10
Obwohl ich mir Valerie aus dem Kopf schlagen musste, freute ich mich auf die Segelstunde am Sonntag. Ich war zeitig da, auch weil ich hoffte, mit ihr noch ein paar Worte vorab wechseln zu können. Während ich das geliehene Fahrrad in dem Schuppen am Hafen abstellte, sah ich sie in Begleitung eines gut aussehenden Mannes kommen. Vor dem Steg wollte sie sich mit einem flüchtigen Wangenkuss verabschieden, doch ihr Begleiter schien damit nicht zufrieden. Er zog sie fest an sich und gab ihr einen langen ausgiebigen Kuss. Valerie war das sichtlich unangenehm, denn sie löste sich ziemlich unwirsch aus seiner Umarmung und eilte, ohne sich noch einmal umzusehen, über den Steg direkt auf mich zu. Ich tat so, als wäre ich noch mit meinem Fahrrad beschäftigt.
»Hallo, Rick«, begrüßte sie mich im Vorübergehen. »Alles klar?«
Ich sah zu ihr auf und lächelte ihr zu. Für einen Augenblick begegneten sich unsere Blicke und hielten einander fest. Wie jedes Mal, wenn wir uns trafen, hatte ich das Gefühl, dass die Luft zwischen uns voller Spannung war. Viel zu schnell wandte sie sich wieder ab und verschwand in dem kleinen Büro neben dem Schuppen. Ihr Freund stand noch vor dem Steg und beobachtete uns. Er machte keinerlei Anstalten zu gehen, sondern setzte sich auf die nächstgelegene Bank, offenbar in der Absicht, auf Valerie zu warten.
Ich nahm mir die Zeit, ihn etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Irgendwie hatte ich mir ihren Freund anders vorgestellt. Nicht so steif und fast pedantisch auf sein Äußeres bedacht. Saß da mit übereinandergeschlagenen Beinen in frisch gebügelter weißer Hose zu hellblauem Hemd samt lässig über die Schultern geworfenem dunkelblauem Kaschmirpulli. Wie passte so ein Typ zu Valeries natürlicher Art? Die gestylten Haare wirkten ebenso künstlich wie sein blasiertes Lächeln hinter der verspiegelten Sonnenbrille.
Leider ging mich das alles überhaupt nichts an. Mit einem bedauernden Seufzen wandte ich mich ab und begab mich zu den anderen Segelschülern, die bereits dabei waren, ihre Boote aufzutakeln. Während des Segelkurses hatte ich alle Hände voll zu tun, um mit meiner Jolle zurechtzukommen. Valerie legte ein zügiges Unterrichtstempo vor und verlangte von uns, mehrere neue Kommandos zu befolgen, was mich ganz schön ins Schwitzen brachte. Auch war der Wind an diesem Tag stärker und unbeständiger als beim letzten Mal. Einmal wäre ich um ein Haar aus der Jolle katapultiert worden, weil ich statt einer Wende aus Versehen eine Halse fuhr. Der Großbaum knallte mir gegen den Hinterkopf und brachte mich aus dem Gleichgewicht.
»Immer mit der Nase durch den Wind, nicht mit dem Heck«, mahnte Valerie, die gerade in einer anderen Jolle neben mir hersegelte, streng. »Alles okay?«, fragte sie dann doch, als sie sah, dass ich mir meinen Kopf hielt. Sie gab Kevin und Felix den Befehl, längsseits meiner Jolle zu gehen, und stieg zu mir an Bord. Mein Kopf brummte ordentlich.
»Nicht jeder ist als Kapitän geboren.« Ich grinste, um ihr zu zeigen, dass ich in Ordnung war.
»Das passiert schon mal. Schließlich bist du Anfänger.«
Sie erklärte mir noch mal in aller Ruhe, auf was ich zu achten hatte. Die nächste Viertelstunde blieb sie bei mir an Bord, und ich tat so, als hörte ich ihren Anweisungen aufmerksam zu – in Wirklichkeit beobachtete ich sie versonnen und erfreute mich an ihren kleinen Gesten und Bewegungen. Irgendwann fiel ihr meine Unaufmerksamkeit auf und sie nahm mich wieder mehr in die Pflicht. Sie zeigte mir, wie man das Vorsegel hisste, und übernahm die Position der Vorschoterin, ich sollte das Boot steuern. Die Jolle nahm Fahrt auf, und wir segelten eine ganze Strecke hinaus auf den See.
Während ich an der Pinne saß und das Boot lenkte, saß Valerie auf dem Rand des Bootes mit der Schot in der Hand und konzentrierte sich auf das Gewässer vor uns. Dabei zeigte sie mir ihr Profil mit der etwas zu langen, aber geraden Nase und den vollen Lippen. Ihr Haar war zwar zusammengebunden, dennoch lösten sich überall kleine Kräusellöckchen, die ihren Kopf spielerisch umtanzten. Immer wieder warf sie einen prüfenden Blick auf die anderen Boote und gab den Segelschülern darin Anweisungen oder Ratschläge. Ihre Stimme blieb ruhig und entspannt. Ich bewunderte ihre Gabe, selbst komplizierte Dinge einfach zu erklären. Wäre es nach mir gegangen, wären wir noch stundenlang weitergesegelt. Leider verging die Zeit viel zu schnell, und ehe ich es mich versah, wechselte sie auf eine der anderen Jollen. Und dann war der Kurs auch schon wieder vorüber. Für gewöhnlich ließen wir uns alle beim Abtakeln Zeit, doch an diesem Tag machte Valerie auf Tempo, denn ihr Freund, den ich kurz völlig vergessen hatte, wartete bereits ungeduldig am Kai. Ich sah, wie er ihr Zeichen gab, sich zu beeilen.
