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Sie war viel zu spät dran. Als Valerie zum Fähranleger kam, um auf die andere Seite des Bodensees überzusetzen, legte das Schiff gerade ab, und sie war gezwungen, auf das nächste zu warten. Verdammt! Jonas’ Flieger würde schon längst gelandet sein, bis sie endlich in Friedrichshafen war. Er hasste Unpünktlichkeit und konnte darauf sehr unangenehm reagieren. Nicht nur das dämpfte ihre Vorfreude auf ihn, auch dass sie wusste, wie nachtragend er sein konnte. Zu allem Überfluss geriet sie in Meersburg auch noch in einen Stau, sodass sie schließlich mit mehr als einer Dreiviertelstunde Verspätung an ihrem Ziel eintraf.
Als sie ihren Wagen auf dem Parkplatz vor dem Flughafengebäude abstellte, wartete ihr Freund bereits mit seinem Handkoffer vor dem Eingang. Kaum dass er sie sah, drückte er seine Zigarette aus und griff in die Innentasche seines Jacketts, um mit einem Mundspray seinen Atem zu erfrischen. Für Valerie war das ein klarer Hinweis darauf, wie gestresst er war. Mit einem Winken überquerte sie die Straße und machte sich auf allerhand Vorwürfe gefasst. Jonas empfing sie jedoch mit einem strahlenden Lächeln, was sie sofort erleichtert aufatmen ließ.
»Da bist du ja, Schnütchen«, begrüßte er sie und zog sie stürmisch an sich. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr du mir gefehlt hast!« Valerie ließ sich küssen, auch wenn sein Atem immer noch nach kaltem Rauch stank. Früher hatte sie das nie gestört. »Ich kann es kaum erwarten, bis ich dich endlich richtig in meinen Armen halten kann«, raunte er in ihr Ohr.
Sie machte sich frei, bevor er noch zudringlicher werden konnte. Es war ihr plötzlich unangenehm, wie er seine Leidenschaft in aller Öffentlichkeit zeigte. Was ist nur mit mir los?, schimpfte sie mit sich selbst. Jonas freut sich, mich zu sehen, und ich reagiere total abweisend. Glücklicherweise schien er es ihr nicht übel zu nehmen.
»Mein Wagen steht da hinten«, sagte sie rasch. »Wenn wir uns beeilen, können wir die Parkgebühren sparen.« Sie lächelte ihm zu. »Und sobald wir in meinem Appartement sind, kannst du mit mir machen, was du willst!«
Jonas griff nach seinem Rollkoffer und folgte ihr zum Parkplatz. Eine halbe Stunde später standen sie auf dem Oberdeck der Fähre, die sie zurück nach Konstanz brachte. Es war ein wunderschöner Tag. Der Himmel war von einem seidigen Blau, unter ihnen schimmerte das intensiv grüne Wasser des Sees. Möwen begleiteten das Schiff und warteten darauf, dass Touristen ihnen etwas zu fressen hinwarfen. Ihr schrilles Kreischen gehörte genauso zu der Fahrt wie das Stampfen der Motoren. Valerie lehnte neben Jonas an der Reling und genoss die Aussicht auf die Berge, die im Schweizer Hinterland lagen, und die vielen Segelboote auf dem Wasser. Der Wind hatte aufgefrischt – optimales Wetter zum Segeln.
»Ist es nicht einfach traumhaft hier?«, schwärmte sie begeistert. »Ich liebe die Weite und die Freiheit auf dem Wasser. Es gibt kaum etwas Schöneres für mich!«
Jonas gab ihr einen Kuss aufs Haar. »Warte nur ab!«, flüsterte er vielversprechend.
Sie schmiegte sich an ihn und genoss diesen Augenblick der Nähe. Leider hatte ihr Freund keinen Sinn dafür, sondern begann ziemlich unvermittelt, von seiner Arbeit in der Kanzlei zu erzählen. Seine nüchterne Art zerstörte den Moment ihrer Zweisamkeit.
»Endlich bin ich da, wo ich immer sein wollte«, schwärmte er. »Noch ein, zwei große Fälle, die ich gewinnen muss, dann kann ich mir aussuchen, was ich tun möchte.«
Er zog sie zu sich heran, um sie erneut zu küssen. Sein Kuss kam ihr vor, als suchte er darin nur eine Bestätigung für sich selbst. Sie schämte sich sofort für ihre negative Einstellung.
