17
Von nun an nahmen die Dinge ihren Lauf. Valeries Trost und Zuspruch nach Lorchmeyers Offenbarung hatten mir gutgetan. Dank ihr gelang es mir nach dem ersten Schock, die Dinge wieder nüchterner zu betrachten. Der Professor hatte recht. Je offensiver ich mit Antoines Geschichte umging, desto einfacher würde es werden, sie in den richtigen Kontext zu setzen. Ich musste weitere Nachforschungen über Antoine anstellen, um mich dann mit den Ergebnissen auseinandersetzen zu können. Die erste Hürde, die ich dazu nehmen musste, war, Adèle mit meinem Wissen zu konfrontieren. Auch sie würde lernen müssen, damit umzugehen.
Als ich Valeries Wohnung gegen Mittag verließ, begleitete sie mich noch bis zu ihrem Briefkasten. Sie zog aus ihm einen wattierten Umschlag, über den sie sich sehr freute.
»Von meinem Vater«, sagte sie. »Darin ist ein Schmuckstück meiner Großmutter. Er wollte es mir unbedingt schicken, damit ich ein Andenken an sie habe.«
Als sie meinen erstaunten Blick bemerkte, lächelte sie verschmitzt. »Nicht nur du hast eine Vergangenheit.«
Sie erwähnte kurz das Telefongespräch mit ihren Eltern. Einen Augenblick lang beneidete ich sie um ihre heldenhafte Großmutter. Valerie musste mir meine Gefühle angesehen haben, denn sie knuffte mich vorwurfsvoll.
»Nun komm schon! Du wirst doch jetzt nicht eifersüchtig auf meine Großmutter sein«, zog sie mich auf.
»Natürlich nicht!« Es beschämte mich, weil sie meine Gedanken erraten hatte.
»Du bist nicht für die Taten deines Großvaters verantwortlich!«
Sie gab mir zum Abschied einen Kuss, der mich tatsächlich daran erinnerte, dass es noch andere wichtige Dinge im Leben gab.
Als ich in unserer Ferienwohnung ankam, regnete es noch immer Bindfäden. Das Grau des Bodensees verschwamm mit dem tristen Grau der Häuser und Straßen, die ihn säumten. Tiefliegender Dunst hüllte den See und die Umgebung ein. Im Wohnzimmer fand ich Adèle beim Kartenspiel mit Therese Hufnagel vor. Die beiden alten Damen hatten es sich bei dem Regenwetter gemütlich gemacht. Vor ihnen stand eine Flasche von Thereses selbst angesetztem Holunderblütenlikör und zwei Gläser, die sicher nicht erst einmal gefüllt worden waren. Da sie so harmonisch beieinandersaßen, hatte ich plötzlich Skrupel, Adèle mit den unangenehmen Neuigkeiten zu konfrontieren. Die beiden Frauen waren so in ihr Canasta-Spiel vertieft, dass sie mich erst bemerkten, als ich zu ihnen an den Tisch trat.
»Ah, der junge Professor«, begrüßte mich unsere Wirtin vergnügt. Adèle zwinkerte mir vielsagend zu, wohl weil ich die Nacht nicht bei ihr in der Wohnung verbracht hatte. Ich gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange und setzte mich zu den beiden alten Damen. »Konnte Christian Ihnen etwas Neues über Ihren Großvater erzählen?«, erkundigte sich Therese neugierig.
Ich verneinte und beschrieb in knappen Worten, was mir der alte Herr berichtet hatte. Frau Hufnagel bedauerte mich, Adèle reagierte ganz anders.
»Nimm es als Zeichen dafür, dass es nun reicht, weiter in der Vergangenheit zu graben, mein Junge«, riet sie mir. »Ich habe doch auch meinen Frieden gemacht.« Sie lächelte ihr feines Lächeln und spielte die letzten Karten aus, mit denen sie das Spiel beendete. »Gewonnen!«, triumphierte sie.
Für sie schien die Sache mit ihrem Bruder tatsächlich abgeschlossen zu sein. Konnte ich es da verantworten, ihren Frieden zu stören? Gleichzeitig wuchs in mir das Gefühl, dass sie mir absichtlich etwas verheimlichte. Das musste ich herausfinden.
Therese Hufnagel erhob sich unterdessen. »Ich hoffe, Sie werden noch ein paar Tage länger unsere Gäste sein«, verabschiedete sie sich aufgeräumt.
Adèle sah mich schmunzelnd an. »Die Entscheidung überlasse ich meinem Neffen. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit sein Segelschein bei der reizenden Lehrerin noch in Anspruch nehmen wird.«
Kaum waren wir allein, trat eine seltsame Verlegenheit zwischen uns. Adèle war taktvoll genug, mich nicht nach der vergangenen Nacht auszufragen, und ich suchte nach dem passenden Einstieg für unser Gespräch. So plauderten wir eine Weile über harmlose Dinge, bis meine Tante, die es sich zwischenzeitlich in einem Ohrensessel gemütlich gemacht hatte, einnickte. Ich zog noch einmal die Liste des Professors hervor, um sie zu studieren, dann klingelte mein Handy. Um Adèle nicht zu stören, nahm ich das Gespräch entgegen und zog mich leise in mein Zimmer zurück. Es war das Sekretariat der Sorbonne, die mich an Luc Castel weiterleitete. Wir waren Kollegen und langjährige Freunde.
