Brégnier-Cordon, Lyon, Frankreich, Februar 1944
Antoine fühlte sich nach der Begegnung mit Marguérite wie betäubt. Vor sich hin grübelnd saß er neben Yves in dessen Lieferwagen und war froh, als sie Brégnier-Cordon endlich erreichten. Kaum waren sie dort angelangt, zog er sich in sein Zimmer zurück. Während er auf seinem Bett lag und auf das Funkgerät stierte, über das er seine Befehle erhielt, grübelte er weiter über die Dinge nach, die Marguérite ihm an den Kopf geworfen hatte. War es wirklich falsch, wenn er an seinem Traum festhielt, sich als Musiker in Paris eine Karriere aufzubauen? Marguérite hatte doch auch daran geglaubt! Wie konnte ihr das ungeborene Kind plötzlich wichtiger sein als die Verwirklichung ihrer gemeinsamen Träume? Hatte er sich so in ihr getäuscht? Stellte sie ihn nicht vielmehr einfach vor vollendete Tatsachen und setzte ihn damit unter Druck?
Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr gewann er den Eindruck, dass das Kind sie zwang, ein biederes Familienleben zu führen, aus dem er nie wieder würde ausbrechen können. Sein Leben würde genau zu dem werden, was er immer hatte vermeiden wollen. Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, Marguérites jüdische Herkunft zu verbergen, würde er einem ordentlichen Beruf nachgehen müssen, um die Familie zu ernähren. Er hätte gar keine andere Wahl, als wieder zurück nach Grenoble zu gehen, um dort als Uhrmacher im väterlichen Betrieb zu arbeiten. Allein dieser Gedanke schnürte ihm den Hals zu. Das konnte und wollte er nicht tun. Er konnte einfach nicht mehr zurück nach Grenoble. Dafür hatte er bereits viel zu viel riskiert. Der quälende Dienst bei der Miliz, die schändlichen Dinge, an denen er mitgewirkt hatte. Das alles würde ihn zusätzlich bedrücken, wenn er wieder in sein altes Leben zurückging.
Sein Gewissen plagte ihn schon jetzt an jedem einzelnen Tag, weil er Barbie Gastons Versteck verraten hatte. Er redete sich den Verrat schön, indem er sich sagte, dass er einen Verbrecher seiner gerechten Strafe zugeführt hatte. Gaston war für etliche Anschläge verantwortlich, bei einem war Christophe ums Leben gekommen. Er würde nie vergessen, wie sein junger Kamerad in seinen Armen verblutet war. Die Denunziation sollte Gastons gerechte Strafe sein.
Doch waren die Taten Gastons und seiner Leute wirklich verwerflicher als das, was er und seine Auftraggeber taten? Sein Verrat hatte einen hohen Preis, denn die Albträume mit dem erschossenen jüdischen Jungen plagten ihn immer wieder und ließen ihn mehr denn je zweifeln an dem, was er tat. Hinzu kam, dass Barbie gar nicht daran dachte, ihn wegen seiner Verdienste von der Angel zu lassen. Im Gegenteil, er schätzte ihn nun als Doppelspion umso mehr und erwartete weitere Erfolge. Welch teurer Preis für eine schreckliche Fehlentscheidung! Durch seinen Verrat hatte er nicht nur Yves und Miron, sondern auch Marguérite hintergangen – die Menschen, die es wirklich gut mit ihm meinten. Was er als Befreiungsschlag für eine gemeinsame Zukunft mit Marguérite geplant hatte, stellte sich nun als ein riesiger Fehler heraus.
Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass womöglich dies der wahre Grund dafür war, dass er sich so vor der Verantwortung scheute. Er hatte Angst davor, neue Fehler zu begehen und seiner Aufgabe nicht gerecht werden zu können. Marguérite stand für ihre Überzeugungen ein und kämpfte für das, was ihr wichtig war. Er hingegen war nichts als ein windiger Opportunist, der sich durch sein Leben lavierte. Je länger er nachdachte, desto weniger konnte er seinen früheren Überzeugungen folgen. Auch wenn Barbie nicht müde wurde, ihm zu erklären, dass es ein freies Frankreich nur unter der Schutzherrschaft der Nationalsozialisten geben konnte, war er selbst längst nicht mehr überzeugt davon. Sogar in die hinterste Provinz war mittlerweile durchgedrungen, dass sich die Alliierten zusammentaten und eine baldige Invasion in Frankreich mehr als wahrscheinlich war.