»Ich bin auch da, wo ich immer sein wollte«, versuchte sie, ihr Gespräch wieder auf schönere Dinge zu lenken. Sie hatte aus seinem letzten Besuch eine Lehre gezogen und beschlossen, dass sie dieses Mal möglichst wenig Zeit in ihrer beengten Wohnung verbringen würden. Werner hatte ihr dazu die perfekte Möglichkeit geboten. Sie deutete hinaus auf den See. »Siehst du die wunderschöne Teakholzyacht da vorne? Genau so eine gehört einem Freund von meinem Chef. Er überlässt sie uns fürs Wochenende. Gleich heute Nachmittag können wir an Bord gehen. Ich hab alles eingekauft, was wir brauchen. Wir werden eine herrliche Zeit haben, ganz allein.« Sie sah ihn erwartungsvoll an.
Jonas fixierte erst die Yacht, dann sah er sie ungläubig an. »Das ist jetzt nicht dein Ernst«, erwiderte er tonlos. »Du weißt doch genau, wie sehr ich mich vor Wasser fürchte. Keine zehn Pferde würden mich jemals auf so einen wackligen Kahn bringen. Mir wird schon schlecht, wenn ich es mir nur vorstelle.«
»Die Yacht hat allen Komfort, den du dir vorstellen kannst«, protestierte Valerie. »Außerdem ist die Wetterprognose äußerst günstig. Und wenn dir das Segeln keinen Spaß macht, bleiben wir eben draußen vor Anker liegen.« Mit so einer heftigen Abwehrreaktion hatte sie nicht gerechnet. Sie wusste zwar, dass Jonas kein begeisterter Wassersportler war, aber dass er sich vor dem Wasser fürchtete, hatte er ihr gegenüber noch niemals erwähnt. Das Angebot, die Sheltie über das Wochenende chartern zu können, war eine einmalige Gelegenheit. »Nun stell dich nicht so an«, versuchte sie es noch einmal. »Du wirst sehen, wie viel Spaß wir haben werden!«
Sie gab ihm einen langen Kuss. Ihre Taktik schien zunächst erfolgversprechend. Jonas protestierte nicht länger. Er zog sie noch enger an sich und strich ihr zärtlich über die Haare.
»Ich finde es ganz süß, dass du mich auf diese Art überraschen willst, Schnütchen. Das zeigt mir nur, wie sehr du mich liebst«, flüsterte er in ihr Haar.
»Dann ist es also abgemacht?« Valerie blickte erleichtert zu ihm auf.
Dieses Mal war es Jonas, der sie sanft von sich wegdrückte. Er sah ihr tief in die Augen. »Vielleicht ein andermal«, erwiderte er mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Aber dieses Wochenende hab ich bereits für uns verplant. Ich hab dir doch erzählt, dass ich eine ganz besondere Überraschung für dich hab. Lass dich einfach darauf ein. Darum bitte ich dich!«
»Und was soll das sein?« Valerie gelang es nur schlecht, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Können wir nicht deine Überraschung verschieben? Die Sheltie ist garantiert den ganzen Sommer nicht mehr zu haben! Es ist wie ein Sechser im Lotto, sie einmal segeln zu dürfen.«
Jonas’ Blick verdüsterte sich. »Es ist nicht fair, wenn du mir so kommst«, reagierte er gereizt. »Ich hab mir sehr viel Mühe gegeben! Aber wenn dir das egal ist, bitte …« Beleidigt wandte er den Blick von ihr ab und starrte missmutig aufs Wasser.
Valerie fühlte sich um ihren Spaß gebracht und gleichzeitig hilflos. Wenn sie jetzt ihre Meinungsverschiedenheit vertieften, war das Wochenende gelaufen. Dann konnte Jonas genauso gut gleich wieder zurück nach Berlin fliegen. Um die Stimmung nicht noch mehr in den Keller sinken zu lassen, beschloss sie einzulenken. Jonas hatte ja recht. Er hatte tatsächlich etwas von einer Überraschung erwähnt. Sie musste sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie nicht richtig zugehört hatte. Außerdem hatte sie keine Lust, seine schlechte Laune zu ertragen, nur weil sie sich durchgesetzt hatte.
