Izieu, Frankreich, September 1943

Antoine konnte sich nicht erklären, was ihn dazu bewogen hatte, Marguérite auf die Bühne zu nötigen. Er hatte sie inmitten des Publikums sitzen sehen und einfach nicht widerstehen können. Seitdem er sie bei ihrer ersten Begegnung auf der Wiese hatte singen hören, hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als einmal gemeinsam mit ihr aufzutreten. Er hatte die Gelegenheit einfach ergriffen und es nicht bereut. Schon die Art, wie sie sich hatte bitten lassen, hatte ihm verraten, dass sie es eigentlich genoss. Er hatte die Vorfreude auf einen Auftritt in ihren Augen gesehen und erkannt, dass sie die Musik genauso liebte wie er. Was dann gekommen war, war einfach zauberhaft gewesen. Sie beide harmonierten perfekt zusammen auf der Bühne. Ohne Absprache hatten sie sich allein durch die Kraft der Musik verstanden.

Als sie sich gemeinsam nach ihrem Auftritt verbeugten, strahlte Marguérite von innen heraus, und er musste an sich halten, sie nicht einfach zu küssen.

»Sie waren wundervoll«, war das Einzige, was er herausbrachte.

»Und Sie sind unmöglich«, erwiderte sie schnippisch. Allerdings straften der Glanz und das Lächeln, das ihr Gesicht erhellte, ihre Worte Lügen.

Viel zu schnell wurde der Moment der Nähe von Yves unterbrochen, der als Leiter des Organisationskomitees auf die Bühne kam und ihnen gratulierte. Dann bat er sie, später noch einmal gemeinsam zu musizieren.

Dieses Mal zierte sich Marguérite nicht, sie sah Antoine herausfordernd an. »Ich bin einverstanden, wenn ich die Chansons auswählen darf.«

»Abgemacht!« Er strahlte.

Sie kamen überein, sich nach dem Essen wieder zu treffen. Am liebsten hätte er sie gleich begleitet, doch mittlerweile waren die Musiker vollzählig, und das Publikum wartete darauf, weiter unterhalten zu werden. Bedauernd sah er, wie Marguérite sich wieder zu ihren Freunden an den Tisch setzte. Widerstrebend gesellte er sich zu den Musikern. Kurz darauf spielten sie auf.

Für Antoine stellte die einfache Tanzmusik keine besondere Herausforderung dar. Er fügte sich ohne Probleme in das kleine Orchester ein und hatte sogar noch die Muße, Marguérite und ihre Freunde nebenbei zu beobachten. Dieser Bourdon war leider ebenfalls in ihrer Nähe. Wie kann sie den Grobian nur in ihrer Nähe dulden?, fragte er sich zum x-ten Mal. Während des gemeinsamen Auftritts gerade eben hatte er das Gefühl gehabt, dass er Marguérite nicht ganz gleichgültig war. Es war nicht nur die Musik, die sie verband, da war noch etwas anderes. Ihre Blicke und das rätselhafte Lächeln, das sie ihm hin und wieder schenkte.

Dann bekamen seine Hoffnungen jedoch einen Dämpfer – ausgerechnet Bourdon und Marguérite fanden sich als erstes Tanzpaar auf der Tanzfläche ein. Neidlos musste Antoine anerkennen, dass Bourdon ein glänzender Tänzer war. So unbeholfen und taktlos er sich sonst benahm, so leichtfüßig bewegte er sich auf der Tanzfläche. Marguérite hatte offenbar ihren Spaß daran. Sie lachte ihrem Tanzpartner so fröhlich zu, dass es Antoine einen Stich versetzte.

Endlich war das Musikstück und damit die Tanzrunde zu Ende. Bourdon führte Marguérite zurück auf ihren Platz, wobei er ganz selbstverständlich seinen Arm um ihre Schultern legte. Die Musikgruppe legte eine kleine Spielpause ein. Antoine beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, um mit Marguérite über ihren anstehenden Auftritt zu reden.

Zielstrebig steuerte er auf ihren Tisch zu, worauf Bourdon ihn prompt mit einem missfälligen Blick empfing. Das andere Pärchen lächelte ihm freundlich zu. Sie stellten einander vor. Die beiden arbeiteten ebenfalls in dem Kinderheim. Mit der jungen Frau – er glaubte sich zu erinnern, dass sie Léa hieß – schien Marguérite befreundet zu sein.

»Der Auftritt von euch beiden vorhin war ganz große Klasse«, begrüßte Léa ihn unbefangen. »Das verlangt unbedingt nach einer Zugabe.«

»Komm, setz dich zu uns«, lud ihr Begleiter, der sich ihm als Léon vorstellte, ihn ein.