»Harvard hat sich gemeldet und Erkundigungen über dich eingeholt«, verkündete er aufgeregt. »Sie bieten dir einen Lehrauftrag an! Ich habe schon mehrere Male versucht, dich zu erreichen.«
Die Nachricht kam überraschend. Ich hatte einige Zeit zuvor meine Unterlagen an die Universität geschickt und mich für die Stelle beworben, mir allerdings keine besonderen Hoffnungen gemacht. Ich bat Luc, mir Details mitzuteilen. Das Angebot war wirklich verlockend. Man wollte mich tatsächlich für eine zweijährige Gastprofessur an einer der renommiertesten Eliteuniversitäten der Vereinigten Staaten. Allein die Tatsache, dass Harvard angefragt hatte, schmeichelte meinem Ego. Für einen Wissenschaftler bedeutete das den Ritterschlag. Danach würden mir Tür und Tor an sämtlichen namhaften Universitäten der Welt offenstehen. Eine Honorarprofessur war so gut wie sicher. Auch das Gehalt in Harvard war akzeptabel, man bot mir sogar auf dem Campus kostenfrei eine Wohnung an.
Unter anderen Umständen hätte ich keinen Augenblick gezögert und das Angebot sofort angenommen. Es war die Chance, auf die ich immer gewartet hatte. Doch dann dachte ich an Valerie und das, was gerade zwischen uns begonnen hatte. Was für ein merkwürdiger Winkelzug des Schicksals, dass mir ausgerechnet jetzt die Frau meines Lebens begegnet war.
»Sag ihnen, dass ich noch etwas Zeit für eine Entscheidung brauche«, sagte ich zu Luc, der das natürlich in keiner Weise nachvollziehen konnte.
»Spinnst du? Du bist ein Vollidiot, wenn du dir diese Chance entgehen lässt«, entrüstete er sich. Ich gestand ihm, dass ich mich unsterblich in eine Deutsche verliebt hatte. »Keine Frau der Welt ist es wert, auf so etwas zu verzichten«, erwiderte er.
»Für mich schon«, antwortete ich bestimmt.
Luc redete noch eine ganze Weile auf mich ein. Dann beendete ich unser Gespräch.
Bei meiner Rückkehr fand ich Adèle stocksteif sitzend in ihrem Sessel vor. Sie starrte ins Leere. Erst dann sah ich, dass sie ein Papier in den Händen hielt. Es war die Liste der Milizionäre, die ich achtlos auf das Beistelltischchen gelegt hatte. Es bedurfte keiner Worte, um zu sehen, wie erschüttert sie war.
»Mamie, es tut mir leid, dass du es so erfahren musstest!«
Ich ging rasch zu ihr und setzte mich neben sie. Ihr Blick blieb weiterhin unbeweglich ins Leere gerichtet. Dann ging ein leichtes Schaudern durch ihren Körper. Sie sah mich an.
»Nun hast du es also doch erfahren«, hauchte sie mit papierdünner Stimme.
Als ich ihre Hand tätscheln wollte, gab sie mir unmissverständlich zu verstehen, dass sie jetzt keine Berührung duldete. Erst da begriff ich, was sie gerade gesagt hatte: Adèle hatte immer Bescheid gewusst!
»Du wusstest davon?« Doch so erstaunt, wie ich mich gab, war ich tief in meinem Inneren gar nicht. Seit dem Gespräch mit Lorchmeyer ahnte ich zumindest, dass meine Tante nicht so ahnungslos gewesen sein konnte, wie sie mir und meiner Mutter immer vorgegaukelt hatte. Doch es machte einen Unterschied, ob man etwas vermutete oder Gewissheit hatte. Sie hatte uns die Wahrheit unser ganzes Leben lang vorenthalten. »Warum hast du uns nichts gesagt? Maman und ich hatten ein Recht darauf zu erfahren, wer Großvater wirklich war!«
Ich wollte noch etwas hinzufügen, doch Adèle hob energisch ihre Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. Sie vermied jeglichen Blickkontakt, als sie die Liste mit den Kollaborateuren zurück auf den Tisch legte. Ihre sonst noch so jugendliche Stimme klang plötzlich alt und brüchig.