»Tut mir leid!«, lenkte sie widerwillig ein und zwang sich zu einem versöhnlichen Lächeln. »Es war gedankenlos von mir, dass ich für die Yacht gleich zugesagt habe. Ich werde Werner anrufen und ihm absagen.«
Wenig später trafen sie vor dem Neubaukomplex im Konstanzer Stadtteil Paradies ein, in dem Valeries kleine Souterrainwohnung lag. Das nicht sehr attraktive Erscheinungsbild der Anlage machte seine unbezahlbare Lage direkt am Seerhein wett. Zur Altstadt waren es nur wenige Minuten mit dem Fahrrad. Im Vergleich zu der durchgestylten Altbauwohnung in Berlin, die sie mit Jonas bewohnte, war hier alles sehr einfach und zweckmäßig eingerichtet. Erst hier war ihr bewusst geworden, wie wenig Wert sie auf all die Designerstücke legte, die Jonas so wichtig waren. Sie hatte festgestellt, dass es ihr genügte, ein paar wichtige persönliche Dinge um sich herum zu haben. Mehr brauchte sie nicht. Dazu gehörten ein Foto ihrer Eltern, ein von ihrer Mutter gemaltes Aquarell einer südfranzösischen Landschaft sowie ein paar andere lieb gewordene Dinge, die sie von ihren Reisen mitgebracht hatte.
Als sie ihr Auto auf dem Stellplatz vor dem Mehrfamilienhaus abstellte, machte Jonas keinerlei Anstalten auszusteigen. »Ich warte hier, bis du deine Sachen gepackt hast«, verkündete er mit undeutbarer Miene. »Nimm am besten dein hübsches grünes Cocktailkleid mit, das ich dir aus Mailand mitgebracht habe. Pumps oder schicke Sandaletten wären auch nicht schlecht. Ansonsten reicht bequeme Kleidung.« Er zwinkerte ihr zu.
»Ich dachte, wir wollten das Wochenende hier in Konstanz verbringen …« Valerie war irritiert.
»Nun sei doch kein Spielverderber! Pack deine Sachen zusammen und lass dich überraschen. Heute Abend werden wir auf jeden Fall nicht in deinem dunklen Loch übernachten!«
Jonas ließ keine weitere Information raus. Er schien einiges geplant zu haben. Dennoch fühlte sich Valerie gekränkt. Dass er ihre Wohnung nicht mochte, hätte er ihr nicht noch einmal vor die Nase halten müssen.
»Und wo fahren wir hin?«, hakte sie noch einmal nach. »Etwa nach Zürich?« Jonas fühlte sich eigentlich nur in Großstädten wohl.
Er grinste. »Keine Sorge! Wir bleiben hier in Konstanz. Ich hab uns ein Hotel gebucht!«
»Wozu das denn?« Sie warf ihm einen verständnislosen Blick zu. »Mein Bett ist groß genug für uns beide, und wir werden doch ohnehin viel unterwegs sein.«
»Das gehört alles zu meiner Überraschung!« Jonas verriet immer noch mit keinem Wort, was er vorhatte. »Und nun beeil dich. Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren.«
Valerie wusste nicht, was sie von der Geheimniskrämerei halten sollte. Irgendwie hatte sie immer weniger Lust auf Jonas’ Überraschung. Doch nun war es zu spät. Besser, sie machte ohne weitere Proteste mit. Sie packte rasch die geforderten Sachen zusammen und grübelte darüber nach, weshalb Jonas bereit war, Geld für ein Hotel auszugeben, wo sie doch eine Unterkunft hatten. Er legte zwar Wert auf einen hohen Lebensstandard, auf der anderen Seite war er aber auch recht sparsam. Obwohl sie schon seit drei Jahren zusammenlebten, hatten sie immer noch kein gemeinsames Konto. Jede Ausgabe wurde in einem Haushaltsbuch von ihm festgehalten und dann zwischen ihnen beiden gerecht aufgeteilt. Valerie hatte das immer sehr befremdlich gefunden, sich aber im Laufe der Zeit an seine Pingeligkeit gewöhnt. Sie kam zu dem Schluss, dass er wegen seines letzten Besuchs noch ein schlechtes Gewissen hatte und sie nun ein wenig verwöhnen wollte. Gut, dachte sie ergeben, dann werde ich eben so tun, als ob mir das gefiele.
