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Ich stürzte mich mit vollem Eifer in meine Arbeit. Ich wollte nicht länger über das Ende unserer Beziehung nachdenken und darüber, auf welch unglückliche Weise Valeries und meine Vergangenheit miteinander verwoben waren. Also arbeitete ich Tag und Nacht an meinem neuen Buch und beschloss, das Manuskript zu Ende zu bringen, noch bevor ich nach Harvard abreisen würde. Sosehr ich jedoch auf diese Weise versuchte, meine Gefühle für Valerie zu vergessen, sowenig gelang es mir. Wie oft spielte ich mit dem Gedanken, nach Berlin zu fahren, um sie wenigstens noch einmal zu sehen. Wie ein Gespenst spukte in meinem Hinterkopf die Möglichkeit, unsere Liebe trotz unseres Verwandtschaftsverhältnisses zu leben. Beziehungen zwischen Cousin und Cousine waren nicht ausdrücklich verboten – und wenn wir auf Kinder verzichteten, würde es auch weiter keine Konsequenzen haben. Doch ich wusste genau, dass Valerie diese Idee nie gutheißen würde. Ich hatte noch ihr angewidertes Gesicht vor Augen, als unsere Verwandtschaft lediglich eine scheinbar haltlose Hypothese gewesen war, damals am Bodensee. Was für eine Ironie des Schicksals, dass sie ausgerechnet damit recht haben musste! Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, ich hatte einfach kein Glück bei den Frauen.

Ich hatte bis auf eine Ausnahme ausreichend Fakten zusammengetragen und ausformuliert, um mein Buch über die Auswirkungen der Kollaboration und ihre Rolle während des Zweiten Weltkriegs abschließen zu können, doch immer noch nicht herausgefunden, was mit meinem Großvater Antoine bis zu seinem Tod geschehen war. Seine Spur verlor sich zu dem Zeitpunkt, da Marguérite aus Izieu geflohen war. So blieb für mich weiterhin die Frage offen, wie viel Schuld ihm während der Razzia im Kinderheim wohl zugefallen war. Allerdings machte ich mir auch Gedanken über den Sinn weiterer Nachforschungen.

Adèle hatte schwer daran zu tragen, allen ihr nahestehenden Personen mitzuteilen, dass Antoine nicht der Held gewesen war, wie sie es immer dargestellt hatte – und darauf bestand sie. Besonders mir gegenüber hatte sie ein schlechtes Gewissen, denn sie fühlte sich auch für das Scheitern von Valeries und meiner Beziehung verantwortlich. »Hätte ich dich nicht zu dieser unsinnigen Reise an den Bodensee überredet, hättest du sie gar nicht kennengelernt«, hatte sie bei meinem letzten Besuch geklagt. »Ohne die Reise hätte ich niemals mein Buch schreiben können, außerdem hättest du niemals Valerie und Aaron kennengelernt«, versuchte ich immer wieder, ihr die positiven Seiten unserer Reise vor Augen zu führen.

Adèle teilte diese Ansicht nicht. Sie wollte lange nichts von dieser neuen Wendung des Schicksals wahrhaben. Erst nach eindringlichem Zureden war sie bereit, auf Aarons langen Brief zu antworten. Nur die Einsicht, dass sich Aaron ebenfalls schwer damit tat zu akzeptieren, dass sein Vater ein Kollaborateur gewesen war, ließ sie schließlich einlenken. Die Beantwortung seines Briefes war womöglich ein Versuch wiedergutzumachen, was sie mit mir und meiner Mutter falsch gemacht hatte.

Antoines Schicksal nicht weiterzuverfolgen hätte meine Ehre als Historiker nicht zugelassen, also stürzte ich mich in die Arbeit. Leider gab es kaum noch Unterlagen aus Klaus Barbies Zeit in Lyon. Der Schlächter von Lyon war so gründlich beim Vernichten seiner Spuren gewesen, dass er sich sogar seiner engsten Mitarbeiter entledigt hatte, indem er sie erschießen ließ, darunter auch seinen Folterknecht Francis André, Schiefmaul genannt. Es war durchaus möglich, dass auch Antoine unter den Toten gewesen war. Schließlich tauchte sein Name mehrmals in Zusammenhang mit Barbie auf und wies ihn als engeren Mitarbeiter aus. Bedeutete das womöglich das Ende aller Spuren?

Es war noch einmal Professor Lorchmeyer, der mir weiterhalf. Meine Sicht der Dinge war im Nachhinein ziemlich festgefahren, denn ich sah in meinem Großvater nur einen Täter. Lorchmeyer dagegen konnte die Angelegenheit etwas nüchterner beurteilen und stieß mich mit der Nase auf etwas, das eigentlich hätte offensichtlich sein können.

Nehmen wir doch einmal an, dass Ihr Großvater Ihre Großmutter wirklich geliebt hat, schrieb er, dann ist es doch nur allzu verständlich, dass er ihr auch in einer brenzligen Situation geholfen hat. Sie sehen in ihm aus Enttäuschung einen Bösewicht, aber es könnte im Umkehrschluss tatsächlich sein, dass er seine Mitgliedschaft bei der Miliz später bereut hat.