Die militärische Lage der Deutschen war kritisch. An der Ostfront wurden sie immer weiter zurückgedrängt, und auch sonst wuchs der Widerstand gegen die Besatzer. Dadurch könnte sich das Blatt rasch gegen Hitler wenden, und die Nazis würden gezwungen sein, ihr Territorium wieder aufzugeben. Dieser Meinung schienen viele im Land zu sein, denn der Widerstand wurde immer massiver. Es war, als wehte ein neuer Wind der Hoffnung im besetzten Frankreich, dem selbst er sich nicht verschließen konnte.
Marguérite hatte ihm in so vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet. Seit er sie und die Menschen des Kinderheims kannte, wusste er, wie irrwitzig der ideologisch motivierte Rassismus der Nazis war. Wie konnte man Menschen nur wegen ihrer Rasse oder Religion hassen und verfolgen? Wieso sollten Juden weniger wert sein als dem Christentum zugehörige Deutsche oder Franzosen? Was hatten ihnen die Menschen denn schon anderes getan, als dass sie einen anderen Glauben hatten? Von der jüdischen Weltverschwörung hatte er jedenfalls noch nichts mitbekommen. Im Gegenteil. Von Sabine, Yves und Miron konnte jeder etwas lernen. Der Wagemut, sich für die Unterdrückten und Verfolgten einzusetzen, ihre Menschlichkeit und der Wunsch, sie in eine bessere Welt zu führen, beseelten sie und verliehen ihnen die Kraft, sich gegen eine Übermacht aufzulehnen. Wären die Umstände andere und befände er sich nicht in dieser vermaledeiten Zwickmühle, in die er sich selbst hineinkatapultiert hatte, würde er sich ihnen von Herzen gern anschließen. Doch nun hatte er keine Wahl mehr. Barbie hatte ihn in seiner Gewalt, und er war gezwungen, ihm weiter zuzuarbeiten, bis es dem Obersturmführer gefiel, ihn aus seinen Diensten zu entlassen.
Mit einem Mal wurde ihm der Irrwitz seiner Situation klar. Was war er nur für ein verblendeter Idiot gewesen! Man hatte immer eine Wahl. Wenn er nicht endlich einen klaren Schlussstrich zog und sich für eine Seite entschied, würde er ewig in diesem Dilemma stecken bleiben. Dabei ging es nicht nur darum, sich für den Maquis zu entscheiden, sondern auch darum, welchen Stellenwert die Musik für ihn hatte. Das wirklich Wichtige in seinem Leben war nicht sein Traum von einem Leben in Paris, erkannte er mit einem Mal glasklar, sondern Marguérite. Ihre Liebe und Zuneigung waren das Wertvollste, was er jemals besessen hatte. Sie war der erste und einzige Mensch, der ihn so annahm, wie er war. Sie versuchte erst gar nicht, ihn zu verbiegen, und vergab ihm sogar seine Fehler. Wie hatte er sie nur so vor den Kopf stoßen können? Nicht eine Sekunde hatte er daran gedacht, wie sie sich fühlte. Das Baby, ihrer beider Kind, wuchs in ihr heran, und er dachte nur an seine Karriere? Eine Welle von Scham und Reue überrollte ihn. Was war er nur für ein verdammter Dummkopf gewesen? Er musste Marguérite so schnell wie möglich um Verzeihung bitten.