»Und wohin geht’s jetzt?«, fragte sie, als sie mit ihrer Tasche zurückkam.
Jonas, der an ihr Auto gelehnt stand, drückte hastig seine Zigarette aus und benutzte sein Mundspray. »Sorry, ich bin heute etwas nervös«, entschuldigte er sich. Er hatte eigentlich mit dem Rauchen aufhören wollen. »Es ist der neue Fall, mit dem mich Dr. Krabusius beauftragt hat. Er nimmt mich gerade sehr in Anspruch. Aber nun komm!« Er hielt ihr die Fahrertür mit einem charmanten Lächeln auf. »Wir fahren zum Hotel Riva!«
»Zum Riva?« Valerie glaubte, sich verhört zu haben.
»Ganz genau!«
»Aber das ist das teuerste Hotel in Konstanz. Dort kostet eine Nacht ein Vermögen!«
»Das muss dich nicht kümmern«, versicherte Jonas großspurig. »Du bist mein Gast.«
»Das ist nicht dein Ernst! Hast du etwa im Lotto gewonnen?« Valerie war nicht wohl dabei, in solch einem Luxusschuppen abzusteigen. Aber Jonas meinte es tatsächlich ernst.
»Jetzt steig schon ein!«, forderte er sie erneut auf. »Als neuer Partner von Dr. Krabusius kann ich mir von nun an öfter so kleine Auszeiten leisten.«
»Gratuliere.«
Valerie zwang sich zu einem Lächeln. Sie kannte nun wenigstens den Grund für Jonas’ Großzügigkeit. Er wollte mit ihr seine Teilhaberschaft in der Kanzlei feiern. Sie tat, was er von ihr verlangte, und startete den Motor. Doch so richtig freuen konnte sie sich immer noch nicht. Was ist bloß mit mir los?, fragte sie sich. Eine Nacht auf der Sheltie wäre ihrer Meinung nach um einiges romantischer geworden als der Aufenthalt in einem so mondänen Hotel. Als sie jedoch Jonas’ vor Vorfreude strahlendes Gesicht sah, verzichtete sie auf eine Diskussion. Es wäre unfair, ihm seine Freude zu nehmen.
Auf dem Parkplatz des Hotels fand ihr in die Jahre gekommener Golf zwischen einem Porsche und einem Jaguar XJ gerade noch Platz. Valerie konnte sich einen Scherz nicht verkneifen.
»Hoffentlich wird mein Auto nicht abgeschleppt, weil die Angestellten es für schrottreif halten«, witzelte sie.
Jonas zog sofort die Stirn in Falten. »Daran hab ich gar nicht gedacht. Wir hätten vielleicht doch lieber mit dem Taxi kommen sollen.«
»Das sollte ein Witz sein!« Valerie knuffte ihn und hakte sich bei ihm ein, als sie ausgestiegen waren. Sie hatte ganz vergessen, dass Humor nicht gerade Jonas’ starke Seite war. »Nun komm schon, dein Aschenputtel möchte endlich das Königsschloss sehen. Ich weiß nur nicht, ob ich so viel Pracht auf einmal ertragen kann.«
»Du könntest dich jetzt endlich mal benehmen«, brummte Jonas ungnädig, als sie immer noch herumalberte, während sie schon die Lobby betraten. Er machte keinen Hehl daraus, dass er ihre exaltierte Art peinlich fand.
»Spaßverderber.«
Valerie nahm sich zusammen und verlegte sich darauf, das Ambiente im Foyer zu bewundern, während Jonas die Formalitäten erledigte. Sie musste zugeben, dass er Geschmack hatte. Das Hotel war wirklich wunderschön. Das Haupthaus war licht und hell. Als zentrales Element schwang sich eine freitragende Wendeltreppe vom Wasserbassin im Untergeschoss aus mehrere Stockwerke nach oben. Heller Sandstein, dunkles Teakholz und weißer Marmor bildeten den Rahmen für hohe, weitläufige Räume, denen einzelne Designelemente eine individuelle Note verliehen. Edle Stoffe und gedeckte Farben strahlten vornehme Eleganz aus. Valerie wusste, wie sehr ihr Freund auf erlesenen Luxus stand, doch es wunderte sie dennoch, dass er bereit war, so viel Geld auszugeben.
