Lyon, Frankreich, Februar – Mai 1943

Antoines Ausbildung bei den Milizionären gestaltete sich zäher, als er gedacht hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Mitstreiter machten ihm weder der Umgang mit Waffen noch die körperlichen Ertüchtigungen besonders viel Spaß. Beim Schießen war er so schlecht, dass Georges beide Augen zudrücken musste, um ihn einsatzbereit zu erklären. Dafür kam er abends auf der Stube mit seinen Kameraden gut zurecht, wenn er sie mit musikalischen Einlagen unterhielt.

»Ich fürchte, du hast noch einen langen Weg vor dir, bevor du ein guter Soldat bist«, meinte Georges bei ihrem Abschied. »In Belley brauchen sie Leute für Patrouillen. Ich habe Laval gebeten, dich mit seinem Trupp dorthin zu versetzen. Solange die Italiener da noch sind, ist es einigermaßen ruhig.« Er klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Sei froh, dass Barbie einen Narren an dir gefressen hat. Wenn du dich gut mit ihm stellst, werden deine Brüder bald auf freiem Fuße sein. Und in einem Jahr ist der Spuk hier sowieso vorüber. Dann haben wir die Alliierten besiegt, und es beginnt der Aufbau einer neuen, großen Nation. Dann wird auch deine Zeit als Musiker in Paris anbrechen!«

Antoine verabschiedete sich von seinem Freund mit gemischten Gefühlen. Georges war mit einer anderen Einheit zur Unterstützung der deutschen Truppen im Kampf gegen den Maquis in die Gegend von Nizza abkommandiert worden. Er hatte keine Ahnung, wann er ihn wiedersehen würde. Von nun an war er auf sich allein gestellt. Sein einziger Trost war der großzügige Sold, den er erhielt. Mit ihm konnte er seine Mutter und Adèle einigermaßen versorgen.

In mehreren Militärlastwagen erreichte seine Truppe im April 1943 die kleine Stadt Belley am Südwestrand des Juras. Nach dem Sieg der Deutschen über Frankreich war diese Gegend den verbündeten Italienern zugesprochen worden. Doch es zeichnete sich ab, dass diese sich bald zurückziehen und den Deutschen die Vormacht überlassen würden. Der Ort lag ungefähr in der Mitte des Städtedreiecks Lyon-Genf-Grenoble. Es gab eine mittelalterliche Kathedrale, die den Bischofssitz von Belley darstellte, sowie eine intakte Stadtmauer. Außerdem besaß die Stadt eine Unterpräfektur, die von dem jungen Pierre-Marcel Wiltzer geleitet wurde.

Lavals Truppe war auf einem Bauernhof am Stadtrand einquartiert, dessen ehemaliger Besitzer als Widerstandskämpfer enteignet und danach hingerichtet worden war. Laval führte seine Männer mit soldatischem Drill. Sie wurden jeden Tag um sechs Uhr morgens geweckt und mussten sofort auf dem Exerzierplatz antreten. Danach Frühsport entlang des Kanals, dem ein kurzes Frühstück mit Zichorienkaffee und trockenem Brot folgte, bevor die Männer auf Patrouille gingen. Aufgrund der Nähe zur Schweizer Grenze war es ihre Aufgabe, Ausschau nach jüdischen Flüchtlingen zu halten, sie festzunehmen und in die dafür vorgesehenen Lager in Drancy, Pithiviers und Beaune-la-Rolande zu überstellen. Dort wurden sie von den deutschen Behörden übernommen und in deutsche Konzentrationslager gebracht.

Antoine sollte ebenfalls auf Patrouille gehen. Seine Hauptaufgabe bestand jedoch darin, die Augen offen zu halten und guten Kontakt zu der Bevölkerung zu pflegen. Obersturmführer Barbie wollte, dass er herausfand, ob die Résistance Anschläge plante und wer möglicherweise dahintersteckte. Er lobte Antoines offene, kontaktfreudige Art und versprach sich von ihm, dass er in der Gegend bald Freunde finden und ihr Vertrauen gewinnen konnte. Ungefähr alle zehn Tage hatte er sich in Lyon einzufinden, um dem deutschen Gestapomann persönlich zu berichten. Antoine war die Arbeit als Spitzel allemal lieber als ein gefährlicher Kampfeinsatz. Außerdem fühlte er sich geschmeichelt, dass ausgerechnet er zu einem Liebling des Oberkommandierenden geworden war. Klaus Barbie war ebenfalls Musikliebhaber und hatte an ihm regelrecht einen Narren gefressen.