Er rückte ein wenig beiseite, sodass Antoine direkt gegenüber von Marguérite Platz nehmen konnte. Als sie ihm ein offenes Lächeln schenkte, wurde ihm ganz warm ums Herz. Ja, er hatte sogar den Eindruck, sie freute sich, dass er sich zu ihnen gesetzt hatte. Léon verstrickte ihn sofort in ein Gespräch über Musik, in das sich zu seiner Freude sowohl Léa als auch Marguérite einmischten. Wie es auf dem Dorf üblich war, duzten sich alle ganz selbstverständlich. Auch Marguérite sprach ihn endlich vertraut an.

Lucien Bourdon gefiel diese Art der Unterhaltung überhaupt nicht. Er hielt sich missmutig aus allem raus und warf Antoine immer wieder feindselige Blicke zu, die ihm deutlich klarmachten, dass er gefälligst seine Finger von Marguérite lassen sollte. Er beschloss, sich davon nicht beeindrucken zu lassen, sondern konzentrierte sich lieber auf die anderen. Endlich fand er die Gelegenheit, Marguérite zu fragen, wo genau sie ihre musikalische Ausbildung absolviert hatte.

»Meine Mutter war eine recht bekannte Sopranistin«, erwiderte sie einsilbig. »Ich hatte Unterricht bei ihr.« Er wollte nachfragen, doch sie ließ es nicht zu, sie wechselte geschickt das Thema. Was er davon halte, wenn sie ein Potpourri von Jacques Offenbach zum Besten geben würden, wollte sie wissen. »Das wird die Leute hier bei Stimmung halten. Was denkst du?«

Sie stützte die Ellenbogen auf und nahm ihr Gesicht in die Hände, während sie ihn schelmisch anblinzelte. Sie sah einfach bezaubernd aus.

»Eine wunderbare Idee! An welche Lieder hast du gedacht?«

Antoine konnte seinen Blick nicht von Marguérite abwenden, solange sie sprach. Gleichzeitig fragte er sich, weshalb sie so ein Geheimnis um ihre Herkunft machte. Vertraute sie ihm so wenig? Es war doch offensichtlich, dass sie auch andere Lehrer außer ihrer Mutter gehabt haben musste. Ihre Stimme war außerordentlich gut geschult. Außerdem bezweifelte er, dass sie aus der Schweiz kam. Ihr Französisch hatte einen unüberhörbaren Akzent, aber ganz und gar keinen schweizerischen.

Seine Vermutung, dass sie aus Deutschland geflüchtet war, verstärkte sich. Das würde auch ihre Reserviertheit ihm gegenüber erklären. Sie hatte natürlich Angst, dass er sie verriet. Flambert hatte ihm erst neulich gesteckt, dass die Zlatins jüdischen Glaubens waren. Seine heimliche Geliebte Clotilde, die Bäckersfrau, hatte es ihm aus Versehen verraten. Nur Sabines Anstellung bei der OSE schützte die Zlatins im Augenblick noch vor offizieller Verfolgung. Zum Glück war es nicht seine Pflicht, so etwas zu melden. Sein einziger Befehl lautete, diesen Gaston ausfindig zu machen. Er hoffte nur, dass auch Flambert dieses Wissen für sich behielt.

»Hey, glotz mein Mädchen nicht so unverschämt an«, riss Bourdon ihn aus seinen Gedanken.

Er warf ihm einen grimmigen Blick zu und legte gleichzeitig besitzergreifend seinen Arm um Marguérites Schultern.

»Finger weg«, zischte diese erbost und stieß ungnädig seinen Arm von sich.

Antoine konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Allzu sehr schienen sich die beiden also noch nicht einig zu sein.

»Du bist mit mir hier«, raunzte Bourdon verstimmt und schenkte sich aus einer Karaffe Wein ein. Sein Alkoholkonsum ließ ihn allmählich die Selbstbeherrschung verlieren.

»Wir waren zum Tanzen verabredet. Das heißt nicht, dass ich dein Eigentum bin«, wies Marguérite ihn streng zurecht. »Außerdem solltest du langsam aufhören mit dem Trinken!«

Bourdon lachte abfällig. »Sollst mal sehen, wie viel ein Mann wie ich vertragen kann!« Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Halt dich aus so was gefälligst raus, Weib. Beim nächsten Tanz zeig ich dir, wie klar ich noch bin.«

»Ich werde überhaupt nicht mehr mit dir tanzen, wenn du weiter trinkst.«

Marguérite ließ sich nicht unterkriegen. Bourdon antwortete mit einem abfälligen Prusten und leerte sein Glas in einem Zug, nur um es erneut zu füllen. Als Marguérite angewidert von ihm abrückte, packte er sie an der Schulter und zog sie so fest an sich, dass sie sich nicht ohne Weiteres aus seinem Griff befreien konnte.

»Das ist meine kleine Wildkatze, so wie ich sie liebe«, verkündete er besitzergreifend in die Runde.

