31
Die Fahrt von Berlin zurück nach Belley legte ich in glückseliger Euphorie zurück. Trotz der weit über tausend Kilometer, die mein Ziel von Berlin entfernt lag, hatte ich das Gefühl zu schweben. Meine Gedanken kreisten um nichts anderes als um die gemeinsame Zukunft mit Valerie. Es war einfach wunderbar, sich alles Mögliche auszumalen: Valerie und ich in Berlin, wir beide in Paris oder dort, wohin uns das Schicksal tragen würde. Sie war bereit, mit mir mein Leben zu teilen, und das war das Einzige, was zählte.
Mein Plan für die nächsten Tage stand bereits fest: Sobald ich meine Recherchen in Belley und Lyon hinter mir haben würde, wollte ich zu Adèle fahren, um zu sehen, wie sie mit ihrer neuen Gesellschafterin zurechtkam. Wir telefonierten jeden Tag, und ich hatte den Eindruck, dass es ihr einigermaßen gut ging. Die Nachricht, dass ich bei meinen Recherchen auf Marguérite gestoßen war, nahm sie zu meinem Bedauern mit Zurückhaltung und wenig Freude auf. Das ließ mich vermuten, dass Adèle meiner Großmutter weiterhin die Schuld an Antoines Schicksal gab und sie auch dafür verantwortlich machte, dass die beiden älteren Brüder nie entlassen worden waren. Sowohl Charles als auch Louis waren nicht aus ihrer Lagerhaft zurückgekehrt. Dass dies genauso wenig mit Fakten zu belegen war wie die Heroisierung ihres geliebten Bruders, war ein Teil ihrer Lebenslüge. Bei aller Liebe und Dankbarkeit, die ich für sie empfand, tat sie mir diesbezüglich doch leid.
Für mich hatte die Suche nach dem wahren Schicksal meiner Großeltern inzwischen eine fast größere Bedeutung gewonnen als die Arbeit an meinem Buch. Auch wenn die Möglichkeit nicht mehr von der Hand zu weisen war, dass mein Großvater das Kinderheim an den Schlächter von Lyon verraten haben könnte, musste ich mich dieser grausamen Wahrheit stellen. Wir vergessen unsere Fehler leicht, wenn niemand sie kennt außer uns. Die Worte des französischen Moralisten La Rochefoucauld sollten für mich nicht zu derselben Wahrheit werden wie für Adèle. Letztendlich war sie gegen Ende ihres Lebens an ihren Lügen gescheitert.
Ich war gespannt auf alles, was mir Claudille Bertrand noch über die Vergangenheit meiner Großeltern zu erzählen wusste. Als ich sie an einem der nächsten Tage besuchte, erwartete sie mich bereits mit frisch aufgebrühtem Tee und neuen, nicht sehr schmeichelhaften Informationen über Antoine. Wie bei meinem letzten Besuch hatten wir es uns wieder in der kleinen Sitzecke gemütlich gemacht, die einen Ausblick auf den mit alten Bäumen bewachsenen Park bot.
»Ich bewundere Ihren Mut, sich so intensiv mit der Vergangenheit Ihrer Familie zu befassen«, begann Claudille, ohne ihr Erstaunen zu verbergen. »Und ich frage mich natürlich auch, weshalb Sie das tun.« Ihre dunklen Augen ruhten forschend auf mir. Ich versuchte, ihr zu erklären, wie sehr ich darunter litt, dass meine Tante sich nie der Wahrheit gestellt hatte, dass ihr Bruder ein Kollaborateur gewesen war. Sie hörte meinen Argumenten aufmerksam zu, nickte hin und wieder und betonte, als ich ihr das Wesentliche erzählt hatte, dass dieser Mechanismus der Verdrängung sich im ganzen Land wie eine Krankheit ausgebreitet hatte. »Sehen Sie«, erklärte sie mit einem feinen, ironischen Lächeln, »nach dem Krieg gab es in ganz Frankreich nur Menschen, die für die Résistance gearbeitet haben wollten. Ich wundere mich, weshalb Hitler es dann geschafft hat, Frankreich so lange zu besetzen …« So sarkastisch die Bemerkung auch war, sie traf den Kern der Wahrheit. Adèle war da keine Ausnahme. Doch Claudille war eine viel zu kluge Frau, um die Dinge so einfach zu betrachten. Im nächsten Augenblick nahm sie Menschen wie meine Tante schon wieder in Schutz. »Es wäre dennoch ein Fehler, mit Ihrer Tante zu hart ins Gericht zu gehen«, ermahnte sie mich. »Der Mob ist mit den Kollaborateuren nach der Kapitulation nicht gerade sanft umgegangen. Jeder, der verdächtigt wurde, mit den Nazis zusammengearbeitet zu haben, wurde öffentlich an den Pranger gestellt. Man rasierte ihnen die Haare ab, hängte ihnen Schilder um den Hals, auf denen VERRÄTER stand, und jagte sie durch die Straßen, während sie mit Unrat beworfen wurden. Sie wurden gesellschaftlich geächtet, was sich zum Teil bis heute noch auswirkt. Das alles wollte Ihre Tante Ihnen und Ihrer Mutter ersparen.«
»So wie Sie es ausdrücken, hört es sich an, als wären Sie davon überzeugt, dass Antoine ein Verräter war.«
Claudille antwortete nicht sofort. Sie nippte an ihrer Tasse und schien genau abzuwägen, wie sie die folgenden Worte formulieren sollte. »Marguérite liebte Antoine. Daran erinnere ich mich noch ganz genau«, meinte sie bestimmt. »Sie hat ihm auf jeden Fall vertraut, und er hat zumindest dafür gesorgt, dass sie und ihr ungeborenes Kind der Razzia entkommen konnten.«
»Und was lässt Sie dann an seiner Loyalität zweifeln?« Ich wusste nicht, worauf die alte Dame hinauswollte.
