen Christenmenschen gehört!«

»François gibt ganz bestimmt sein Bestes«, verteidigte Marguérite den Jungen, um den es zu gehen schien. Antoine spürte förmlich, wie verärgert sie war. Der Kerl war wirklich unverschämt. »Und mit Miron werden Sie nicht über mich sprechen. Ich entscheide selbst, ob und mit wem ich auf das Fest gehe.« Ihre Augen hielten den Bauern funkelnd auf Abstand, was er endlich zu begreifen schien. Sie warf ihm einen letzten ungnädigen Blick zu und wandte sich zum Gehen. Antoine wollte ihr folgen. Doch sie hielt auch ihn auf Abstand. »Den Rest des Weges finden die Kinder und ich allein«, erklärte sie unmissverständlich.

Damit ließ sie nicht nur ihren grobschlächtigen Verehrer, sondern auch ihn einfach stehen.

Als Marguérite den Weiler von Lélinaz erreichte, war sie froh, dass keiner der beiden Männer ihr gefolgt war. Lucien Bourdon war wirklich ein unangenehmer, aufdringlicher Typ. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um ihn auf Dauer auf Abstand zu halten. Der Kerl bildete sich aus unerfindlichen Gründen ein, dass er bei ihr Eindruck machen konnte. Zum Glück war dieser Antoine in ihrer Nähe gewesen und hatte Schlimmeres verhindert. Eigentlich schade, dass er auf der falschen Seite steht, dachte sie mit einem leisen Bedauern. Er war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Nur selten hatte sie sich mit einem Mann besser unterhalten, und sie teilten ihre Freude an der Musik.

Im nächsten Augenblick schämte sie sich für ihre Gedanken. Menschen wie Antoine waren ihre Feinde. Sie verachteten Juden und arbeiteten mit den Nazis zusammen. Sie musste plötzlich wieder an Clara, Mechthild und Samuel denken, die sich womöglich schon auf dem Weg in eines der deutschen Konzentrationslager befanden. Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Sie verbot sich selbst, weiter an die Kinder zu denken. Wichtiger war es, dass sie Miron und Sabine erzählte, dass sich nun auch in dieser Gegend Milizionäre herumtrieben. Sie übergab die Kinder in die Obhut einiger älterer Mädchen und machte sich auf die Suche nach den Zlatins.

Marguérite fand Miron in der Scheune bei ihrem Gast. Er hatte ihn ein paar Tage zuvor in der Nähe einer Schlucht aufgefunden und mit nach Izieu gebracht. Der nicht mehr ganz junge Mann war durch eine Schusswunde schwer verletzt worden und ganz offensichtlich auf der Flucht. Sabine war anfangs furchtbar wütend gewesen, weil Miron sie alle, vor allem die Kinder, in Gefahr brachte. Doch da der Verletzte ohnmächtig gewesen war, hatte auch sie einsehen müssen, dass er ihrer Hilfe bedurfte. Sie hatten ihn in der Sattelkammer untergebracht, damit seine Anwesenheit von niemandem bemerkt wurde. Léons Schwester Suzanne kümmerte sich um ihn. Als Ärztin wusste sie, wie man mit einer Schussverletzung umging. Es war ihr gelungen, die Kugel, die sich nahe dem Herzen in die Schulter des Mannes gebohrt hatte, zu entfernen. Doch die Verletzung war so schwer gewesen, dass der Verwundete mehrere Tage um sein Leben gekämpft hatte.

Hauptsächlich Marguérite hatte sich in dieser Zeit um ihn gekümmert. Erst seit dem Vorabend war sein Fieber deutlich gesunken, und er war wieder ansprechbar. Nun wussten sie, dass er Schweizer war und Pirmin hieß. Als der Verletzte Marguérite erblickte, richtete er sich auf, obwohl er sichtlich Schmerzen hatte. Sein linker Arm war mittels einer Schlinge an seinen Körper gebunden.

»Meine Retterin«, begrüßte er sie erfreut. »Jetzt kann ich mich endlich auch bei dir bedanken!«

»Miron und Suzanne haben dir das Leben gerettet«, wehrte Marguérite ab. »Geht es dir besser?«

»Ich fühle mich fast wie neugeboren.« Pirmin grinste und fuhr sich mit der unverletzten Hand durch sein strubbeliges graues Haar. Der Schweizer erinnerte Marguérite ein wenig an ihren Vater.