»Lass mich sofort los, du Grobian!«

Marguérite war ebenso empört wie verlegen. Antoine sah, wie peinlich ihr die Situation war. Und ihm wurde klar, dass sie sich nicht heftiger wehrte, um kein Aufsehen zu erregen. Auch Léa und Léon wussten offenbar nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Bourdon verstand es als seinen Sieg und hielt Marguérite weiterhin wie in einem Schraubstock eingeklemmt.

Antoine war nicht bereit, das länger mit anzusehen. »Lass sie sofort los!«, befahl er mit ruhiger Stimme. »Du hast doch gehört, dass Marguérite das nicht wünscht.«

»Halt dich da raus! Marguérite ist mein Mädchen.« Bourdon musterte ihn mit einem kräftemessenden Blick, ohne seine Finger von ihr zu lassen.

Antoine dämmerte, dass er mit Worten nicht allzu viel würde erreichen können. »Zum letzten Mal: Lass sie los!«

»Sonst noch was?« Bourdon war sich seiner Sache ganz sicher. »Hau ab, du Hänfling, sonst schlag ich dir die Nase blutig!« Antoine stand auf und beugte sich so weit zu seinem Kontrahenten vor, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. »Glaubst du etwa, das beeindruckt mich?« Bourdon lachte ihn aus.

»Nein! Das vielleicht nicht, aber das!«

Mit einer schnellen Bewegung griff Antoine nach der halb vollen Weinkaraffe auf dem Tisch und hieb sie mit voller Kraft auf Bourdons Handrücken. Dann versetzte er ihm mit der Faust einen Schlag auf die Nase. Der Bauer jaulte auf vor Schmerz und sah sich gezwungen, Marguérite loszulassen. Diese nutzte die Gelegenheit, um sich ihm zu entwinden.

»Lasst uns gehen«, sagte sie mit alarmiertem Blick in Richtung Bourdon.

Der Bauer hielt sich seine blutige Nase. »Du verdammter Hurensohn«, brüllte er und versuchte aufzustehen. »Das werd ich dir heimzahlen!« Wankend stand er hinter dem Tisch und sah sich nach einer Möglichkeit um, wie er möglichst schnell auf Antoines Seite kommen konnte, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Doch die Tafel war lang, sodass er sie erst umrunden musste, um zu ihm zu gelangen. Ungeschickt versuchte er, Antoine über den Tisch hinweg am Kragen zu packen. Doch der wich ihm einfach aus. »Marguérite gehört mir«, brüllte Bourdon und versuchte, den Tisch einfach umzuwerfen. Doch er war so betrunken, dass er kaum aufrecht stehen konnte.

Léon und zwei andere Männer bemühten sich, ihn zu beruhigen. Antoine nutzte die Gelegenheit, um zu verschwinden. Marguérite war ihm schon vorausgeeilt.

Er fand sie hinter der Scheune auf einem Findling sitzend. Sie zitterte am ganzen Leib und bemerkte ihn erst, als er direkt vor ihr stand. Tränen standen in ihren Augen, die sie peinlich berührt wegzuwischen versuchte, als sie ihm ins Gesicht sah.

»Ich … ich kann Gewalttätigkeiten nicht besonders gut ertragen«, erklärte sie ihm. »Sie … sie machen einen so hilflos.«

Er reichte ihr sein Taschentuch, damit sie sich die Tränen abwischen konnte. »Dafür musst du dich nicht entschuldigen. Bourdon hat sich unmöglich benommen. Er hat viel zu viel getrunken. Wenn er morgen wieder nüchtern ist, wird er sich sicher bei dir entschuldigen.«

Seine Worte waren wohl wenig überzeugend, denn plötzlich musste Marguérite lachen. »Ja, das wird er ganz bestimmt«, rief sie. »So ein gebildeter, feinfühliger Mann wie Lucien kann ja gar nicht anders.«

Er stimmte in ihr Lachen ein. Es war schön, sie wieder fröhlich zu sehen.

»Wollen wir ein wenig spazieren gehen?«, schlug er vor.

»Du könntest mich ein Stück nach Hause begleiten.« Marguérite sah ihn entschuldigend an. »Für heute habe ich genug.« Hilflos hob sie ihre Schultern. »Damit wird es wohl leider nichts mehr mit unserem Auftritt.«

»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Antoine, obwohl er es aufrichtig bedauerte.

Marguérite wollte auf ihn warten, während er den Musikern Bescheid gab, dass sie eine Runde ohne ihn auskommen mussten. Dann machten sie sich auf den Weg zum Weiler Lélinaz. Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher und genossen die Ruhe. Die Luft war so klar, dass sie bis weit in die Berge hineinblicken konnten.