»Nach dem Krieg gab es viele Gerüchte«, begann sie zögernd. »Die einen glaubten, ein Bauer aus der Gegend hätte die Kinderkolonie an die Nazis verraten. Er wurde sogar vor Gericht gestellt und der nationalen Unwürdigkeit für schuldig befunden. Doch den Verrat konnte man ihm nie nachweisen.«
»Sie sprechen von Lucien Bourdon«, bestätigte ich. Sie hatte mir bereits von ihm erzählt.
»Was ich Ihnen jedoch noch nicht erzählt habe, ist, dass mir Sabine Zlatin, die damalige Leiterin der Kolonie, zu einer guten Freundin geworden ist. Ihr ist es zu verdanken, dass es dieses Memorial heute gibt …« Sie begann wieder abzuschweifen, um mir von Sabine Zlatins Verdiensten zu berichten. Doch auch diese Geschichte war mir bekannt, bis auf die Tatsache, dass Claudille und Sabine miteinander befreundet gewesen waren. Ungeduldig hörte ich mir an, was sie noch zu sagen hatte, denn ich wollte ihren Erzählfluss nicht unterbrechen. »Madame Zlatin war eine ganz außergewöhnliche Frau«, erfuhr ich. »Sie hat zeit ihres Lebens nicht aufgehört, alles über die damaligen Ereignisse zu sammeln, damit sie niemals in Vergessenheit geraten. Sie hat uns gelehrt, wie wichtig es ist, die Erinnerung an die Gräueltaten aufrechtzuerhalten. Nur so können ähnliche Taten in der Zukunft vermieden werden. Denken Sie nur an die Nationalisten, die sich heutzutage überall im Land breitmachen …«
Ich gab ihr recht und versuchte, sie wieder zum Kern dessen, was sie erzählen wollte, zurückzuführen. »Lucien Bourdon wurde also freigesprochen«, hakte ich nach.
»Er wurde auf freien Fuß gesetzt. Das ist etwas anderes!«, widersprach Claudille energisch. »Aber Sie haben natürlich recht. In einem Rechtsstaat sollte die Unschuldsvermutung gelten, bis das Gegenteil bewiesen ist.« Sie seufzte und blickte mich etwas ratlos an, bis ihr wieder einfiel, auf was sie eigentlich hinauswollte. »Verzeihen Sie, dass ich so abgeschweift bin«, entschuldigte sie sich mit einem feinen Lächeln. »Je älter ich werde, desto schwieriger wird es für mich, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Marguérite hat mir damals erzählt, dass Antoine sie weggeschickt hat, weil sie sich in Sicherheit bringen sollte – nämlich in Grenoble bei seiner Schwester. Er selbst wollte zurück auf seinen Posten gehen, um ihr später zu folgen. Doch ich bezweifle mittlerweile, dass er das je vorgehabt hat. Sabine wusste von Marguérites Schwangerschaft, ihr war auch bekannt, dass Antoine das Kind ablehnte. Er fürchtete wohl nicht zu Unrecht, Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten zu bekommen, wenn das herauskam. Laut der Zeugenaussage eines Handlangers von Barbie pflegte Antoine ein enges Verhältnis zum SS-Obersturmführer persönlich. Er traf ihn regelmäßig, um ihm zu berichten. Womöglich war Antoine es, der einen der besten Untergrundkämpfer, einen Mann namens Gaston, an die Nazis verriet.« Claudille sah mich bedauernd an. »Es tut mir wirklich leid, wenn ich Ihnen damit zu nahe trete«, sagte sie, »aber Ihr Großvater wurde gesehen, als er in Brégnier-Cordon in einen der Lastwagen stieg, die die Kinder nach Lyon transportiert haben …«
Es war das eine, von einem neutralen Wissenschaftler vermittelt zu bekommen, dass der eigene Großvater ein Kollaborateur gewesen war, aber etwas ganz anderes, dies gewissermaßen von einer Zeitzeugin zu hören. Ich war erschüttert und schämte mich, obwohl ich Antoine nie kennengelernt hatte. Unfähig, etwas zu sagen, verharrte ich mit gesenktem Kopf neben ihr, bis unser Schweigen auch für Claudille so unerträglich wurde, dass sie mir mitfühlend ihre Hand auf den Arm legte.