In dem Augenblick, als er seine Entscheidung traf, meldete sich sein Funkgerät. Er wurde umgehend zum Hauptquartier der Gestapo nach Lyon beordert. Barbie verlangte höchstpersönlich nach ihm. Schweren Herzens verschob er sein Vorhaben und machte sich gleich auf den Weg. Noch am selben Abend traf er in Lyon ein. Der Obersturmführer empfing ihn in aufgeräumter Laune. Er saß in seinem Sessel in seinen privaten Gemächern des Hôtel Terminus, auf dem Beistelltisch eine Kristallkaraffe mit feinstem Cognac, aus dem er sich gerade einschenkte. Neben dem Sessel, auf dem er mit übereinandergeschlagenen Beinen saß, lagen zwei Schäferhunde, die wachsam knurrend ihren Kopf hoben, als Antoine die Suite betrat. Das Schiefmaul hielt sich im Hintergrund, ohne ihn zu beachten. Jedes Mal, wenn Antoine ihn sah, überkam ihn ein heimliches Schaudern. Alle im Hauptquartier kannten die sadistischen Vorlieben von Barbies persönlichem Assistenten. Antoine war immer noch nicht klar, was einen Mann wie den Obersturmführer dazu brachte, sich mit solch einem Subjekt zu umgeben.
»Cognac?« Barbie bot ihm nach der formellen Begrüßung den gegenüberliegenden Sessel an und schenkte ihm auch schon einen ordentlichen Schluck in einen Schwenker. Antoine blieb nichts anderes übrig, als mit seinem Vorgesetzten anzustoßen, obwohl er auf den Alkohol lieber verzichtet hätte. Jetzt, da er sich entschieden hatte, fühlte er sich unwohl in Barbies Gesellschaft. Der Gestapomann hatte einen scharfen Verstand und einen sechsten Sinn, wenn jemand etwas vor ihm zu verheimlichen suchte. Außerdem fürchtete er sich vor dem, was dieses Mal von ihm verlangt wurde. »Kommen wir gleich zur Sache«, begann Barbie und bildete mit seinen Händen vor seinem Bauch eine Raute. »Ich habe Order vom Führerhauptquartier, den Süden von jeglichem Unrat zu befreien. Die Razzien der letzten Tage und Wochen waren nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was nun folgen wird. Mit der Operation Frühling, die spätestens im April starten wird, werden wir alles ausmerzen, was sich uns in den Weg stellt. Gemäß den Richtlinien unseres Führers werden wir den Krieg auf zwei Ebenen führen. Wir werden militärisch den Kampf gegen die Widerstandsgruppen angehen, sie endgültig an ihrer Wurzel packen und vernichten. Und wir werden dafür sorgen, dass sich keinerlei jüdisches Gesindel mehr in diesem Teil des Landes aufhalten wird. Die Juden werden allesamt aufgespürt und in deutsche Lager überstellt, wo man sie abschließend einer Endlösung zuführen wird.«
Antoine gelang es nur mit Mühe, seine Erschütterung zu verbergen. Die Emotionslosigkeit, mit der Barbie von der Vernichtung von Menschen sprach, war mehr, als er ertragen konnte. Ihm wurde zum ersten Mal in aller Konsequenz bewusst, dass dies nichts anderes hieß, als dass die Nazis dabei waren, die Juden als Volk auszulöschen. Das war so unglaublich, dass er Mühe hatte, sich das vorzustellen. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, in welch großer Gefahr sich das Waisenhaus von Izieu befand. Sämtliche Versuche, die Herkunft der Kinder zu verschleiern, würden nicht ausreichen. Die Bewohner der Gegend waren nicht dumm und machten sich sicher längst ihre eigenen Gedanken. Es musste ja nicht einmal böse Absicht sein, aber durch einen gedankenlosen Versprecher gegenüber einem Kollaborateur konnte man dem Kinderheim leicht auf die Spur kommen.
»Sie wirken etwas sprachlos, Mardieu«, zog ihn Barbie auf. »Macht Ihnen die Größe unserer Aufgabe Angst?« Er schmunzelte. »Das braucht es nicht. Das deutsche Heer ist gut organisiert und wirklich effektiv.«
Zum Glück hielt der Obersturmführer seine Schweigsamkeit für Bewunderung. Antoine musste seine ganze Kraft aufbringen, um ihm zuzustimmen.
