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Dass Valerie so prompt auf meine Karte reagieren würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Dass ich ihr die Postkarte aus Izieu geschickt hatte, war mehr eine sentimentale Reaktion gewesen, weil wir ursprünglich die Reise gemeinsam hatten unternehmen wollen. In den nächsten Stunden war ich kaum fähig, an etwas anderes zu denken als an sie und unser baldiges Wiedersehen. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, noch nach Lyon zu fahren, um das dortige Museum der Résistance zu besuchen, doch in Anbetracht der veränderten Umstände verschob ich das auf einen späteren Zeitpunkt. Am liebsten hätte ich mich sofort in meinen Bus gesetzt und wäre nach Berlin gefahren. Doch den Besuch bei Claudille Bertrand am kommenden Morgen konnte ich nicht mehr verschieben. Auch wenn ich nicht allzu viel erwarten durfte, musste ich diesem letzten Hinweis noch nachgehen, bevor ich Valerie wiedersah. Ich war so aufgewühlt, dass ich mir eine Flasche Wein besorgte und sie vorm Schlafengehen in glückseliger Vorfreude leerte.

Der nächste Vormittag war also Madame Claudille Bertrand gewidmet. Wir hatten bereits vorab telefonisch einen Zeitpunkt verabredet. Die alte Dame erwartete mich um zehn Uhr in ihrer Seniorenresidenz in Belley. Dort besaß sie ein gemütliches Appartement, in dem sie mich herzlich empfing. Die schon fast neunzigjährige Frau hatte Tee vorbereitet und bat mich an einen kleinen Tisch direkt vor einer Glasflügeltür mit zwei bequemen Sesseln, die auf einen Balkon hinausführte. Von hier hatte man einen ungestörten Blick auf einen großzügigen Park, der zu dem Anwesen gehörte.

»Dafür, dass hier nur alte Menschen leben, ist es doch ganz hübsch«, sagte die zierliche alte Dame kokett mit einem süffisanten Schmunzeln. »Ich bin zwar unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, habe mich aber im Laufe meines Lebens doch an etwas Luxus gewöhnen dürfen.« Sie hatte sich etwas Mädchenhaftes bewahrt und sprühte nur so vor Energie und positiver Ausstrahlung, obwohl das Leben ihr auch schon einiges zugemutet hatte, wie ich später erfahren sollte. Ihre kurz geschnittenen Haare waren für ihr Alter noch erstaunlich dunkel und dicht. Nur vereinzelt machten sich graue Strähnen breit. Ihre dunklen Augen musterten mich mit einer Mischung aus Neugier und Wohlgefallen, als ich mich ihr gegenübersetzte und mein Anliegen vortrug. »Nennen Sie mich bitte Claudille«, bemerkte sie charmant. »So fühle ich mich einfach jünger.«

Die Art, wie sie das sagte, verriet mir, dass sie in ihrer Jugend einmal sehr begehrt gewesen war. Gern tat ich ihr den Gefallen und erzählte ihr von meinem Buch, an dem ich arbeitete. »Ich hoffe sehr, von Ihnen mehr über meine Großeltern zu erfahren.« Kaum hatte ich den Namen Antoine und Marguérite erwähnt, blitzten ihre Augen überrascht auf, und sie wurde sehr interessiert.

»Oh, natürlich erinnere ich mich an Marguérite! Sie war eine wunderschöne junge Frau! Mein Vater hat sie damals auf unserer Almwiese gefunden. Sie war krank und völlig mit ihren Kräften am Ende. Ich habe mich dann in unserer Berghütte eine Zeit lang um sie gekümmert. Eine feine Frau mit einem tragischen Schicksal.« Claudille war kaum noch aufzuhalten. »Und das soll Ihre Großmutter gewesen sein?« Sie sah mich prüfend an und schüttelte dann den Kopf. »Dinge gibt’s«, murmelte sie selbstvergessen. »Sie hat mir damals von ihrem Verlobten Antoine erzählt. Von ihm war sie schwanger, was wir allerdings erst nach ein paar Tagen herausgefunden haben. Mein Gott, wie spannend!«

Das war es in der Tat. Die Aufregung der alten Dame übertrug sich sofort auf mich. Ich fühlte mich, als hätte ich mit ihr einen Sechser im Lotto gewonnen. Endlich hatte ich jemanden gefunden, der zumindest Marguérite persönlich gekannt hatte. Vielleicht hatte meine Großmutter ihr ja noch mehr über Antoine verraten. Reichlich nervös zog ich Antoines Taschenuhr aus meiner Jackentasche und zeigte sie Claudille. Sie erkannte die Uhr sofort.

»Marguérite wollte meinem Vater die Uhr damals zum Dank für ihre Rettung schenken«, berichtete sie prompt und nahm das alte Stück fast ehrfürchtig in die Hände, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Sie deutete auf die feine Gravierung auf dem goldenen Deckel. »Ich erinnere mich noch genau an das schöne Sternenmuster«, sagte sie versonnen. »Wäre es damals nach mir gegangen, hätte ich das Geschenk angenommen, aber Papa meinte, dass dürften wir nicht, denn schließlich hatte sie außer der Uhr nur noch einen Anhänger, der sie an ihren Verlobten erinnerte. Die arme junge Frau, sie war ja so verzweifelt …« In ihren Augen glänzte Mitgefühl, auch nach so langer Zeit. »Sie hat mir in dem Frühjahr 1944, das sie bei uns verbrachte, mehrfach von ihrer schrecklichen Flucht aus Deutschland und ihrer großen Liebe erzählt. Ich erinnere mich noch in allen Einzelheiten daran. Sie müssen wissen, dass ich schon als Kind ziemlich neugierig war und gar nicht genug davon bekommen konnte, wenn sie mir aus ihrem Leben erzählte.« Claudille kicherte. »Marguérite war eine willkommene Abwechslung in dem eintönigen Leben auf der Almhütte.«

Die alte Dame war so aufgekratzt, dass ich sie einfach reden ließ. Es sprudelte nur so aus ihr heraus, und ich hütete mich davor, sie zu unterbrechen. In den folgenden Stunden erfuhr ich sehr viel über Marguérites Leben in Deutschland, ihre Flucht und ihren Aufenthalt in Izieu.