»Selbst wenn es stimmt, dass Ihr Großvater der Verräter war«, versuchte sie, mich zu trösten, »so war zumindest Ihre Großmutter eine tapfere Frau, auf die Sie sehr stolz sein können.«
»Vermutlich bleibt mir nichts anderes übrig, als es so zu sehen.«
Mehr als ein trauriges Lächeln brachte ich nicht zustande. Es tat weh zu erfahren, dass der Großvater, den ich zeit meines Lebens für einen Helden gehalten hatte, in Wirklichkeit ein Ungeheuer gewesen war.
»Konzentrieren Sie sich lieber auf die Geschichte Ihrer Großmutter«, riet Claudille. »Vielleicht finden Sie ja noch etwas mehr über sie heraus. Ich habe in den vergangenen Tagen lange nachgedacht, und mir ist wieder eingefallen, wohin mein Vater Marguérite damals geschickt hat, nachdem sie sich bei uns auskuriert hatte. Ich habe natürlich keine genaue Adresse, aber ich kann Ihnen zumindest den Ort verraten – und den Namen der Familie, an die sie sich wenden sollte. Ihren Plan, direkt nach Grenoble zu Antoines Schwester zu fliehen, musste sie zunächst fallen lassen. Die Gestapo hatte die Operation Frühling gestartet, einen Großangriff gegen die Widerstandsbewegungen in den Departements Ain und Jura. Es war beinahe unmöglich, ohne gültige Papiere über öffentliche Straßen dorthin zu gelangen. Deshalb sollte sie diese Leute aufsuchen.« Sie griff nach einem Notizzettel und reichte ihn mir. »Mir bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Suche zu wünschen«, meinte sie abschließend. »Leider weiß ich nicht einmal, ob Marguérite jemals bei den Leuten angekommen ist.«
Claudille hob bedauernd die Hände, und ich stand auf, um mich zu verabschieden. Sie tat es mir gleich und bedachte mich mit einer herzlichen Umarmung. In ihrer rührenden Geste lag eindeutig Trost.
Noch am selben Tag verließ ich Belley und machte mich auf den Weg in das von Claudille genannte Dorf, das mitten im Vercors lag. Ich recherchierte, dass der Vercors während der deutschen Besatzung ein wichtiges Zentrum der Résistance gewesen war, er hatte als Rückzugsgebiet einer aktiven Gruppe von Maquisards gedient. Von hier aus waren etliche Partisanenüberfälle, die im Rhône-Tal und in den Alpen stattgefunden hatten, organisiert worden. In der Gegend hatte sich ein wichtiges Ausbildungszentrum samt Lazarett für die Widerstandskämpfer befunden.
Der durch tiefe Täler begrenzte Gebirgsstock im äußersten Westen der französischen Alpen war auch heute noch schwer zugänglich. Da der Fels an allen Seiten schroff anstieg, konnte das Gebiet erst im 20. Jahrhundert durch in das Gestein gesprengte Galerien für den Straßenverkehr zugänglich gemacht werden. Bevor meine Großmutter in dieses Gebiet geflohen war, waren laut Claudille am 1. Februar 1944 die Vercors-Kämpfer zu den Forces françaises de l’intérieur zusammengefasst worden, um von dort einen Aufstand gegen die Besatzer zu unternehmen. Die Alliierten und General de Gaulle hatten ihnen Luftlandetruppen zugesichert, die sie mit Waffen, Munition und wichtigen Gütern versorgen sollten. Die über viertausend dort versammelten Männer hatten darauf vertraut, so den Deutschen endlich den Garaus zu machen.
