18
Vom Zischen der Flügeltür, die den Wartebereich des Krankenhauses von der Intensivstation trennte, wachte ich auf. Ich sah gerade noch, wie die diensthabende Ärztin an mir vorbeihuschte.
»So warten Sie doch!«, rief ich ihr hinterher. Nach einer Nacht ohne Schlaf auf einem unbequemen Stuhl gelang es mir nur schwer, wieder auf die Beine zu kommen. Ich hastete der Frau hinterher. Seit Adèle am Vorabend im Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte ich hier ausgeharrt. Das ständige Hin und Her zwischen Bangen und Hoffen zerrte an meinen Nerven, vor allem, weil ich mich schuldig fühlte. Die Ärztin, eine vielleicht fünfzigjährige Frau, der man ihren anstrengenden Nachtdienst ansah, blieb stehen. »Wie geht es meiner Tante? Wird sie es schaffen?«, erkundigte ich mich atemlos.
»Ihr Zustand ist nach wie vor kritisch«, antwortete die Frau namens Dr. Kling-Hofer, wie ich ihrem Namensschild entnahm. »Die nächsten Stunden werden entscheidend sein.«
»Das höre ich nun schon zum x-ten Mal. Bitte sagen Sie mir ehrlich, ob sie überhaupt eine Chance hat!«
Die Ärztin runzelte genervt die Stirn, bevor sie sich dazu durchrang, mich anzulächeln. »Ihre Tante hatte einen schweren Herzinfarkt. Es war nicht ihr erster und auch nicht ihr zweiter.« Ihr Blick bekam nun etwas Vorwurfsvolles. »Sie muss das gewusst haben. Und Sie doch bestimmt auch. Außerdem ist sie vierundneunzig und von nicht sehr robuster Konstitution. Schon allein aus diesem Grund müssen Sie mit allem rechnen.«
»Na ja, sie wirkte in letzter Zeit schon angegriffen«, räumte ich ein, »aber sie hat nie etwas von einem Herzinfarkt erwähnt.« Ich rieb mir das Gesicht mit den Händen. »Mein Gott, sonst wäre ich doch niemals mit ihr auf diese Reise gegangen.«
Frau Dr. Kling-Hofer horchte auf. »Wollte Ihre Tante aus einem bestimmten Grund hierher?«, erkundigte sie sich nun doch interessiert.
Ich nickte müde. »Wir sind hier, um etwas über meinen Großvater herauszufinden. Er wird seit Ende des Zweiten Weltkriegs vermisst. Aber das hat sich alles nicht sehr gut entwickelt.« Ich berichtete ihr mit knappen Worten, was geschehen war. »Anstatt meinen Mund zu halten, habe ich ihr erzählt, dass mein Großvater ein mieser Kollaborateur und wahrscheinlich ein Kriegsverbrecher war«, endete ich und spürte wieder die damit einhergehende Enttäuschung, aber auch Trotz. »Dann erfuhr ich, dass meine Tante es die ganze Zeit gewusst hat. Sie hat mich und meine Mutter unser ganzes Leben lang angelogen, verstehen Sie?« Ich starrte die Ärztin finster an. »Ich habe sie mit meinem Ärger und meiner Enttäuschung konfrontiert. Vermutlich bin ich schuld an ihrem Zusammenbruch.«
Ich konnte nichts gegen die aufsteigenden Tränen tun. Außerdem schämte ich mich. Frau Dr. Kling-Hofer berührte sacht meine Schulter. Mit einem Mal zeigte sie echte Anteilnahme.
»Das erklärt einiges«, bemerkte sie einfühlsam. »Ihre Tante war vorhin kurz bei Bewusstsein. Sie sagte nicht viel, nur, dass sie unbedingt mit Ihnen zu reden wünsche. Ich hatte das Gefühl, dass ihr etwas schwer auf der Seele liegt.«
»Dann helfen Sie mir, ihr diese Last abzunehmen«, sagte ich fest entschlossen. »Ich muss bei ihr sein, wenn sie wieder zu sich kommt!«
Sie zögerte einen Augenblick. »In Ordnung, aber versprechen Sie mir, Ihre Tante keiner weiteren Aufregung auszusetzen. Ihr Herz würde das nicht verkraften.« Sie telefonierte kurz mit der Station und veranlasste, dass man mich hineinließ. »Klingeln Sie dort vorne, dann wird man Sie einlassen. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich werde noch woanders erwartet.« Sie nickte mir aufmunternd zu und verschwand.
Bevor ich mich auf den Weg zu Adèle machte, schrieb ich Valerie eine kurze Nachricht. Ich hatte ihr natürlich gesagt, was passiert war, und sie hatte mir mehrfach angeboten, zu mir in die Klinik zu kommen, was ich jedoch abgelehnt hatte.
Nachdem ich mir Schutzkleidung übergezogen hatte, betrat ich die Intensivstation. Als ich meine Tante kurz darauf so hilflos inmitten der vielen Monitore liegen sah, fühlte ich mich einfach nur schrecklich. Adèle, die für mich und meine Mutter immer wie ein Fels in der Brandung gewesen war, wirkte mit einem Mal so klein und zerbrechlich. Ihre Augen waren geschlossen, und ein Sauerstoffschlauch führte in ihre Nase. Herzrhythmus, Blutdruck, Körpertemperatur sowie der Sauerstoffgehalt ihres Blutes wurden auf einem Bildschirm angezeigt, Medikamente tropften über eine Kanüle direkt in eine Vene auf ihrem Handrücken. Am furchterregendsten war allerdings der dicke Schlauch, der in Adèles Brustkorb führte. Der Pfleger erklärte mir, dass es ein zentraler Venenkatheter sei, der es ihm ermögliche, die Blutfüllung im Kreislauf abzuschätzen oder der Patientin rasch wichtige Medikamente zu verabreichen.