»Das hört sich … nun ja …«, er räusperte sich und zwang sich zu einem Lächeln. Er musste jetzt lügen, wenn er nicht auffliegen wollte. »Es hört sich an wie die Idee eines großen Geistes.«
»Das ist sie auch«, meinte Barbie, zufrieden mit seiner Antwort. »Bei der Durchführung unseres Vorhabens hat mir der Führer zum Glück freie Hand gelassen. Will sagen, es bedeutet, dass wir die Sache gründlich erledigen werden.« Selbstgefällig grinsend griff er nach seinem Glas und nippte daran. Dann wurde Antoine wieder von seinen blauen Augen fokussiert. »Und Sie werden dabei eine bedeutende Rolle spielen, mein Freund. Was sagen Sie dazu?« Die Frage war rein rhetorisch gemeint. Barbie gab ihm keine Gelegenheit zu reagieren. »Ihr Aufgabengebiet erweitert sich ab sofort, indem Sie sich mit einer Schar Helfer gezielt in der Gegend von Belley auf die Suche nach Juden begeben und jeden Einzelnen in der Bevölkerung dazu anhalten, seine Herkunft bis in die dritte Generation nachzuweisen. Ich möchte bis in spätestens vier Wochen eine Auflistung aller jüdischen und halbjüdischen Bewohner der Gegend sowie ihren Aufenthaltsort.« Antoine gelang es kaum, sein Entsetzen zu verbergen. Er wollte etwas einwenden, doch Barbie ließ es gar nicht erst zu. »Sie müssen mir nicht für mein Vertrauen danken, lieber Caporal.« Völlig selbstverständlich ging er davon aus, dass Antoine sich geschmeichelt fühlte. »Ich habe Laval zudem mitgeteilt, dass ich erwarte, dass Sie sofort befördert werden. Außerdem denke ich nach der erfolgreichen Durchführung dieser Aktion darüber nach, Sie gänzlich für die Gestapo anzufordern. Leute wie Sie können wir im Großdeutschen Reich gut gebrauchen. Durch die Festnahme von Gaston haben Sie bewiesen, wie loyal Sie sind. Das prädestiniert Sie für höhere Aufgaben!«
Antoine war wie vor den Kopf gestoßen. Erst als Barbie sich laut räusperte, begriff er, dass er eine Antwort von ihm erwartete. »Das ehrt mich sehr, Obersturmführer«, brachte er mühevoll hervor. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, weil ihm einfach nicht einfallen wollte, wie er dieser unwürdigen Aufgabe entkommen konnte. Fieberhaft suchte er nach einem Weg, dem Irrsinn zu entgehen. Er musste klarmachen, dass er völlig ungeeignet war. »Leider tue ich mich mit Listen und Zahlen sehr schwer«, erfand er verzweifelt eine Ausrede. »Womöglich wäre deswegen jemand anderer besser dafür geeignet. Meine Fähigkeiten liegen bedauernswerterweise eher darin, Menschen zu unterhalten, und nicht darin, sie zu verhören. Bitte verzeihen Sie mir, dass ich so offen bin, aber ich möchte Sie einfach nicht enttäuschen müssen.«
Dass er kurz davorstand, sich um Kopf und Kragen zu reden, wurde ihm erst klar, als er sah, wie ungehalten Barbie auf seine Worte reagierte.