Doch die alliierte Zusage wurde nicht eingehalten, und die Partisanen blieben auf sich allein gestellt. Sobald die Deutschen von der Bedrohung Wind bekamen, starteten sie einen Gegenangriff. Im Juli 1944, einen Monat vor der Befreiung Grenobles durch die Alliierten, griffen deutsche Gebirgsjäger, eine Kampftruppe der Panzerdivision und zwei Kompanien Fallschirmjäger den Vercors an. Die Dörfer Vassieux-en-Vercors und La Chapelle-en-Vercors sowie zahlreiche Einzelgehöfte wurden fast vollständig niedergebrannt. In Vassieux wurden siebzig Zivilisten zur Abschreckung hingerichtet. Gefangene Widerstandskämpfer wurden als Freischärler erschossen. Auf diese Weise starben sechshundertneununddreißig Widerstandskämpfer und zweihunderteins Zivilisten. Die deutschen Verluste betrugen gerade mal hundert Mann. Die Widerstandskämpfer, die sich hatten in Sicherheit bringen können, hatten sich im Wald von Lente versteckt, eben jenem Ort, in dessen Nähe das Dorf St. Agnan lag, in dem angeblich auch meine Großmutter Zuflucht gefunden hatte.
Mittlerweile lag der Vercors in einem Naturschutzgebiet und diente als beliebter Ausflugsort für Wanderer und Naturliebhaber. In dem malerisch vor einem Gebirgshang gelegenen kleinen Ort St. Agnan gab es eine Kirche und eine kleine Gemeindeverwaltung. Dorthin ging ich, um die Familie Matthieu Charrin ausfindig zu machen. Die Gemeindemitarbeiterin zeigte sich sehr hilfsbereit und gewährte mir Einblick in die Akten, die noch im Ort aufbewahrt wurden. Doch die Einträge gingen nur bis in die frühen Siebzigerjahre zurück, und dort war keine Familie Charrin aufgeführt. Die freundliche Frau riet mir, mich an den Pfarrer im nächsten Ort zu wenden, der mir möglicherweise Einblick in alte Kirchenbücher gewähren konnte. Doch auch dort fand ich keinen Hinweis auf eine Familie Charrin oder jemanden mit ähnlichem Namen.
Nach zwei Tagen vergeblicher Mühe musste ich einsehen, dass meine Suche wohl an einem Endpunkt angelangt war. Ich wollte schon aufgeben, aber Valerie, mit der ich jeden Tag telefonierte, riet mir, wenigstens in Ruhe mit meinen Recherchen abzuschließen. Da ich schon einmal vor Ort war, beschloss ich, mir noch das Museum der Résistance in Vassieux anzusehen und dann am nächsten Tag zu meiner Tante zu fahren. Meinen Campingbus hatte ich auf dem örtlichen Campingplatz abgestellt. Den Weg zum Museum legte ich zu Fuß zurück. Auf dem Rückweg traf ich beim Überqueren einer Wiese auf einen Schäfer, mit dem ich ins Gespräch kam.
Der Mann war überaus gesprächig und erzählte mir, dass die Schafe seiner Familie schon seit Generationen die umliegenden Wiesen abgrasten. Er kannte sich nicht nur mit Schafen aus. Auf meine Frage nach der Familie Charrin erinnerte er sich tatsächlich. Jemand mit diesem Namen hatte in einem etwas abgelegenen Weiler gelebt.
»Allerdings gehört das Gehöft schon lange nicht mehr den Charrins«, fuhr er fort und enttäuschte meine Erwartungen damit sofort wieder. »Die neuen Besitzer haben den Bauernhof schon vor vielen Jahren umgebaut, sie vermieten gîtes an Touristen. Keine Ahnung, ob da noch jemand weiß, was mit den Vorbesitzern geschehen ist.«
Er gab mir eine genaue Wegbeschreibung. Ich machte mir keine allzu großen Hoffnungen, beschloss jedoch hinzufahren. Die Möglichkeit, auf noch lebende Zeitzeugen zu treffen, war mehr als unwahrscheinlich. Die Leute, die Marguérite damals aufgenommen hatten, mussten heute an die hundert Jahre alt sein. Davon abgesehen war es nicht einmal sicher, dass sich noch jemand an die Vorbesitzer erinnerte. Dennoch wollte ich den Ort sehen, schon allein, weil dort mit einiger Wahrscheinlichkeit meine Mutter geboren war. Ich stellte mir vor, ihr auf diese Art noch einmal nah sein zu können. In diesem Moment vermisste ich sie sehr. Ihr viel zu früher Krebstod wurde mir einmal mehr schmerzlich bewusst.
Im Nachhinein verdamme ich diesen romantischen Gedanken. Wäre ich doch nur gleich zu Adèle gefahren, dann wäre mir viel Unglück erspart geblieben. Doch das Schicksal würde seinem Ruf nicht gerecht, könnte man es nach seinem Gutdünken selbst lenken.