»Du bist ja ganz schön übermütig.« Sie lachte, während sie ihn mit sanfter Gewalt wieder zurück in sein Kissen drückte. »Denk an deine Wunde. Sie ist immer noch nicht ganz verschlossen!«

»Mir geht’s heute schon wieder richtig prächtig«, behauptete der Schweizer in seinem unverwechselbaren Dialekt. »Ich bin euch schon viel zu lange hier zur Last gefallen. Außerdem muss ich noch etwas erledigen.« Seit Pirmin wieder bei Bewusstsein war, war er von dem Gedanken besessen, möglichst schnell wieder aufzubrechen. Er arbeitete für eine Fluchtorganisation in seiner Heimat und führte regelmäßig heimlich Flüchtlinge von Frankreich in die Schweiz. Bei seiner letzten Aktion, bei der er eine Gruppe jüdischer Kinder und Jugendliche in Empfang nehmen wollte, waren sie verraten und von einer Miliztruppe abgepasst worden. Es hatte einen Toten und mehrere Verletzte gegeben. Die meisten Kinder hatten glücklicherweise entkommen können, doch er war dabei angeschossen und schwer verletzt worden. Ein Stück weit hatte er die Kinder noch auf den Weg bringen können, dann war er infolge seiner Verletzung zusammengebrochen und gezwungen gewesen zurückzubleiben. Jetzt machte er sich schwere Vorwürfe. »Ich bin doch für die Kinder verantwortlich!«, fuhr er gequält fort. »Die Armen irren seit Tagen hilflos in den Wäldern umher, wenn man sie nicht längst schon aufgegriffen hat.«

Miron hatte sich am Vortag kurz entschlossen mit Léon auf den Weg gemacht, um die Kleinen aufzuspüren. Er war gerade erst zurückgekehrt und hatte die Sattelkammer betreten, um zu berichten.

»Wir haben von den Kindern keine Spur mehr gefunden, und auch von offizieller Seite gibt es nichts zu berichten«, erzählte er Marguérite. »Es ist nicht das, was wir uns erhofft haben, doch es bedeutet immerhin, dass sie nicht aufgegriffen wurden. Wahrscheinlich haben sie längst den Ort erreicht, den Pirmin ihnen genannt hat. Wäre es anders, hätte einer unserer Kontaktleute bestimmt Wind davon bekommen.«

Pirmin war dennoch nicht beruhigt. »Aber selbst wenn es so ist, können sie dort nicht ewig bleiben. Ich muss ihnen unbedingt nach.«

»Jetzt musst du erst einmal zu Kräften kommen«, widersprach Marguérite. »Außerdem ist es im Moment viel zu gefährlich da draußen. Ich bin gerade einem patrouillierenden Milizionär begegnet. Er hat mir erzählt, dass sie zu zweit in unsere Gegend beordert wurden. Sie haben Quartier in Brégnier-Cordon bezogen und sollen die örtliche Gendarmerie unterstützen. Ich konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten, mich hierher zu begleiten.« Sie berichtete von ihrer Begegnung mit Antoine. »Immerhin war er freundlich und den Kindern zugetan«, fügte sie noch hinzu. »Er hat sogar mit ihnen gesungen und Späße gemacht.«

Mirons Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Also hat er sich auch mit ihnen unterhalten«, stellte er besorgt fest. Marguérite erschrak. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Einige der Kinder sprachen nicht besonders gut französisch und hatten mit Sicherheit einen Akzent, der sie verraten haben konnte. Doch ihr Gefühl weigerte sich zu glauben, dass von Antoine eine Gefahr ausging. »Ich glaube nicht, dass er etwas bemerkt hat«, behauptete sie. »Wir müssen uns ohnehin etwas ausdenken, denn er oder sein Kamerad werden sicher in nächster Zeit wieder hier auftauchen.« Sie wollte gerade vorschlagen, dass sie behaupten könnten, einige der Kinder hätten lange Zeit in der Schweiz gelebt, als Sabine den Raum betrat. Sie trug noch Hut und Mantel und sah ziemlich erschöpft aus, denn sie war gerade von einer zweitägigen Reise aus Montpellier zurückgekehrt, wo sie den Hauptsitz des Kinderhilfswerks, für das sie arbeitete, besucht hatte.