»Dein Freund gehört wohl nicht zu den geduldigen Menschen«, versuchte ich zu scherzen.
Valerie sah mich nicht an, sondern zuckte nur mit den Schultern. »Wir haben noch was vor.« Es klang nicht sehr begeistert.
»Hast du übermorgen nach dem Segelkurs schon etwas geplant?« Sie drehte sich zu mir um. Als sie meinen erstaunten Blick bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Ich brauche noch einen Segelpartner. Einer von Werners Freunden möchte, dass ich seine Yacht nach Langenargen überführe. Er bringt uns dann zur Fähre. Das ist eine gute Gelegenheit, etwas Erfahrung zu sammeln. Hast du Lust?«
Ihr Vorschlag kam so unerwartet, dass ich erst einmal völlig perplex war. »Ich wollte eigentlich den Tag im Stadtarchiv verbringen.« Im selben Augenblick ärgerte ich mich, weil ich nicht gleich zugesagt hatte.
»Kein Problem!« Valerie zuckte mit den Schultern. »War nur so eine spontane Idee …«
»Aber ich kann das selbstverständlich verschieben«, schob ich rasch nach. »Der alte Kram läuft mir ja nicht davon!«
»Wirklich?« Ihre grünen Augen funkelten. »Dann ist es also abgemacht?«
»Abgemacht!« Ich gab mir Mühe, meine Freude nicht allzu deutlich zu zeigen.
»Wir segeln gleich im Anschluss an den Kurs los«, fügte sie rasch hinzu und wandte sich dann sofort wieder anderen Dingen zu. Wenig später sah ich, wie sie mit ihrem Freund eng umschlungen davonging.
Da Sonntag war und ich nicht ins Stadtarchiv konnte, verbrachte ich den Nachmittag in unserer Ferienwohnung, um an meinem Buchmanuskript weiterzuarbeiten. Meine Gliederung hatte ich erweitert und suchte nun nach einem guten Aufhänger für die Einführung. Auf jeden Fall gefiel mir Professor Lorchmeyers Vorschlag, die wechselhafte Geschichte der Insel Mainau mit in mein Buch aufzunehmen. Ich hatte mir bereits ausgiebige Notizen gemacht und suchte im Internet nach weiteren Quellen.
Überraschenderweise kam ich gut voran und hatte auch sonst das Gefühl, dass es in meinem Leben wieder aufwärtsging. Marie-Claire kam mir immer seltener in den Sinn – zum ersten Mal seit vielen Monaten trauerte ich unserer gemeinsamen Zeit nicht mehr nach. Gegen Abend schlug ich Adèle vor, gemeinsam in einem der Uferlokale etwas zu essen. Den Tag über hatte es etwas abgekühlt, der Himmel war bedeckt. Aus diesem Grund wählten wir einen Fensterplatz im Inneren des Restaurants mit einem wunderschönen Panoramablick über den nun bleigrau daliegenden See. Als mein Blick durch das Lokal schweifte, entdeckte ich nur zwei Tische von uns entfernt ausgerechnet Valerie mit ihrem Freund. Sie saß mit dem Rücken zu uns, sodass sie mich nicht sehen konnte. Die beiden schienen sich ebenfalls für ein frühes Abendessen entschieden zu haben. Während ich Adèle die Speisekarte übersetzte, sah ich unwillkürlich immer wieder an den Nachbartisch, was auch ihr nicht verborgen blieb.
»Ist das nicht die hübsche Segellehrerin, der wir neulich in der Stadt begegnet sind?«, erkundigte sie sich amüsiert. »Sie scheint dich ja ziemlich zu beeindrucken.«
»Sie ist wirklich sehr charmant.« Ich zog bedauernd die Stirn in Falten. »Aber leider schon vergeben, wie du siehst.«
Adèle nahm sich die Zeit, die beiden am Nachbartisch eingehender zu studieren. »Die junge Frau scheint mir nicht besonders glücklich zu sein«, behauptete sie schließlich.
»Wie kommst du denn da drauf?« Adèle hatte oft eine merkwürdige Art, Dinge zu bewerten.
»Hast du nicht bemerkt, dass sie ständig auf die Uhr sieht? Außerdem lässt der Mann sie ja kaum zu Wort kommen. Er ist wohl sehr von sich eingenommen.«
Das war mir auch aufgefallen. Dennoch widersprach ich ihr. »Tante Adèle, die Meisterpsychologin! Nein, ich glaube, du irrst dich! Ich hatte heute Vormittag den Eindruck, dass die beiden sehr glücklich sind.«
»Sind sie nicht.«
Unsere Unterhaltung wurde durch die Bedienung unterbrochen. Wir bestellten frisch gefangene Felchen auf Sauerampfer-Linguini und dazu eine Flasche Bodenseewein. Adèle berichtete, dass sie sich mit Therese Hufnagel ein wenig angefreundet habe und sogar beabsichtige, sie in ein Konzert zu begleiten. Ich freute mich, dass es ihr in Konstanz so gut gefiel. So musste ich auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich häufiger meine Zeit woanders verbrachte.
Noch bevor unser Essen serviert wurde, verließen Valerie und ihr Begleiter das Lokal. Natürlich entdeckte sie uns und kam herüber, um uns kurz zu begrüßen. Ihr Freund beschäftigte sich unterdessen mit seinem Smartphone. Mein Eindruck, dass er ein arroganter Schnösel war, verstärkte sich, als er immer wieder genervt auf die Uhr sah. Valerie wechselte mit uns ein paar Höflichkeiten auf Französisch, was Adèle mit sehr viel Sympathie registrierte. Als sie sich schließlich verabschiedete, verfolgte ich sie nachdenklich mit meinen Blicken.
Adèle hatte recht. Die beiden schienen wirklich kein sehr glückliches Paar zu sein.