Der Weiler Les Trucs war eine Ansammlung mehrerer größerer und kleinerer Steinhäuser und Scheunen. Die Besitzer betrieben ökologische Landwirtschaft und hatten in die Nebengebäude geschmackvolle Ferienwohnungen integriert. Die Bauersfrau, eine geschäftstüchtige Frau Mitte dreißig, empfing mich herzlich. Sie hielt mich für einen Urlauber, der eines ihrer gîtes mieten wollte, und zeigte mir bereitwillig ihr Anwesen. Um mir in Ruhe einen Eindruck machen zu können, ließ ich sie eine ganze Weile in dem Glauben. Erst gegen Ende ihrer Führung rückte ich mit der Sprache heraus – ich erklärte ihr die Hintergründe meines Besuches und erkundigte mich nach Matthieu Charrin und seiner Familie.
»Oh, natürlich erinnere ich mich an Matthieu und seine Frau Irène«, überraschte sie mich. »Die beiden waren wie Großeltern für mich. Sie lebten noch lange in dem kleinen Häuschen dort hinten.« Sie zeigte auf ein Steinhaus, das nun ebenfalls als Ferienwohnung diente. »Mein Vater kaufte den Hof schon in den Siebzigerjahren«, verriet sie mir bereitwillig. »Meine Schwestern und ich sind hier aufgewachsen. Matthieu hat meinem Vater immer wieder bei Arbeiten ausgeholfen. Er und seine Frau lebten bis 1994 bei uns. Dann ist er gestorben, und Irène zog in ein Altenheim. Sie starb ein oder zwei Jahre später.«
»Hatten die beiden Kinder?«, erkundigte ich mich.
»Leider nein! Sie starben ohne Nachkommen, deswegen haben sie den Hof ja auch an meinen Vater verkauft!«
»Dann gibt es also niemanden mehr, der sich an die Zeit gegen Ende des Krieges erinnern könnte …« Es gelang mir nur schwer, meine Enttäuschung zu verbergen. »Es ist nämlich gut möglich, dass hier auf Ihrem Hof meine Mutter geboren wurde«, antwortete ich auf ihren fragenden Gesichtsausdruck hin. »Im Spätsommer 1944.«
»Dann war Ihre Großmutter auch eine Maquisarde?«, fragte die Bauersfrau voller Respekt.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß leider nicht allzu viel über sie.«
»Noch heute erzählen die Leute von den Ereignissen damals.« Sie dachte eine Weile nach, bevor sie fortfuhr. »Matthieu gehörte auf jeden Fall auch zur Résistance. Ich erinnere mich nicht, an welchen Aktionen er im Einzelnen beteiligt war. Ich weiß nur, dass er gut vernetzt war und Beziehungen zu den Partisanen an der Rhône und besonders nach Aix-en-Provence hatte. Wir wohnten schon auf dem Hof, als er immer noch Besuch von alten Kampfgenossen bekam. Einer davon war Xavier, sein ehemaliger Knecht.« Ihr Gesicht erhellte sich. »Möglicherweise weiß der noch etwas aus dieser Zeit. Wenn mich nicht alles täuscht, lebt er noch in St. Agnan. Sein Nachname ist Moulin.«
Ich bedankte mich herzlich bei der sympathischen Frau und machte mich wieder auf den Weg. Da das Gemeindeamt in St. Agnan bereits geschlossen hatte, konnte ich erst am nächsten Tag seine Adresse in Erfahrung bringen. Den Abend verbrachte ich in meinem Bus auf einem Campingplatz. Da es draußen mittlerweile ungemütlich kalt geworden war, stellte ich die Standheizung an und ließ das Erlebte noch einmal Revue passieren. Wenig später fegte ein Unwetter über den fast verlassenen Campingplatz und riss unzählige Blätter von den Bäumen. Der Wind rüttelte an meinem alten Bus, sodass ich bereute, nicht doch ein gîte gemietet zu haben. Außerdem fühlte ich mich einsam. Ich beschloss, Valerie anzurufen, um sie über den neuesten Stand meiner Nachforschungen zu informieren. Sie freute sich, meine Stimme zu hören, aber wegen des heftigen Regens und der mächtigen Felswände um mich herum war die Verbindung so schlecht, dass unser Gespräch immer wieder unterbrochen wurde. Notgedrungen musste ich es schließlich beenden.
»Ich melde mich morgen, wenn ich bei Adèle bin«, versprach ich ihr.