»Die Atmung hat sich zum Glück in der Zwischenzeit wieder reguliert«, informierte er mich weiterhin. »Wir konnten vor einer halben Stunde das Beatmungsgerät wegnehmen. Über den Schlauch in der Nase bekommt sie Sauerstoff, der ihr das Atmen erleichtern soll. Die anderen Werte sind leider noch nicht im Normbereich.« Er zeigte auf einen Stuhl neben dem Bett. »Dort können Sie warten und ruhig auch mit Ihrer Tante reden. Selbst wenn sie gerade nicht bei Bewusstsein ist, bekommt sie vermutlich trotzdem mit, dass Sie hier sind.«
Ich nickte abwesend und setzte mich neben Adèle, während sich der Pfleger wieder in den Überwachungsraum zurückzog. Es kostete mich einige Überwindung, Adèles Zustand zu akzeptieren. In den ersten Minuten nahm ich nur ihre körperliche Hülle wahr, die von Maschinen versorgt vor mir lag. Erst als ich es wagte, ihre zarte, knotige Hand zu berühren, spürte ich, dass noch Leben in ihr war. Das gab mir Mut, sie direkt anzusprechen.
»Du kannst mich jetzt nicht alleinlassen«, sagte ich mit belegter Stimme. »Ich brauche dich doch noch!« Ich fühlte mich so schrecklich hilflos, dass ich schier zu verzweifeln glaubte. Diese Frau war doch alles, was ich noch an Familie hatte, und nun war es meine Schuld, dass es ihr so schlecht ging. »Verdammt, Mamie! Was war ich nur für ein Idiot! Ich hätte dich mit meinen Neuigkeiten nicht so überrumpeln dürfen!«
Ich nahm ihre blasse feine Hand zwischen meine beiden Hände und streichelte sanft über die durch das Alter markant gewordenen Adern und Sehnen. Das rief Erinnerungen in mir hervor. Früher, als ich noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Adèle immer ihre Späße über alte Hände gemacht. »Nirgendwo sonst an deinem Körper wird das Alter so deutlich wie an den Händen«, pflegte sie zu sagen. »Ein Mensch kann sich an vielen Stellen seines Körpers liften und glätten lassen, um jünger auszusehen. Aber die Hände werden immer sein wahres Alter verraten.« Durch ihren Beruf als Chefdesignerin in der Modebranche hatte sie die dem Jugendlichkeitswahn verschriebene Welt der Models zur Genüge miterlebt. Es war überhaupt ein Wunder, dass sie in all dem Glamour so bodenständig geblieben war. Trotz ihres aufreibenden Berufes war sie immer für Maman und mich da gewesen, ihr ganzes Leben lang. Aus dieser wundervollen, vom Alter gezeichneten Hand waren unzählige Entwürfe und Zeichnungen geflossen. Wie flink sie über das Zeichenpapier hatte huschen können und wie trostspendend sie gleichzeitig gewesen war. Ohne Adèle wäre ich nicht der Mann geworden, der ich heute war.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange ich so neben ihr saß und über die Vergangenheit und unser Verhältnis nachgedacht hatte. Irgendwann musste ich jedoch eingeschlafen sein, denn meine Erinnerung setzte erst wieder ein, als mich Adèles Stimme in die Wirklichkeit zurückholte.
»Danke, dass du hier bist«, waren die ersten Worte, die ich von ihr hörte.
Ihre Stimme war leise und ziemlich schwach. Noch benommen vom Schlaf dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass sie wieder bei Bewusstsein war. Ich hielt immer noch ihre Hand, die sich nun leicht in meiner bewegte.
»Es tut mir so leid wegen gestern. Ich konnte doch nicht ahnen, dass dich das alles so sehr mitnimmt …«
Sie unterbrach mich. »Mir tut es leid. Ich hätte Isabelle und dich nicht anlügen dürfen.« In ihren altersgrauen Augen bildeten sich Seen. »Das wirst du mir niemals verzeihen, nicht wahr?«
»Das weiß ich nicht, Mamie«, antwortete ich nach kurzem Zögern. Ich wollte keine Unwahrheiten mehr zwischen uns.
»Wie könntest du auch …«, bemerkte sie traurig.
Ihr Blick wanderte an die helle Zimmerdecke, und ich sah, wie schwer sie an all dem, was geschehen war, trug.
»Es war ein Fehler, dir Vorhaltungen zu machen«, durchbrach ich irgendwann die Stille. »Aber ich würde gern verstehen, weshalb du uns die ganze Zeit belogen hast. Weshalb hast du Antoine zu einem Helden gemacht, obwohl er gar keiner war? Isabelle und ich wären sehr gut mit der Wahrheit klargekommen.«
Ihr Blick wanderte von der Zimmerdecke wieder in meine Richtung. Es tat mir in der Seele weh zu sehen, wie sehr sie litt.