Ein Hotelangestellter begleitete sie mit ihrem Gepäck in das Nebengebäude und führte sie zu ihrem Zimmer im dritten Stock. Jonas hatte für sie eine Suite gebucht, die von ihren Ausmaßen her um einiges größer war als ihre Wohnung. Auch hier war die Einrichtung erlesen und zeugte von sehr gutem Geschmack. Wohn- und Schlafbereich waren voneinander getrennt. Das Bad bot alle Annehmlichkeiten, die man sich vorstellen konnte. Am meisten begeisterte sie jedoch der hübsche Balkon zur Seeseite hin, und sie stellte sich an die Brüstung. Man hatte einen freien Blick auf das Konstanzer Konzilgebäude und den Hafen. Sogar bis zu ihrer Segelschule konnte sie sehen. Mit leichtem Bedauern registrierte sie den auffrischenden Wind. Was für ein wunderbares Segelwetter, und sie war hier an Land gefangen.
Jonas trat unbemerkt hinter sie und überreichte ihr einen gefüllten Champagnerkelch. »Auf eine glückliche und erfolgreiche Zukunft«, sagte er mit dem breiten, smarten Lächeln, in das sie sich bei ihrer ersten Begegnung verliebt hatte. Er stieß mit seinem Glas an ihres und sah ihr tief in die Augen.
»Ist das nicht noch etwas früh?«
Valerie erwartete, dass er sie wieder küsste, doch plötzlich wirkte er ziemlich nervös. Mit einem Mal kam ihr die Situation komisch vor. Sie musste kichern, was ihn nur noch mehr verunsicherte.
»Nun mach doch nicht alles kaputt«, beschwerte er sich prompt. »Der Schampus kostet ein Vermögen und soll für romantische Stimmung sorgen.«
»Mitten am Tag?«
Valerie legte den Kopf schief und wartete auf eine Erklärung oder einen Kuss. Doch er ging nicht auf ihre Avancen ein, sondern blickte immer wieder zum Himmel, als gäbe es dort ein Gewitter. Seine Nervosität beunruhigte sie allmählich. Was zum Teufel bezweckte Jonas mit dem ganzen Theater, das er veranstaltete? Sie beschloss erneut, keine Spielverderberin zu sein, und stieß mit ihm an. Während sie nur an ihrem Glas nippte, leerte er seines in einem Zug. Dabei sah er abwechselnd auf die Uhr und dann wieder an den Himmel, was sie zunehmend irritierte.
Auf einmal ließ Jonas’ Anspannung nach, und er deutete aufgeregt auf ein rotes Propellerflugzeug, das sich ihnen näherte. Es zog eine Fahne hinter sich her. »Guck! Das ist für dich! Was sagst du dazu?«
Das Flugzeug flog einen Bogen und näherte sich ihnen vom See her, sodass sie die Aufschrift auf der Fahne lesen konnte.
WILLST DU MICH HEIRATEN?, stand dort in großen Lettern. Daneben ein Herz, das die Initialen Ph. & V. trug.
Ehe Valerie die Tragweite dieser Aktion begriff, kniete Jonas bereits vor ihr auf dem Boden und präsentierte ihr auf einem blauen Samtkissen einen wunderschönen Ring.