Am nächsten Morgen hüllte dichter Nebel die Landschaft in ein gespenstisches Licht. Die Luft war feucht und kalt, als ich meinen Campingbus startklar machte, um nach St. Agnan zu fahren. Ein freundlicher Mitarbeiter der Gemeinde gab mir Moulins Adresse. Wie sich herausstellte, hatte er früher ebenfalls als Gemeindeangestellter gearbeitet und lebte jetzt in einer günstigen Wohnung gleich neben der Kirche.
Ich ließ meinen Bus stehen und machte mich zu Fuß auf den Weg. Meine Erwartungen waren nicht allzu hoch, aber dennoch verspürte ich eine gewisse Anspannung, als ich an seiner Tür klingelte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich schlurfende Schritte vernahm, und noch einige Zeit, bevor die Tür geöffnet wurde. Dann stand ich endlich einem gebrechlichen alten Mann gegenüber, der sich schwer auf einen Rollator stützte. Er wirkte ziemlich verwahrlost.
»Mein Name ist Rick Mardieu«, klärte ich ihn rasch auf, »ich habe Ihre Adresse vom Gemeindeamt.« Der Mann regte sich nicht, sondern musterte mich nur argwöhnisch. Wahrscheinlich überlegte er, ob er mir die Tür gleich wieder vor der Nase zuschlagen sollte. »Ich würde gern etwas mehr über meine Mutter erfahren, die vermutlich hier in der Gegend geboren wurde. Das war 1944, kurz vor Kriegsende.«
»Und was hab ich damit zu schaffen?«, grunzte Xavier Moulin unfreundlich.
»Ich möchte herausfinden, ob Sie meine Großmutter kannten. Bitte lassen Sie es mich erklären! Kann ich vielleicht reinkommen?«, erwiderte ich vorsichtig. Ich sah an Moulins Miene, wie er darüber nachdachte. Sein Wunsch, mich abblitzen zu lassen, kämpfte mit seiner Neugier. Schließlich siegte Letztere, vermutlich, weil er ein einsamer alter Mann war.
»Von mir aus«, brummte er schließlich und ließ mich widerwillig an sich vorbei.
In der Wohnung roch es nach abgestandener Luft und Urin. Moulin forderte mich auf, ihm zu folgen, dabei brabbelte er unfreundlich vor sich hin. Er führte mich in eine enge Küche, in der ein Gasherd, eine Steinspüle und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen standen. Durch ein schmales verschmutztes Fenster mit vergilbten Gardinen fiel trübes Licht. Der alte Mann hatte sich gerade einen Kaffee aufgebrüht. Schwerfällig ließ er sich auf einem der Stühle nieder und hob erwartungsvoll sein Kinn. Ich nahm mir die Freiheit, auf dem anderen Stuhl Platz zu nehmen.
»Also, was wollen Sie wissen?«, blaffte Moulin unfreundlich. Als ich nicht gleich antwortete, wurde er misstrauisch. »Oder sind Sie etwa vom Sozialamt? Dann können Sie gleich wieder verschwinden. Sie sehen doch, dass ich ganz gut allein zurechtkomme!«
»Ich bin von keinem Amt«, versicherte ich rasch. »Wie gesagt. Es geht um meine Mutter und meine Großmutter. Vielleicht erinnern Sie sich ja noch an sie. Sie haben doch früher in Les Trucs auf Matthieu Charrins Hof gearbeitet, nicht wahr?«
»Wieso wollen Sie das wissen?« Xavier blieb weiter misstrauisch und stur. Es kostete mich geraume Zeit, bis ich ihm in einfachen Worten erklärt hatte, weshalb ich hier war. Nach einer Weile gab der alte Mann endlich seine Zurückhaltung auf. Während er sich Unmengen von Zucker in seinen Kaffee schüttete, hörte er mir mit wachsender Aufmerksamkeit zu. »O ja, ich erinnere mich noch genau an die hübsche junge Frau, die damals zu uns auf den Hof kam«, meinte er plötzlich mit einem breiten Grinsen. Ich sah, dass sein Mund bis auf wenige Relikte zahnlos war. Seine Antwort ließ sofort eine vage Hoffnung in mir aufkeimen. »Die Kleine war Jüdin und hochschwanger. Kam wohl aus irgendeinem Kinderheim, in dem die Nazis eine Razzia gemacht haben. Sie ist ihrer Deportation nur knapp entgangen. Die boches haben sie nicht erwischt, weil sie bei einem Freund von Matthieu Unterschlupf gefunden hat.« Er klopfte mit seinen knotigen Fingern stolz auf den Tisch. »Wir haben damals alle für den Untergrund gearbeitet und den Deutschen so manches Schnippchen geschlagen, verstehen Sie?«
»Das war sehr mutig und gewiss nicht immer leicht«, bestätigte ich. Mein ganzer Körper kribbelte vor Aufregung. »Sie waren also auch bei der Résistance?«
»Ich war Kundschafter, weil ich mich in den Bergen gut auskannte«, erklärte Moulin stolz. »Gehörte zu Matthieus Gruppe. Er vertraute mir wie kaum einem anderen.«
»Hieß die Frau, die damals bei Ihnen war, vielleicht Marguérite?«, versuchte ich, wieder zum Thema zurückzukehren.