Im Laufe seiner kurzen Ausbildungszeit in Lyon wurde er an fast jedem Abend zu ihm ins Hotel beordert, wo man ihn bat zu musizieren. Die deutschen Offiziere und die französischen Mädchen tanzten dort stets zu Schlagern und von ihm selbst komponierten Melodien und amüsierten sich prächtig. Eines Abends schenkte ihm der Obersturmführer das Akkordeon, das er ihm bislang nur geliehen hatte. »Wenn Sie mir nun noch zeigen, was Sie als Soldat draufhaben, werden Sie es nicht bereuen«, ermunterte er ihn. »Nicht mehr lange und Sie werden im Pigalle auftreten, lieber Freund!«

Ab diesem Zeitpunkt fühlte sich Antoine dem charismatischen Mann in vielerlei Hinsicht verpflichtet. Seine Sonderstellung brachte ihm so manchen Vorteil, den ein gewöhnlicher Milizionär nicht hatte. Vor allem ermöglichte sie es ihm, ab und zu der verhassten Provinz zu entfliehen, um ein oder zwei Tage in Lyon zu verbringen. Es hätte ihn wirklich schlechter treffen können.

In den folgenden Wochen gewöhnte er sich an sein neues Leben und fand sogar Gefallen daran. Er musste nur selten auf lange Patrouillen, meist ließ man ihm freie Hand, mit der Bevölkerung von Belley in Kontakt zu kommen. Der Besuch der örtlichen Wirtshäuser gehörte zu seinen Privilegien. Dort wurden die meisten Neuigkeiten ausgetauscht. Schon bald freundete er sich mit dem Schmied an, der ihn häufig zu einer Kartenspielrunde mit Einheimischen einlud. Da Antoine ein verträglicher Kerl war, behandelten ihn die Leute im Ort bald wie einen von ihnen.

Nach einiger Zeit fand er heraus, dass es gewisse Heimlichkeiten zwischen dem Pfarrer und dem Lehrer gab, auch wenn er diesen zunächst nicht auf den Grund kam. Anfang Mai bekam er die Chance, mehr herauszufinden. Eines Abends beim Kartenspiel, an dem auch der Geistliche teilnahm, trat der Lehrer der Ortsschule an ihren Tisch und flüsterte dem Pfarrer etwas zu, bevor er ziemlich eilig verschwand. Antoine musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass die beiden etwas ausheckten. Und dabei handelte es sich gewiss nicht um die Sonntagspredigt. Als sich der Pfarrer kurz darauf verabschiedete, verließ auch er die Runde und folgte ihm heimlich durch die Nacht.

Seine Ahnungen hatten ihn nicht getrogen. Anstatt nach Hause zu gehen, marschierte der Geistliche aus dem Ort hinaus. Bevor er in eine kleine Seitenstraße abbog, sah er sich aufmerksam um. Antoine duckte sich rasch hinter einen Lattenzaun. Er fürchtete schon, entdeckt worden zu sein, denn der Pfarrer machte einige Minuten keinerlei Anstalten weiterzugehen. Doch dann verschwand er in der dunklen Gasse. Antoine wagte nicht, ihm sofort zu folgen. Er sah sich gezwungen, eine Weile zu warten, und fürchtete schon, seine Spur verloren zu haben, als er ihm endlich in die Dunkelheit nachschlich. Der Pfarrer war wie vom Erdboden verschluckt.

Antoine folgte dem unbeleuchteten Weg, bis er sah, dass er sich mittlerweile auf einem Feldweg befand. Im schwachen Licht des Mondscheins entdeckte er gerade noch, wie der Geistliche auf einen etwas außerhalb gelegenen Bauernhof zustrebte und in einer Scheune verschwand. In gebückter Haltung hastete er ihm hinterher. Aus dem Inneren der Scheune hörte er die Stimmen mehrerer Männer, die sich in einem aufgeregten Gespräch befanden. Da das Tor nur angelehnt war, machte es ihm keine Mühe, sie zu belauschen. Schnell bekam er mit, dass es sich um eine Gruppe von Flüchtlingen handelte. Sie waren auf dem Weg in die Schweiz von ihrem Weg abgekommen und sollten schnellstmöglich an einen geheimen Ort gebracht werden, wo ein schweizerischer Fluchthelfer sie erwartete.

Antoine sah seine Chance gekommen, als er mitbekam, wie der Pfarrer dem Anführer der Gruppe versprach, sie an einen bestimmten Flusslauf zu führen, wo der Fluchthelfer auf sie wartete. Von seinen Patrouillen her war ihm die Gegend ungefähr bekannt. Wenn es ihm gelang, Laval rechtzeitig zu informieren, konnten sie die Gruppe abfangen. Er hatte genug gehört und beeilte sich, zurück zur Kaserne zu kommen.