»Ich möchte, dass du meine Frau wirst, Valerie Sternfeld«, verkündete er mit einem erwartungsvollen Lächeln. Valerie hatte das Gefühl, dass man ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Sie war wie erstarrt. Mit allem hatte sie gerechnet, aber ganz bestimmt nicht mit einem Heiratsantrag. Wie kam Jonas nur ausgerechnet in dieser Situation auf diese abwegige Idee? Glaubte er wirklich, dass sie damit all ihre Beziehungsprobleme lösen konnten? Anstatt etwas zu sagen, starrte sie ihn nur ungläubig an. »Du musst jetzt etwas sagen, Valerie«, bemerkte er schließlich verwirrt. »Oder willst du mich etwa gar nicht mehr heiraten?«
Valerie fühlte sich wie in eine Parallelwelt versetzt. Die Situation war so unwirklich, dass sie fast schon wieder komisch war. »Das ist absolut verrückt«, brachte sie schließlich mühsam heraus und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Wie fandest du die Idee mit dem Flieger?« Jonas begriff gar nicht, dass er sie völlig aus der Fassung gebracht hatte. Er strahlte und plapperte nur so drauflos. »Ich musste mich ganz schön ins Zeug legen, damit alles klappt. Wie gefällt dir denn der Verlobungsring? Es ist ein echter Diamant mit Saphiren. Nun streif ihn dir schon über, damit ich wieder aufstehen kann!«
Valerie sah den Ring an, dann Jonas und schließlich wieder an den Himmel, wo das Flugzeug eine Schleife flog. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, hätte sie sich sofort in Luft aufgelöst. Zu allem Überfluss waren auf der Uferpromenade mittlerweile Menschen auf das Schauspiel aufmerksam geworden. Jemand hatte Jonas vor ihr kniend auf dem Balkon entdeckt und begann, die anderen darauf hinzuweisen. Es gab Rufe. Alle Welt wartete darauf, dass sie ihm endlich in die Arme fiel. Doch plötzlich bekam sie einen Panikanfall. Ein Fluchtreflex brachte sie dazu, ins Innere der Suite zu stürzen. Was ist das nur für eine absurde Situation?, dachte sie außer sich. Sie hätte am liebsten nach ihrer Tasche gegriffen und wäre aus dem Zimmer geflohen.
»Was ist denn mit dir los?« Jonas war ihr gefolgt. Den Ring auf seinem Samtkissen hielt er noch in der Hand. Seine Selbstgefälligkeit war wie weggeblasen. Stattdessen war er fassungslos und enttäuscht. »Gefällt dir die Idee mit dem Flieger nicht?«, brachte er mühsam hervor. »Sie hat mich ein Vermögen gekostet, wie überhaupt das alles hier!«
Valerie spürte seine hohe Erwartungshaltung fast körperlich. Er tat ihr leid, und gleichzeitig war sie wütend auf ihn. Wie konnte er sie nur einfach so überfallen? Nun sah er sie an, als hätte sie etwas Falsches getan. Das konnte sie sich nicht bieten lassen. Dieses Mal war er einfach zu weit gegangen.
»Ich verstehe nicht, wie du mir jetzt einen Heiratsantrag machen kannst«, sagte sie schließlich. »Bevor ich hierherkam, waren wir uns einig, dass unsere Beziehung eine Pause braucht. Wir haben uns quasi getrennt und einander alle Freiheiten zurückgegeben. Das kannst du doch nicht so einfach ignorieren!«
»Aber ich hab dir doch alle Freiheiten gelassen, oder nicht?« Jonas wollte sie nicht verstehen. Er schenkte sich hektisch neuen Champagner nach und leerte das Glas erneut in einem Zug, nur um es noch einmal zu füllen und die perlende Flüssigkeit gleich wieder in sich hineinzuschütten. Sie sah, dass seine Hände vor Aufregung zitterten. Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich ihr wieder zu. »Du weißt genau, dass wir zusammengehören.« Sein Blick hatte etwas Trotziges. »Bis auf den letzten kleinen Streit hatten wir doch eine gute Zeit, oder etwa nicht?« Er stellte das Glas beiseite und versuchte, nach ihren Händen zu greifen, die sie ihm jedoch verweigerte. »Du bist die Frau, mit der ich alt werden will. Wir wollten Kinder. Hast du das alles schon vergessen?«
Valerie schwankte zwischen Mitleid und schlechtem Gewissen. Schließlich siegte ihr Gefühl, das sie plötzlich ganz klarsehen ließ. »Das hab ich nicht, aber die Dinge haben sich geändert, auch zwischen uns«, sagte sie überraschend ruhig. »Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob das mit uns noch eine Zukunft hat. Auf jeden Fall weiß ich nun, dass wir so wie früher nicht mehr weitermachen können. Mir ist klar geworden, dass wir nur dann ein gutes Paar sind, wenn keinerlei Druck auf uns lastet. Aber das Leben ist nicht immer so einfach. Ich brauche jemanden, auf den ich mich in jeder Situation verlassen kann. Verstehst du?« Sie sah ihn mit einem traurigen Lächeln an.