»Das war keine Bitte, Mardieu, sondern ein Befehl«, erklärte er unmissverständlich. Seine Stimme gewann an Schärfe, als er ihn rügte. »Ein für alle Mal! Es steht Ihnen außerdem nicht zu, meine Entscheidungen infrage zu stellen. Haben Sie verstanden?«
»Mais oui, Obersturmführer!«
Antoine verließ der Mut. Gab es denn nichts, um aus dieser Situation wieder herauszukommen? Barbie deutete sein Schweigen als Zustimmung. Etwas versöhnlicher fügte er hinzu: »Sie müssen diese Aufgabe ja nicht allein bewältigen. Sie bekommen genügend Leute an die Seite gestellt, die Ihnen die bürokratische Arbeit abnehmen werden. Als Koordinator werden Sie ihnen mehr oder weniger nur auf die Finger sehen müssen.«
»Es liegt mir fern, Ihnen zu widersprechen, Obersturmführer«, wagte sich Antoine ein letztes Mal vor, »aber vielleicht gibt es für mich ja noch eine bessere Ver …«
»Schluss jetzt!« Barbie donnerte mit der Faust auf den Tisch, woraufhin einer der beiden Hunde sofort zu knurren begann. Barbie fixierte Antoine nun mit zusammengekniffenen Augen. »Ihnen bleibt keine andere Wahl«, sagte er mit gefährlich leiser Stimme. »Denken Sie an Ihre Brüder!«
»Sehr wohl, Obersturmführer!«
»Dann haben wir das ja geklärt!« Barbie lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück und begann, sich zu entspannen. Innerhalb von Sekunden verwandelte er sich in seinen umgänglichen Gönner und wechselte das Thema. »Ich gebe heute Abend eine kleine Feier unter Freunden. Würden Sie mir das Vergnügen bereiten, mein Gast zu sein? Meine französische Bekannte Mimiche …«, er betonte das Wort »Bekannte« so, dass kein Zweifel daran bestand, in welchem Verhältnis er zu ihr stand, »… sie hat heute Geburtstag. Wie Sie wissen, liebt sie Ihre Musik. Sie würden ihr eine große Freude bereiten, wenn Sie etwas für sie spielen könnten. Allerdings lege ich Wert darauf, dass Sie das wirklich wollen.«
Antoine verstand die Anspielung sofort. Barbie ließ ihm auch in dieser Angelegenheit keine Wahl. Warum war ihm nie zuvor aufgefallen, wie sehr dieser Mann seine Untergebenen zu manipulieren verstand?
»Es wird mir eine Freude sein! Ich komme gern.«
Er musste sich zu diesem Zugeständnis ebenso zwingen wie zu einem verbindlichen Lächeln, das wie angefroren auf seinem Gesicht haften blieb. Barbie ging selbstverständlich darüber hinweg. Leider war er immer noch nicht bereit, ihn zu entlassen. Er schenkte ihm nochmals nach und plauderte fröhlich über die Festvorbereitungen. Dabei erfuhr Antoine, dass die Gestapo bei der Razzia eines jüdischen Geschäftsmannes mehrere Kisten Champagner sichergestellt hatte, die ihnen am Abend zur Verfügung stehen würden.
»Kaum zu glauben, was dieser Jude alles für Reichtümer in seinem Haus gehortet hatte …« Barbie schmunzelte. »Allein mit dem Geld aus dem Verkauf des Schmucks seiner jüdischen Schickse könnte man einen ganzen Lastwagenkonvoi mit neuen Waffen ausstatten, stimmt’s, Caporal André?« Das Lachen in Richtung seines Assistenten klang seltsam derb. Antoine hatte ganz vergessen, dass der als stummer Zeuge die ganze Zeit anwesend gewesen war. »Die konfiszierten Güter gehen selbstverständlich ordnungsgemäß an das Reichshauptquartier«, stellte Barbie wieder an ihn gewandt klar. »Lediglich Verderbliches wie Alkohol, Zigarren und Speisen bleiben in unseren Händen.« Barbie prostete ihm erneut zu und nötigte ihn, sein zweites Glas zu leeren. Bevor er es zum dritten Mal füllte, schickte er Francis André hinaus. »Lassen Sie uns noch ein wenig gemütlich plaudern«, bemerkte er, als sie allein waren. Er hob sein Glas und erwartete, dass er es ihm gleichtat. »Ich habe sehr wohl Verständnis dafür, dass Ihre neue Aufgabe Sie ängstigt, Antoine«, meinte er mit vertraulichem Unterton. »Sie fürchten zu versagen, doch das werden Sie nicht, denn ich weiß, was Sie können. Sie haben mein volles Vertrauen.