Er riet mir, noch mal nach Lyon zu reisen, um im dortigen Archiv die Deportationslisten durchzusehen, die die Namen der Menschen auflisteten, die vom Außenlager Drancy aus nach Deutschland in Vernichtungslager deportiert wurden. Ich versprach mir nicht viel davon, als ich seinem Rat schließlich Folge leistete. Eigentlich unternahm ich die Reise nur, um auf dem Rückweg Adèle noch einmal zu besuchen, bevor ich meinen neuen Job in den USA annehmen würde. Mein Vertrag in Harvard war unterschrieben, und mein Abflugtermin stand ebenfalls fest.

Während ich die Listen durchforstete, war ich Valerie auf schmerzhafte Weise noch einmal ganz nah. Sie hatte sich immer sehr für meine Arbeit interessiert und stets die richtigen Fragen gestellt. Ich war mir sicher, dass sie es gutheißen würde, wenn ich bei meinen Nachforschungen um unseren Großvater nicht lockerließ. Sie war ebenso beharrlich wie ich. Als ich dann tatsächlich auf der Deportationsliste vom 8. April 1944 auf den Namen Antoine Mardieu stieß, konnte ich es kaum fassen. Professor Lorchmeyer hatte recht gehabt. Antoine war noch vor der Besetzung durch die Alliierten von der Gestapo in Brégnier-Cordon verhaftet und nach Drancy gebracht worden. Mit dem Zug 96 war er am 13. April von Drancy in ein Außenlager nach Riga deportiert und dort am 2. Mai 1944 hingerichtet worden.

Leider konnte ich keine Hinweise dazu finden, was man ihm vorgeworfen hatte. Aber seine Verhaftung am Tag der Razzia von Izieu ließ die Deutung zu, dass seine Gefangennahme damit zusammenhing. Vermutlich würde ich niemals herausfinden können, was damals wirklich geschehen war. Aber die Vorstellung, dass er Marguérite zur Flucht verholfen und dabei gefasst worden war, war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Zumindest hatte ich nun den Beweis, dass mein Großvater nicht an der Deportation der Kinder und Betreuer der Kolonie von Izieu Schuld trug. Und ich hatte die Gewissheit, dass er gegen Ende des Krieges kein überzeugter Kollaborateur mehr gewesen war. Natürlich konnte ihn niemand nachträglich von der Schuld freisprechen, die er während seiner Milizenzeit auf sich geladen hatte. Doch die Umstände bewiesen, dass er kein ganz übler Mensch gewesen war.

Ich kopierte sorgfältig alle Unterlagen und beschloss, meinem Großvater in meinem Buch ein eigenes Kapitel zu widmen. An seinem Beispiel wollte ich deutlich machen, dass es während des Krieges nicht nur Gut und Böse gegeben hatte, sondern viele Schattierungen dazwischen. Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein, fiel mir ein Bibelzitat ein … Und sein Leben, das ich recherchiert hatte, zeigte noch vieles mehr. Selbst aus der Tiefe der Vergangenheit übertrug das einmal Geschehene seine Wirkung auf die Gegenwart. Man konnte Geschehenes nicht vergessen oder verdrängen. Alles hinterließ seine unvergänglichen Spuren und hatte Auswirkungen auf die Zukunft.

Aufgewühlt, erleichtert und irgendwie auch beglückt, drängte es mich, Valerie von diesen großartigen Neuigkeiten zu berichten. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte sie tatsächlich angerufen. Aber dann ließ ich es doch sein. Wozu unnötige Wunden aufreißen? Es war besser, wenn sie es auf anderem Wege erfuhr.

Gleich am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg zu Adèle nach Grenoble. Meine Neuigkeiten würden auch von ihrer Seele einige Last nehmen. Ich wollte es ihr überlassen, sie an Aaron weiterzugeben und damit an Valerie. Ich war sicher, dass ihr das, was ich recherchiert hatte, neue Lebenskraft verleihen würde. Vielleicht gab ihr das Wissen um die Wahrheit ja auch ein Stück ihres Seelenheils wieder zurück. Diese tapfere Frau, die immer für mich da gewesen war, hatte es verdient, noch ein wenig glücklich zu sein.

Jetzt, da ich etwas Abstand gewonnen hatte, trug ich ihr die Lügen nicht mehr nach. Sie hatte Angst davor gehabt, dass die Fehler meines Großvaters Schatten auf meine Mutter und mich werfen könnten. Und irgendwie hatten sie das ja auch getan. Nun konnte sie endlich ihren Frieden machen und die Zeit, die ihr noch blieb, genießen.

Doch es sollte anders kommen. Als ich meinen Bus vor dem Haus meiner Tante parkte, trat ihr Hausarzt gerade aus der Tür, gefolgt von Adèles Gesellschafterin Madame Roussel. Ihr Gesicht war verweint, die Miene des Arztes war sehr ernst. Sie überbrachten mir die traurige Nachricht, dass meine geliebte Großtante wenige Minuten zuvor friedlich eingeschlafen war.