»Was willst du denn damit sagen?« Jonas trat entrüstet einen Schritt zurück. Sie registrierte, wie aus seiner Enttäuschung Ärger wurde. »Ich war immer für dich da, auch als du deinen Zusammenbruch hattest. Ohne mich wärst du doch verloren gewesen!«
»Siehst du das wirklich so? Das kann nicht dein Ernst sein!«
Valerie konnte es nicht glauben. Wie unterschiedlich doch ihrer beider Wahrnehmungen waren. Jonas war ihr in ihrer Krise alles andere als eine große Hilfe gewesen. Anstatt für sie da zu sein, hatte er sich immer mehr von ihr zurückgezogen. Die Wahrheit war, dass er ihre Depression nicht ausgehalten hatte und sich immer dann aus dem Staub gemacht hatte, wenn sie ihn am meisten gebraucht hätte. Er hatte Arbeit vorgetäuscht, war stundenlang beim Sport gewesen oder hatte sich mit Freunden getroffen. Sie hatte sich ganz und gar nicht aufgefangen gefühlt. Doch was nutzte es, ihm das jetzt vorzuwerfen? Jonas war, wie er war, und sie würde ihn nicht ändern können. Außerdem schätzte sie ja auch seine guten Seiten.
»Vielleicht war es ja wirklich ein Fehler, dich mit allem hier so zu überrumpeln«, zeigte Jonas sich plötzlich einsichtig. Sie begriff, dass er dabei war einzulenken. Das durfte sie ihm nicht verwehren. Er deutete auf die Sessel, auf denen sie Platz nahmen. Das Samtkissen mit dem Verlobungsring legte er vor ihnen auf den Tisch. Der Ring war, wie alles, was Jonas aussuchte, von erlesener Schönheit. Sicherlich hatte er ein Vermögen gekostet. Und doch gefiel er ihr nicht. Sie fand ihn für sich viel zu protzig. Sie mochte lieber schlichteren Schmuck, den man erst auf den zweiten Blick wahrnahm, aber das hatte Jonas nie verstanden, wie so vieles, was ihr wichtig war. »Ich wollte dich in keiner Weise unter Druck setzen. Wir können die Hochzeit auch erst im Herbst oder nächstes Frühjahr feiern. So kannst du in aller Ruhe Vorbereitungen treffen.«
Er deutete ihr Schweigen schon wieder falsch. Offensichtlich ging er davon aus, dass sie sich gerade seinen Antrag noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Als er weiterreden wollte, gebot sie ihm Einhalt.
»Ich kann dich nicht heiraten, weil ich mir selbst nicht sicher bin«, versuchte sie, ihm das zu erklären, was er ihrer Meinung nach hätte wissen müssen. »Im Augenblick hab ich ganz andere Sorgen. Du weißt genau, wie schwer das letzte Jahr für mich war. Auch wenn es mir im Augenblick besser geht, muss ich viele Dinge erst neu für mich ausloten.«
Doch Jonas war nicht bereit zuzuhören. Er fuhr sich unbeherrscht durch die Haare. »Wie lange willst du dich denn noch hinter deiner Krankheit verstecken? Du bist doch längst wieder gesund! Lass uns endlich mal in die Zukunft sehen. Und falls dir die Schule zu viel wird – was ich übrigens sehr gut verstehen kann – , kannst du kündigen und dich um unsere Kinder kümmern. Ich verdiene jetzt ja genug für uns alle!«
»Dir geht es immer nur um dich, Jonas! Merkst du das denn gar nicht?« Valerie begann nun selbst, ungeduldig zu werden. »Vor noch nicht einmal einem Jahr war ich kurz davor, mein Leben zu beenden«, erinnerte sie ihn niedergeschlagen. »Wenn meine Eltern nicht gewesen wären, hätte ich es nicht geschafft. Nicht du hast mir aus der Depression geholfen, sie waren es. Während du in aller Ruhe weiter an deiner Karriere gebastelt hast und dein Leben gelebt hast, haben sie mich begleitet. Und jetzt glaubst du, du kannst so einfach wieder über mich bestimmen?«
»Das ist nicht fair«, empörte er sich. »Ich hab immer nur unser beider Glück vor Augen gehabt!« Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Ich liebe dich, Valerie, und du liebst mich. Wieso sollen wir jetzt nicht heiraten? Ich hab eine gute Stellung und kann problemlos eine Familie ernähren. Uns wird es an nichts fehlen. Was willst du denn mehr? Valerie, gib uns beiden eine Chance!«
Je mehr er sie zu überzeugen versuchte, desto mehr wurde ihr klar, wie weit sie eigentlich voneinander entfernt waren.