« Barbie lächelte ihm nun wie einem Freund zu, nicht wie einem Untergebenen. Antoine, der den starken Alkohol nicht gewohnt war, spürte, wie er ihm bereits zu Kopf gestiegen war. Das Unbehagen, das er eben noch vor dem Obersturmführer gespürt hatte, ließ mit einem Mal nach, und er sah wieder den Menschen, den er bewunderte. Barbie zeigte sich erneut von seiner angenehmen Seite. Der Obersturmführer erklärte ihm, wie schwer ihn manchmal die Last seiner Aufgaben drückte, und wie er sich auch wünschte, dass der Krieg bald zu Ende wäre. Die Vertraulichkeit, mit der er sprach, war voller Wertschätzung. Antoine hatte das Gefühl, dass der Mann ihn wirklich mochte. Sie leerten ihr drittes Glas, danach fühlte er sich als Barbies Freund, vor allem, als dieser begann, launige Anekdoten über die Gäste zu erzählen, die er für den Abend eingeladen hatte. Antoine erfuhr, dass einige hochrangige SS-Offiziere mit ihren Freundinnen sowie einflussreiche Bürger für den Abend erwartet wurden. »Sie sind alle hier, um zu vergessen, was sie in ihrer Heimat zurücklassen mussten«, sagte Barbie mit einer gewissen Wehmut. »Mir geht es da nicht anders.« Sein Blick schweifte ins Leere. »In Deutschland wartet meine Regine auf mich«, verriet er ihm. »Sie ist eine gute Frau. Nett anzusehen, zuverlässig, arisch und mir treu ergeben. Alles Voraussetzungen für eine gute Ehe und Familie.« Er wandte sich ihm wieder zu. »Aber im Vergleich zu meiner quirligen französischen Mimiche ist sie doch nur wie ein stiller, langweiliger See.« Er lachte, als er Antoines verdutztes Gesicht sah. »Sind Sie etwa prüde, Mardieu?«, zog er ihn auf. »Mimiche ist natürlich nur ein Zeitvertreib, wenn auch ein sehr unterhaltsamer. Sie ist wie ein ständig explodierender Vulkan, dessen Eruptionen mich jedes Mal, wenn ich bei ihr bin, in Ekstase versetzen. Französische Frauen verstehen es einfach, uns Männern den Kopf zu verdrehen«, plauderte er munter. »Haben Sie auch ein hübsches Mädchen? Vielleicht zu Hause in Grenoble?«
»Da bin ich mir im Augenblick nicht so sicher«, antwortete Antoine wahrheitsgemäß und dachte an Marguérite und ihre ungeklärte Situation.
»Wenn es Ihnen ernst mit dem Mädel ist, dürfen Sie nicht zu lange warten, mein Freund!« Barbie war nun wirklich guter Stimmung, nicht anders als er selbst. Aufgrund des Alkohols verlor er seine Zurückhaltung. Als er den Obersturmführer noch einmal auf seine Brüder ansprach, merkte er jedoch gleich, dass er einen Fehler gemacht hatte. Barbies buschige Augenbrauen wanderten sofort missbilligend nach oben. »Wenn sich die beiden genauso kooperativ zeigen wie Sie, werden sie bald zu Hause sein«, ließ er sich zu einer vagen Antwort herab. Wie immer musste sich Antoine damit zufriedengeben. Frustriert fragte er sich, ob Barbie überhaupt etwas wegen ihnen unternommen hatte. »Nun machen Sie mal nicht so ein trauriges Gesicht«, ging der Obersturmführer überraschend noch mal auf ihn ein. »Sie haben das Ehrenwort eines deutschen Offiziers, dass Sie Ihre Brüder bald wieder in die Arme schließen können!«
Er klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, und Antoine wusste einmal mehr nicht, was er von dem Mann halten sollte.
Die Feier für Barbies Geliebte Mimiche wurde zu einem rauschenden Fest. Die geladenen Gäste belagerten die gesamte untere Etage des Hôtel Terminus, in dessen Speisesaal ein fulminantes Buffet errichtet worden war. Es gab Lachshäppchen und frischen Kaviar, Käseplatten und Pasteten. Dazu Champagner und Cognac in Hülle und Fülle. Im angrenzenden Festsaal wurde getanzt. Auf der Bühne war Platz für Antoine und zwei weitere Musiker, die Barbie engagiert hatte. Sie spielten moderne Tanzlieder und Chansons, die Antoine selbst komponiert hatte. Viele der Anwesenden hatten ihn schon mehrfach gehört und applaudierten begeistert, wenn er seine Stücke vortrug. Mimiche, eine aufreizend gekleidete junge Frau in einem engen roten Cocktailkleid, war so hingerissen von ihm als Musiker, dass sie ihm immer wieder Kusshändchen zuwarf. Allerdings vermutete er, dass ihre Begeisterung mehr im Alkohol begründet war als in der Qualität seiner Darbietung. Er sah sie nie ohne ein volles Champagnerglas.