Das Gesicht des alten Mannes erhellte sich erneut. »O ja! Nun erinnere ich mich wieder. Als sie hier ankam, nannte sie sich Marguérite, aber dann haben wir ihr einen anderen Namen gegeben, weil es in unserer Gruppe noch eine Marguérite gab. Wie war er nur gleich wieder …«
Er überlegte angestrengt, als hinge davon alles Weitere ab. Doch mir war der Spitzname im Augenblick nicht so wichtig. Ich wollte herausfinden, ob es sich wirklich um meine Großmutter handelte.
»War Marguérite lange in Les Trucs?«, versuchte ich, Moulin bei der Stange zu halten.
Er blinzelte verwirrt, bevor er sich wieder besann. »Sie war auf jeden Fall noch da, als die Deutschen hier alles niedergemacht haben.« Plötzlich verdüsterte sich seine Miene, und er ballte seine Hände zu Fäusten. »Wir mussten uns damals wochenlang im Wald von Lente verstecken, während die Frauen hier die Stellung gehalten haben. War ’ne gefährliche Zeit, wenn jemand wie du sich überhaupt vorstellen kann, was das bedeutet!« Er warf mir einen abschätzigen Blick zu. Ganz selbstverständlich duzte er mich mit einem Mal.
»Meine Generation hatte Glück, dass sie so etwas nicht erleben musste«, versicherte ich ihm, woraufhin er bestätigend nickte.
»Verdammtes Glück!«
Ich musste ihn am Reden halten. »Was ist mit den Frauen geschehen, als ihr Männer euch im Wald versteckt habt? War es nicht gefährlich, sie den Deutschen zu überlassen?«
»Wer den Nazis in die Finger kam, hatte tatsächlich nichts zu lachen«, bestätigte Moulin grimmig, »aber Irène und diese … Verdammt, wie haben wir sie noch mal genannt?« Seine Gedanken wanderten erneut ab.
»Den beiden ist also nichts geschehen?«, half ich ihm wieder auf die Sprünge.
Moulin schüttelte unwillig den Kopf, wobei ich mir nicht sicher war, was das bedeutete. Dann begann er, wie wild in seinem Kaffeebecher zu rühren.
»Wieso wollen Sie noch mal so genau wissen, was mit dieser Frau geschehen ist?«, verlangte er unvermittelt zu erfahren.
Seine rot geränderten Augen machten einen eindeutig verwirrten Eindruck. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, inwieweit der Mann noch seinen Verstand beieinanderhatte.
»Marguérite, diese schwangere Frau, war mit ziemlicher Sicherheit meine Großmutter«, erklärte ich noch einmal. »Sie muss damals kurz vor ihrer Niederkunft gestanden haben. Es ist gut möglich, dass sie ihr Kind hier zur Welt gebracht hat. Es war ein Mädchen, und dieses Mädchen war meine Mutter, verstehen Sie?«
Ich sah ihn erwartungsvoll an. Moulin kratzte sich am Kopf und sagte eine ganze Weile gar nichts mehr. Vermutlich war alles, was der Mann bislang von sich gegeben hatte, von keinerlei Bedeutung. Doch dann ging ein Leuchten über sein Gesicht, dem ein trauriges Lächeln folgte.
»Stimmt, ja! Die Frau hat hier tatsächlich ein Mädchen auf die Welt gebracht«, bestätigte er mir endlich. »Was dann jedoch folgte, damit hatte niemand gerechnet …«
»Gab es Komplikationen?«
Moulin sah mich irritiert an. »Wieso Komplikationen?« Er dachte nach und nickte. »Na ja, so kann man es natürlich auch sehen«, fügte er hinzu.
»Was war es denn, mit dem niemand gerechnet hat?«, erinnerte ich ihn angespannt. Seine umständliche Art begann, an meinen Nerven zu zehren.
»Sie wissen es also gar nicht?«
»Was soll ich denn wissen? Ich wäre nicht hier, wenn ich wüsste, was damals geschehen ist.« Dann glaubte ich zu begreifen. »Ist meine Großmutter bei der Geburt meiner Mutter gestorben?«, erkundigte ich mich vorsichtig.