Der Capitaine nahm die Neuigkeit mit Zufriedenheit auf. Er lobte Antoine für sein Handeln und entsandte sofort eine Truppe seiner Milizionäre. Sie wurden von Sergent Gaultier angeführt, Antoine musste sie begleiten. Für ihn war es sein erster bewaffneter Einsatz. Dementsprechend nervös war er. Gaultier, der aus der Gegend stammte, kannte die Stelle, an der die Flüchtlinge auf ihren Fluchthelfer treffen sollten. Ihre Absicht war es, vor der Gruppe an besagtem Flussabschnitt zu sein, um sie zu überraschen. Laval hatte ihnen eingetrichtert, auf jeden Fall auch den Fluchthelfer zu schnappen. Da der Treffpunkt der Flüchtlinge ein ganzes Stück von der Kaserne entfernt war, fuhren sie erst in Armeelastwagen, danach marschierten sie im Eiltempo durch die Dunkelheit. Sobald sie sich einem Punkt näherten, der hinunter in eine Schlucht führte, gab ihnen Gaultier die letzten Instruktionen.

»Der Platz ist verdammt gut gewählt«, informierte er sie. »Die Schlucht liegt ziemlich weit abseits und ist von oben nicht einsehbar. Der Fluchthelfer wird seine Leute über die gegenüberliegenden Berge in die Schweiz führen wollen. Dort gibt es kaum Dörfer und Höfe, dafür ausreichend Pfade, auf denen sie ungesehen fliehen können. Von der Schlucht aus führt ein steiler Pfad direkt in unwegsames Gelände. Wir müssen sie schnappen, bevor sie diesen Pfad erreichen. Also sorgen wir dafür, dass ihnen dieser Weg versperrt bleibt. Die Flüchtlinge werden sich vom Fluss her der Stelle nähern. Wenn Mardieu die Lage richtig eingeschätzt hat, haben wir einen guten Vorsprung. Wir schleichen uns sofort hangabwärts durch das Gelände, so können wir sicher sein, dass weder der Fluchthelfer noch die Flüchtlinge uns vorher entdecken. Zugegriffen wird erst auf mein Kommando. Der Gebrauch von Schusswaffen ist ausdrücklich erlaubt. Erschießt das Pack, wenn es zu fliehen versucht.«

Antoine bekam plötzlich ein mulmiges Gefühl. Erst jetzt wurde ihm bewusst, auf was er sich da eingelassen hatte. Sollte heute Nacht jemand ums Leben kommen, wäre er dafür verantwortlich. Bislang hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht. Er hatte ja nur seinen Vorgesetzten imponieren wollen. Doch um welchen Preis?

Um sein Gewissen zu beruhigen, versuchte er, sich einzureden, dass es sich ja nur um Juden handelte. Georges und seine Freunde hatte ihm oft genug gepredigt, dass sie Feinde des französischen Staates waren und eine Weltverschwörung angezettelt hatten. Als anständiger Christ war es seine Pflicht, das zu verhindern. Doch so richtig wohl wollte ihm bei dem Gedanken nicht werden.

Dem älteren Kameraden neben ihm fiel seine Schweigsamkeit auf. »Ist das dein erster Einsatz?«, fragte er ihn. »Da hatte ich auch Fracksausen. Schieß einfach drauflos, sobald das Kommando kommt. Dann ist es am wenigsten schlimm.« Der Mann hieß Charles Flambert und war ein kampferprobter Milizionär aus der Gegend um Chambéry. Er klopfte ihm auf die Schulter. »Bekommst ohnehin eine Auszeichnung, wenn das alles hier vorüber ist.«

Der Abstieg in die Schlucht war schwierig zu bewältigen. Es ging einen steilen, von Felsen und Gestrüpp durchsetzten Abhang hinunter. Der Boden war vom Regen der vergangenen Tage rutschig und bot nur wenig Halt. Vor allem mussten sie darauf achten, so wenige Geräusche wie möglich zu machen. Gaultier hatte den Flüchtlingen einen der Männer als Kundschafter entgegengeschickt. Als er zurückkam, berichtete er, dass man in etwas weniger als einer halben Stunde mit ihnen rechnen konnte. Ihr Anführer schärfte ihnen nochmals ein, sich möglichst ruhig zu verhalten. Der Fluchthelfer war mit großer Wahrscheinlichkeit schon vor Ort. Sie durften ihm keine Gelegenheit bieten zu entkommen. Antoine, der hinter einem Felsen etwa fünf Meter oberhalb der Senke Position bezogen hatte, wurde immer nervöser. Das Warten zehrte an seinen Nerven und ließ seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Er hoffte nur, dass die Flüchtlinge klug genug waren, sich ohne Gegenwehr festnehmen zu lassen, damit kein Blut vergossen wurde.