Noch vor nicht so langer Zeit hatte er es genossen, wenn es ihm gelungen war, das Publikum mit seiner Musik zu verzaubern. Die Zuhörer vermittelten ihm stets ein Gefühl von Anerkennung und Erfüllung. Doch an diesem Abend wollte sich die Euphorie einfach nicht einstellen. Im Gegensatz zur Ausgelassenheit und Freude der Gäste fühlte er sich verloren und fehl am Platz. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu Marguérite ab, auch wenn er sich alle Mühe gab, nicht an sie zu denken. Dieses Mal half auch nicht der Alkohol, dem er erneut kräftig zusprach. Überhaupt hatte er gerade das Gefühl, sein Leben nur noch mit Alkohol ertragen zu können.
Gegen zwei Uhr nachts verließen die meisten der Gäste das Hotel. Viele waren so betrunken, dass sie kaum noch den Weg nach draußen fanden. Mimiche hatte sich dermaßen volllaufen lassen, dass sie schon geraume Zeit zuvor von ihren Freundinnen nach Hause gebracht worden war. Barbie schien das wenig zu kümmern. Er genoss den Abend in einem Nebenzimmer, wo er mit anderen deutschen Offizieren bei einem guten Cognac saß und diskutierte. Obwohl auch er den ganzen Abend getrunken hatte, wirkte er noch erstaunlich nüchtern.
Antoine packte sein Akkordeon ein und verabschiedete sich von den zwei Musikern. Er hatte vor, gleich in seine Unterkunft zu gehen, da er schon früh wieder aufstehen musste. Ihm war der Befehl erteilt worden, gleich am nächsten Morgen zurück nach Brégnier-Cordon zu fahren, um dort seine Habseligkeiten abzuholen. Seiner neuen Tätigkeit sollte er von Belley aus nachgehen. Als Barbie ihn gehen sah, winkte er ihn jedoch noch einmal zu sich. Die anwesenden Offiziere hatten sich gerade verabschiedet, und er saß allein auf einem gemütlichen braunen Ledersessel.
»Lassen Sie uns noch einen letzten Schluck gemeinsam trinken, mein lieber Freund!« Er reichte ihm ein Glas Cognac und nötigte ihn, auf dem gegenüberliegenden Sessel Platz zu nehmen. Antoine fühlte sich hin- und hergerissen. Er war einerseits müde, frustriert und viel zu betrunken, andererseits fühlte er sich geehrt, dass so ein wichtiger Mann wie der Obersturmführer ihn wie einen Freund behandelte. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag zog er ihn in sein Vertrauen. Barbie hatte offenbar einen Narren an ihm gefressen und das, obwohl er nur ein einfacher Mann war. Antoine gelang es nicht, sich seiner suggestiven Art zu entziehen. Er fühlte sich irgendwie von diesem Menschen angezogen. Vor allem, wenn der deutsche Offizier ihm auf Augenhöhe begegnete und sich interessiert an seiner Meinung zeigte. Dabei gelang es ihm gut, seine andere Seite zu verbergen, die als Machtmensch, der keinen Widerspruch duldete. Man wusste nie sicher, woran man bei Barbie war. Vielleicht war das gerade das Faszinierende an ihm. »Erzählen Sie mir von Ihrer kleinen Freundin«, riss Barbie ihn aus seinen Gedanken. »Sie machen mir den Eindruck, als hätte sie Ihr Herz gebrochen. Oder warum sehen Sie heute schon den ganzen Tag so unglücklich aus?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Antoine perplex.