»Keinesfalls! Sie haben wirklich keine Ahnung, was?« Der alte Mann grinste selbstgefällig. »Gigi, ja so hieß sie, Gigi hat damals Zwillinge auf die Welt gebracht. Wenige Minuten nach dem Mädchen kam noch ein Junge zur Welt.«
»Sie … sie bekam Zwillinge?«
Diese Nachricht brachte mich völlig aus dem Konzept. Aber noch etwas ließ mich stutzen. Er hatte Marguérite Gigi genannt. Den Namen hatte ich bereits von Valerie und Aaron mehrfach gehört. Allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang. Die Nachricht musste ich erst einmal verdauen. Tausend Gedanken gingen mir gleichzeitig durch den Kopf. Ich versuchte, sie zu ordnen, dann wurde mir langsam ihre Tragweite bewusst.
Moulin nickte unterdessen eifrig und war nun gar nicht mehr zu bremsen. »Das Mädchen war ziemlich klein und schwach, aber der Junge war kräftig und stark, wie es sich für einen kleinen Mann gehört!«
»Und … und … was ist mit ihnen geschehen?«
In meinem Unterbewusstsein begann es zu arbeiten. Hatte Valerie mit ihrer mir damals so lächerlich vorkommenden Ahnung etwa doch nicht danebengelegen? War Marguérite beziehungsweise Gigi unsere gemeinsame Großmutter? Das konnte, das durfte einfach nicht sein. Moulin fuhr fort. Er wurde richtig mitteilsam. Leider ließ jedes seiner nun folgenden Worte die Ahnung immer mehr zur Gewissheit werden.
»Wir waren alle ziemlich überrascht«, sprudelte es aus ihm heraus. »Keiner von uns hätte gedacht, dass die zarte Gigi Zwillinge unter dem Herzen trug.« Dann schlug er sich mit der Faust gegen den Kopf und strahlte übers ganze Gesicht. »Nun erinnere ich mich sogar wieder an die Namen der Babys. Das Mädchen hieß Isabelle wie meine kleine Schwester. Und der Junge …« Er kam doch wieder ins Grübeln. »Der hatte einen biblischen Namen. Wie war der noch mal?« Xavier Moulin verzog angestrengt das Gesicht, während mir abwechselnd heiß und kalt wurde. Das konnte, das durfte einfach nicht sein. »Der Kleine hieß Aaron!«, verkündete er erleichtert und machte damit all meine Hoffnungen zunichte, falsche Schlüsse gezogen zu haben. Den Rest seiner Erzählung nahm ich wie hinter einem dichten Schleier wahr. »So groß die Freude über die Kleinen auch war«, fuhr er unbeirrt fort, »so viele Probleme brachten sie mit sich. Die Gegend war nach der Invasion der boches nicht mehr sicher. Die Soldaten haben alle Häuser durchsucht und die Papiere der Bewohner kontrolliert. Gigi hatte keine Papiere. Sie und die Kinder waren in großer Gefahr und mussten rasch untertauchen. Allein mit beiden hätte sie das niemals geschafft. Also war sie gezwungen, sich von einem der Kleinen zu trennen. Das ist ihr nicht leichtgefallen. Ich erinnere mich noch, wie sehr sie weinte, als sie Irène mit dem Mädchen zurücklassen musste. Sie wurde, glaube ich, zu einer Großtante nach Grenoble gebracht. Dann hat Matthieu Gigi und den Jungen über die Berge in die Nähe von Aix gebracht. Dort hatte er andere Freunde aus dem Untergrund, die die zwei aufnahmen. Gigi hat sich den Maquisards angeschlossen und wurde eine bekannte Kämpferin für die Résistance. Irgendwann wurde sie jedoch festgenommen und später von den Milizen erschossen.« Moulin hatte plötzlich Tränen in den Augen. »Wenn Gigi wirklich deine Großmutter war, kannst du mächtig stolz auf sie sein!«
Wie benommen verabschiedete ich mich von dem alten Mann. Ich versuchte, mir einzureden, dass er dement war und ich seinen Erzählungen nicht zu glauben brauchte. Doch bei all seiner Verwirrtheit hatte er sich ganz genau an die Vergangenheit erinnert, und die Tatsache, dass er sogar die Namen von Marguérites Kindern kannte, räumte jegliche Zweifel aus.
Mit einem Mal passten die vielen, scheinbar zusammenhangslosen Puzzlestücke zueinander und ergaben ein schlüssiges Bild. Um meine Schlussfolgerungen zu beweisen, bedurfte es nur noch eines einfachen Gentests, der beweisen würde, dass Valerie und ich miteinander verwandt waren. In diesem Moment wünschte ich mir von ganzem Herzen, ich hätte die Suche nach meinen Großeltern nie begonnen.