»Mir war schon lange klar, dass es ein Fehler war, deine Mutter und dich anzulügen«, begann sie nach einem schweren Atemzug. »Nicht nur euch habe ich belogen, auch meinen eigenen Mann. Mit ihm fing die ganze Schwindelei eigentlich erst an.« Sie lachte niedergeschlagen. »Gustave hätte mich niemals geheiratet, wenn er gewusst hätte, dass mein Bruder ein Milizionär war. Er war doch Jude.« Sie sah mich flüchtig an. »Ich habe diese große, unverzeihliche Lüge zu meiner Wahrheit gemacht, weil es so einfacher für mich war. Außerdem habe ich mich so geschämt: für meinen Bruder, für mich, für unsere ganze Familie. Wie sollte ich vor meinen Nachbarn und allen, die durch das Unrecht der Kollaborateure haben leiden müssen, rechtfertigen, dass mein eigener Bruder einer von ihnen gewesen war?« Sie drehte den Kopf in meine Richtung, wich mir nicht länger aus. In ihren alterstrüben Augen schwammen Tränen. »Ich wollte nicht, dass Isabelle und du, dass ihr beide mit dieser Schmach aufwachsen müsst. Aus diesem Grund habe ich euch nie etwas gesagt!«
»Du hast Großvater zu einem Helden stilisiert«, warf ich ihr vor. »Du hast ihn zu einem guten Menschen gemacht, obwohl er vielleicht ein Monster war!«
»Das war er ganz bestimmt nicht«, widersprach Adèle energisch. »Vielleicht hat er auf der falschen Seite gestanden, aber gewiss war er deswegen kein böser Mensch! Niemand kannte ihn so gut wie ich. Er konnte keiner Menschenseele etwas antun!«
Diese Verharmlosung war mehr, als ich ertragen konnte. Dass sie mich und meine Mutter unser ganzes Leben lang angelogen hatte, war eine Sache, aber dass sie nun auch noch so tat, als wäre alles gar nicht so schlimm gewesen, war einfach zu viel. War Adèle wirklich nicht bewusst, dass sie mit ihren Worten alles infrage stellte, was sie mir bislang an Werten und Wahrheiten für mein Leben vermittelt hatte? Ich spürte eine abgrundtiefe Enttäuschung in mir aufsteigen, die ich nicht mehr zurückhalten konnte.
»Großvater war ein Mörder«, brach es mit bebender Stimme aus mir heraus. »Er hat für einen der schlimmsten Nazis gearbeitet. Wusstest du auch das?« Ich konnte in diesem Augenblick einfach keine Rücksicht nehmen.
»Er ist nur zu den Milizionären, weil er diesen Georges Duchand kennengelernt hat«, versuchte Adèle weiter, ihren Bruder zu verteidigen. »Er war in Belley und hat nie jemandem etwas Böses getan!«
»Er war der Vertraute vom Schlächter von Lyon«, korrigierte ich sie heftig. Ich wollte, dass sie es endlich zugab. »Wahrscheinlich war er sogar dabei, als die Kinder von Izieu deportiert wurden. Vierundvierzig Kinder und sieben Begleitpersonen sind möglicherweise seinetwegen in Auschwitz vergast worden. Und du behauptest, er konnte niemandem etwas zuleide tun?« Ich schüttelte mich angewidert. »Aber was mich am meisten verletzt, ist die Tatsache, dass du Maman und mich unser ganzes Leben lang belogen hast. Wie konntest du das verantworten? Wie kann ich dir jemals wieder vertrauen? Du hast dich ebenso wie Antoine schuldig gemacht.«
Adèles Augen weiteten sich ungläubig, während meine Vorwürfe auf sie niederprasselten. Natürlich weiß ich, dass ich mich hätte mehr zusammennehmen müssen. Es hätte andere, einfühlsamere Worte gegeben, um ihr meine Enttäuschung verständlich zu machen. Zu meiner Rechtfertigung kann ich nur sagen, dass ich von dieser Nachricht zu verstört war, um an Rücksicht zu denken.
Auf jeden Fall zerstörten meine Worte Adèles mühsam aufrechterhaltene Contenance. Ihre Erschütterung war bis in den letzten Winkel des Raumes spürbar. Eine ganze Weile sprach sie kein Wort.
»Du hast alles Recht der Welt, mich zu verachten«, brachte sie schließlich mit kaum hörbarer Stimme heraus.
Im Laufe unseres Gesprächs war sie immer mehr in sich zusammengesunken. Ihr Körper wirkte mit einem Mal viel zu klein für den großen Sessel. Erst da begriff ich, was ich mit meinen Vorwürfen angerichtet hatte.
»Ich bin einfach nur enttäuscht«, versuchte ich es mit milderen Worten. »Ich weiß doch, dass du es mit Maman und mir immer nur gut gemeint hast. Denk nicht, dass ich dir dafür nicht dankbar bin, aber …«
Ich wollte noch sagen, dass wir mit der Wahrheit auch früher schon zurechtgekommen wären, doch es kam nicht mehr dazu. Adèle rang mit einem Mal schwer nach Atem. Panik trat in ihre Augen, während sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust fasste. Sie versuchte, noch etwas zu sagen, aber mehr als ein Röcheln kam nicht über ihre violett gewordenen Lippen. Mit einem letzten flehenden Blick sah sie in meine Richtung, dann sank ihr Kopf leblos auf ihre Brust.