»Ich habe mein ganzes Leben nichts anderes getan, als mich im Beobachten von Menschen zu üben«, verriet Barbie. »Ihre Mienen und Gesten verraten mehr, als sie preisgeben wollen. Bei Ihnen, Antoine, ist mir aufgefallen, dass Sie keiner der anwesenden Frauen auch nur ein Lächeln geschenkt haben. Das war, als wir uns kennenlernten, noch anders. Damals waren Sie ein Charmeur, der keinem Flirt abgeneigt war. Also scheint es nun jemanden in Ihrem Leben zu geben. Ihrer heutigen Stimmung entnehme ich, dass es nicht so gut läuft. Oder liege ich da falsch?« Mit erhobenen Augenbrauen sah er ihn fragend an.
Antoine fühlte sich ertappt. Hilflos hob er die Schultern. »Die Lage ist etwas kompliziert«, gab er zu.
»Wollen Sie darüber reden?«
»Ich möchte Sie nicht langweilen.«
»Ich kann nachts ohnehin schlecht schlafen.« Barbie hob auffordernd den Kopf. »Na los, mein Freund! Ich wette, dass es Ihnen hinterher besser geht!«
Sein scheinbar aufrichtiges Interesse ließ Antoine seine Zurückhaltung aufgeben. Im Grunde genommen war es genau das, was ihm fehlte – ein Freund, der ihm einen ehrlichen Rat gab. Was konnte es schon schaden, wenn er Barbie von Marguérite erzählte? Natürlich musste er die wahren Umstände verschweigen. Wider besseres Wissen trank er noch einen Schluck Cognac und begann dann, von seiner Beziehung zu Marguérite zu erzählen und ihrer Schwangerschaft. Er schilderte sie als einfache Bauerntochter, die bereit gewesen war, mit ihm nach Paris zu ziehen, um genau wie er der Enge auf dem Land zu entkommen.
»Und jetzt möchte sie, dass ich mich um sie und das Kind kümmere. Damit können wir alle unsere Zukunftspläne begraben«, schloss er frustriert. »Ich habe ihr vorgeschlagen, das Kind wegmachen zu lassen, aber davon will sie nichts wissen. Sie hat mich sogar fortgeschickt und möchte mich nicht mehr sehen!«
Barbie unterbrach ihn nicht, sondern hörte ihm aufmerksam zu. »Lieben Sie die Frau?«, verlangte er schließlich zu wissen.
Antoine musste nicht darüber nachdenken. »Mehr als ich jemals eine andere Frau geliebt habe!« Doch kaum hatte er es ausgesprochen, spürte er auch schon wieder den Kloß im Hals, der ihm die Kehle zuschnürte. »Doch wenn ich bei ihr und dem Kind bliebe, dann würde mein Leben in derselben Sackgasse enden, wie es beinahe in Grenoble der Fall gewesen wäre. Ich habe mir geschworen, dass ich nicht in einem Dorf verkümmern werde. Ich will Musik machen und lasse mir das nicht von einem Kind zerstören!«
»Sie reagieren sehr emotional. Das verstellt den wahren Blick auf die Dinge«, stellte Barbie fest. »Nicht dass ich Ihre Argumente nicht verstehen könnte. In meinem Leben musste ich auch Opfer bringen. Allerdings kam ich nie in das Dilemma, mich für meine Karriere oder eine Frau entscheiden zu müssen.« Er sah ihn prüfend an. »Wollen Sie meine ehrliche Meinung?« Antoine nickte. »Sie wird Ihnen aber womöglich nicht gefallen.«
»Damit kann ich leben.«
»Werden Sie sich darüber klar, ob die Frau für Sie nur eine Affäre ist oder ob sie Ihnen mehr bedeutet. Wenn Sie Ihnen nicht wichtig ist, trennen Sie sich von ihr. Geben Sie ihr von mir aus ein wenig Geld, damit sie sich um den Balg kümmern kann. Im anderen Fall sollten Sie sie heiraten. Ein Kind ist noch lange kein Grund, seine Träume aufzugeben. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen!«
Antoine musste nicht lange über Barbies Ratschlag nachdenken. Er wusste mit einem Schlag, dass er recht hatte.