Endlich gab jemand das Zeichen, dass sich die Gruppe näherte. Etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt blieben die Flüchtlinge plötzlich stehen. Im Mondlicht konnte Antoine den Pfarrer erkennen, und so fühlte er sich umso mehr als Verräter. Vor wenigen Stunden hatte er noch mit ihm Karten gespielt. Und dann sah er, dass die Flüchtenden allesamt noch sehr jung waren. Der Geistliche redete auf sie ein und wies in die Richtung der Felsen, hinter denen sie sich versteckt hielten. Schließlich verabschiedete er sich und verschwand in der Dunkelheit.

Antoines Trupp hatte Order zu warten, bis sich die Flüchtlingsgruppe direkt unterhalb von ihnen befand und der Fluchthelfer sich zu erkennen gegeben hatte. Schweigend näherten sich die Kinder und Jugendlichen, sie ließen sich vor dem Felsen nieder. Antoine beobachtete ein kleines Mädchen, das sich auf einen Stein setzte und die wunden Füße rieb. Die anderen standen ratlos und verängstigt herum. Er erschrak, als er sah, dass die meisten höchstens elf oder zwölf Jahre alt waren, ein oder zwei mochten vielleicht fünfzehn oder sechzehn sein. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als ihm bewusst wurde, dass er für das alles hier verantwortlich war. Am liebsten hätte er die Kinder gewarnt, doch dazu war es nicht nur zu spät, er war auch zu feige.

Verdammt! Juden hin oder her, das hier waren unschuldige Kinder!

Aus den Augenwinkeln konnte er Gaultier und zwei andere Milizionäre sehen, die nur darauf warteten, dass es endlich losging. Alle wirkten hochkonzentriert. Ihre Finger saßen an den Abzügen, ihre Gesichter zeigten Entschlossenheit. Wäre er doch nur etwas mutiger! Ihm schlotterten die Knie vor Angst. Einen kurzen Augenblick erwog er, einen Stein zu werfen, um die Flüchtenden zu warnen. Doch das wäre von Flambert, der neben ihm Stellung bezogen hatte, bemerkt worden. Er wagte nicht einmal das. Er war ein verdammter Feigling. Dafür würde er sich den Rest seines Lebens hassen.

Dann wurde seine Aufmerksamkeit von einer Stimme, die vom Felsen über ihnen kam, abgelenkt.

»Kommt hier rauf!«, rief jemand mit schweizerischem Dialekt. »Ihr seid verraten worden!«

Sofort kam Bewegung in die Gruppe. Alle sprangen auf und versuchten, dem Rufenden Folge zu leisten. Da sie ganz in der Nähe des Felsens standen, bei dem der Pfad in die Höhe führte, gelang es den meisten tatsächlich, ihn zu erreichen. Gleichzeitig brüllte Gaultier: »En marche!«

Dann ging alles drunter und drüber. Antoine hörte die ersten Schüsse. Er sah, wie sich seine Kameraden in Bewegung setzten und den Hang hinunter zu den Kindern stürmten. Weitere Schüsse und Schmerzensschreie füllten die Luft, während er nicht fähig war, sich zu rühren. Flambert stieß ihm schließlich seinen Gewehrlauf in die Seite und zischte, er solle gefälligst seinen Arsch in Bewegung setzen.

Antoine folgte ihm wie in Trance. Er sah, wie Flambert eines der kleineren Mädchen packte und es auf den Boden schleuderte. Im nächsten Augenblick ließ einer der älteren Jungen einen Ast auf ihn niedersausen. Flambert fluchte und wandte sich dem Angreifer zu. Da löste sich ein Schuss aus seinem Gewehrlauf, und der Junge sank mit weit aufgerissenen Augen auf den Boden. Das Mädchen nutzte die Gelegenheit und verschwand eilig im Gebüsch.

»Los, folgen!«, befahl Gaultier und stürmte seinen Männern voran den Hügel hinauf.

Die meisten setzten sich sofort in Bewegung, während Antoine fassungslos neben Flambert trat und auf den toten Jungen starrte.

»Was ist?«, verteidigte der sich hitzig. »Der hat mich angegriffen. Ich hatte keine Wahl.«

Er riss Antoine mit sich. In der Dunkelheit war die Verfolgung schwierig. Sie schnappten noch das Mädchen, das nicht mehr gut laufen konnte, und seinen Bruder, der es nicht alleinlassen wollte. Die anderen konnten entkommen.

Zum ersten Mal in seinem Leben hasste sich Antoine für etwas, das er getan hatte.