»Ich habe schlechte Nachrichten«, verkündete sie mit müder Stimme und sah traurig in die Runde. »Es geht um die Kinder und Jugendlichen aus der Schlucht«, fügte sie leiser hinzu. Sie vermied es, Pirmin anzusehen. »Sie wurden alle von den Milizen aufgegriffen. Ich weiß es von Wiltzer. Er hat es mir verraten, als ich auf meinem Heimweg noch rasch bei ihm vorbeigeschaut habe.« Sie holte tief Luft. »Man fand sie in einer Hütte, wo sie offenbar auf jemanden warteten. Sie sind bereits auf dem Weg nach Drancy. Keines der Kinder konnte entkommen.«

Es folgte ein bedrücktes Schweigen. Jeder von ihnen brauchte seine Zeit, um zu begreifen, was das bedeutete. Drancy war ein Durchgangslager. Von dort wurden alle Juden nach Polen deportiert, was gleichbedeutend mit ihrem Tod war. Jeder der Anwesenden hatte von den sogenannten Vernichtungslagern in Auschwitz gehört. Keiner kam von dort jemals zurück. Pirmin vergrub das Gesicht in seiner Hand, ihm entfuhr ein tiefer Schluchzer. Obwohl er die Kinder nicht gekannt hatte, empfand er ihr Schicksal wie einen persönlichen Verlust. Auch Miron ging die Sache sehr nah. Er sprang plötzlich auf und begann, rastlos im Raum hin und her zu tigern. Bei jedem Schritt wurde er ein wenig wütender. Marguérite gingen ihre kleinen Reisegefährten durch den Kopf. Sie kämpfte ebenfalls mit den Tränen. Nur Sabine blieb auffallend ruhig.

»Ich werde dafür sorgen, dass diese verdammten Nazischweine dafür bezahlen müssen«, platzte es unvermittelt aus Miron heraus. »Ich werde keinen Tag länger mehr untätig herumsitzen und mich endlich Gaston und seiner Gruppe anschließen. Das hätte ich schon längst tun sollen!«

Seine Ankündigung brachte Sabine nun doch aus der Ruhe. Marguérite sah ihr Entsetzen, auch wenn sie es zu verbergen versuchte. Gaston war der Deckname des Anführers der hiesigen Résistance-Gruppe. Seine Anhänger hatten sich erst kürzlich radikalisiert und erstmals Anschläge auf Eisenbahnlinien und Transportwege, die den Nazis nützlich waren, unternommen.

»Das kannst du nicht tun, Miron!«, brach es schließlich aus ihr heraus. »Wenn du dich Gaston anschließt, bringst du nicht nur dich in Gefahr, sondern uns alle hier. Du musst jetzt an das Wohl der Kinder denken und nicht an Rache. Wenn herauskommt, dass du etwas mit den Widerständlern zu tun hast, kann auch der Unterpräfekt nichts mehr für uns tun.«

»Ich werde mich schon nicht erwischen lassen«, knurrte Miron trotzig, doch Marguérite sah, dass Sabines Appell ihn sehr wohl zum Nachdenken gebracht hatte. »Ich halte diese Willkür und Ungerechtigkeit einfach nicht länger aus«, brach es noch einmal aus ihm heraus, doch seine Wut hatte sich bereits in Verzweiflung gewandelt. »Wie können sich vernunftbegabte Menschen nur für so ein grausames Verhalten entscheiden? Wo bleiben da Menschlichkeit und Mitgefühl?«

Seine Augendeckel begannen zu flattern, und er fuhr sich hastig mit der Faust übers Gesicht. Sabine ging auf ihren Mann zu und nahm ihn in die Arme. Er sank mit dem Kopf an ihre Schulter, doch seine Hände blieben zu Fäusten geballt.

»Sabine hat recht«, mischte sich nun Pirmin ein. Er richtete sich wieder auf. Sein Gesichtsausdruck zeigte große Entschlossenheit. »Ihr müsst hier für die Kinder sorgen. Das ist eure Aufgabe, und ihr dürft sie durch nichts gefährden. Bei mir sieht es anders aus. Ich werde mich diesem Gaston anschließen. Wenn er mich bei sich aufnimmt, werde ich alles tun, um diesem Wahnsinn hier ein Ende zu bereiten.«

»Das kannst du tun, sobald du dich erholt hast«, erwiderte Sabine mit einem müden Lächeln.

Sie alle wussten, dass es noch Wochen dauern würde, bis Pirmin wieder ganz hergestellt war. Doch der Schweizer ließ sich nicht von seinem Entschluss abhalten.

Zwei Tage später fand Marguérite, als sie ihm das Frühstück bringen wollte, sein Lager verlassen vor.