»Gib mir Zeit«, antwortete sie schließlich matt. »Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wenn dir das nicht reicht, ist es besser, wenn wir uns jetzt gleich trennen.«
»Steckt etwa ein anderer Mann dahinter?« Jonas war plötzlich misstrauisch und ließ abrupt ihre Hand los.
Tatsächlich schoss Valerie in diesem Augenblick Rick durch den Kopf. Doch sie verdrängte den Gedanken so schnell, wie er gekommen war, und schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt keinen anderen«, behauptete sie fest. »Meine Entscheidung hat nichts mit meinen Gefühlen dir gegenüber zu tun.« Sie machte Anstalten, sich zu erheben. »Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt in meine Wohnung gehe«, entschied sie erschöpft. »Ich fürchte, aus unserem romantischen Wochenende wird ohnehin nichts mehr.«
»Das kannst du mir nicht antun! Ich hab doch schon alles im Voraus bezahlt«, rief Jonas entsetzt. »Was soll ich denn allein in diesem sündhaft teuren Hotel? Es wäre schade, das alles verfallen zu lassen.«
Valerie hätte beinahe laut aufgelacht. Das war so typisch für Jonas. Er dachte immer zuerst ans Geld. »Wenn das deine einzigen Sorgen sind, dann übernehme ich die Hälfte der Rechnung«, antwortete sie, griff nach ihrer Tasche und machte Anstalten zu gehen.
Kurz vor der Tür verstellte Jonas ihr den Weg. »Um das Geld geht es mir wirklich nicht, glaub mir. Du kannst jetzt nicht so einfach gehen!«, flehte er sie an. Seine Verzweiflung ließ sie nicht kalt. Er war wirklich aufgewühlt. »Du bist alles, was ich habe … Lass mich jetzt nicht allein. Bitte!« Seine Stimme wurde weinerlich. Irgendwie erinnerte er sie an einen kleinen Jungen, der verzweifelt nach Anerkennung suchte. »Ich bin so ein Idiot! Ich wollte doch nur alles richtig machen. Vergiss den dummen Antrag und lass uns einfach so weitermachen wie bisher. Aber bitte lass mich nicht allein!«
Valerie kannte diese Ausbrüche und wusste, dass er sie stets dann einsetzte, wenn er gar keine andere Möglichkeit mehr sah. Dennoch wurde sie immer wieder von dieser Reaktion überrumpelt. Als sie Jonas’ flehenden Blick sah, geriet ihre Entschlossenheit prompt ins Wanken. Vielleicht hatte sie doch zu hart reagiert. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, sie zu beeindrucken, und sie hatte es nicht einmal im Ansatz wertgeschätzt. War sie nicht ebenso ein Egoist wie er? Außerdem waren sie schon viel zu lange ein Paar, als dass sie ihn jetzt so einfach stehen lassen konnte.
»Also gut«, lenkte sie zögerlich ein. »Ich bleibe hier, aber nur, wenn du akzeptierst, dass ich weiterhin meinen Freiraum brauche. Ich kann mich im Augenblick auf nichts festlegen. Das musst du verstehen!«
»Alles, was du willst!« Jonas stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Du glaubst gar nicht, wie glücklich du mich damit machst.« Er nahm Valerie die Tasche aus der Hand und stellte sie neben ihr Bett.
Noch im selben Moment hatte sie ein ungutes Gefühl.