»Warum bist du eigentlich bei den Milizionären?«, fragte sie unvermittelt. Überrascht von der Frage, fand er nicht gleich eine Antwort. Und so fügte sie hinzu: »Ein Musiker, der Soldat ist, das passt für mich so gar nicht zusammen.« Sie war stehen geblieben und sah ihn offen an, so tat er es ihr gleich. Da verstand er, dass sie ihn nicht verspotten wollte.

»Ich wollte einfach nur weg von zu Hause …« Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Doch dann überwand er seine Scheu und erzählte ihr, was ihn dazu bewogen hatte und wie unglücklich er sich in dem Leben gefühlt hatte, das von seinem Vater für ihn ausgesucht worden war. »Wäre ich in Grenoble Uhrmacher geblieben, hätte ich wohl irgendwann meinen Lebensmut verloren«, gestand er. »Dann habe ich mehr oder weniger durch Zufall Georges kennengelernt. Er hatte sich bereits bei den Milizen hochgearbeitet und ist ein überzeugter Anhänger von Maréchal Pétain. Wir haben viel geredet – über Wünsche, Träume und natürlich auch über Politik. Ich fühlte mich von ihm verstanden. Er malte mir eine bunte Zukunft mit einer Karriere als Musiker aus, wenn ich mich dazu entschließen könnte, für eine Weile zur Miliz zu gehen. Das war einfach verlockend. Was soll ich sagen …« Er zuckte hilflos mit den Schultern.

»Was passierte dann?«, fragte Marguérite.

»Irgendwann hat er mich überzeugt, und ich bin der Truppe beigetreten«, fuhr Antoine fort. »Es schien mir die einzige Möglichkeit, dass mein Traum, Musiker zu werden, doch einmal wahr werden könnte.« Sie wandte sich ab und nickte. Er spürte sofort, dass sie nur vorgab, ihn zu verstehen. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, dass sie ihn wirklich verstand und nicht einfach verurteilte. »Natürlich passt ein Musiker nicht wirklich zum Militär«, räumte er ein. »Ich bin auch nicht sehr glücklich bei der Truppe. Es gibt vieles, das ich nicht gutheißen kann.« Das hatte er auch Yves gegenüber behauptet, und wenn er ehrlich zu sich war, dann war es ihm damit ernst.

»Was ist dein Problem mit der Miliz?«, wollte Marguérite nun ganz genau wissen. »Hast du deine politische Gesinnung geändert, oder schreckt dich die Gewalt ab?«

»Oh, ich verabscheue Gewalt«, sagte er aus tiefster Überzeugung. »Es sei denn …«, er setzte ein schiefes Grinsen auf, »… es sei denn, ich muss eine Dame vor einem Unhold wie Bourdon bewahren.« Sie errötete leicht, erwiderte aber sein Lächeln kaum. Auch er wurde wieder ernst und ging auf ihre Frage ein. »Mir war einfach nicht klar, was für Konsequenzen mein Dienst haben könnte …« Er zögerte. Sollte er ihr den wahren Grund wirklich nennen? Doch dann gab er sich einen Ruck, auch wenn er fürchtete, dass er sich dadurch in ein noch schlechteres Licht rücken würde. Er wollte ihr gegenüber aufrichtig sein. »Gleich bei meinem ersten Einsatz ist etwas passiert, an dem ich immer noch schwer trage. Ich war Teil einer Truppe, die eine Gruppe jüdischer Jugendlicher auf der Flucht stellen und festnehmen musste. Aber das ist noch nicht alles. Ich war derjenige, der das ausspioniert hat.« Er stockte und musste wieder einmal gegen die Bilder ankämpfen, die in ihm aufstiegen, sobald er daran dachte. »Dabei wurde einer von ihnen erschossen. Es war ein junger Mann, fast noch ein Kind, und seine Schwester musste zusehen.« Ohne dass er es beeinflussen konnte, füllten sich seine Augen mit Tränen.

»Hast du ihn erschossen?«, fragte Marguérite kreidebleich. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und sah aus, als wollte sie gleich davonlaufen.

Antoine schüttelte benommen den Kopf. »Aber nein! Wie kommst du darauf? Ich … ich stand einfach nur dabei und musste alles mit ansehen. Während der Aktion war ich wie gelähmt. Ich war nicht einmal in der Lage, mein Gewehr zu zücken. Aber damit will ich mich nicht rechtfertigen …« Er mied ihren Blick, da er wusste, dass er kein Verständnis zu erwarten hatte. »Ich bin dennoch schuld an diesem großen Unglück.«

»Wenigstens hast du das erkannt«, bemerkte sie hörbar distanziert. Er war sich sicher, dass sie nun nie wieder etwas mit ihm zu tun haben wollte. Und er konnte es ihr nicht verdenken. Trotzdem war er erleichtert, dass er ihr das alles erzählt hatte. Er wandte seinen Blick ab und dachte daran, dass es noch viel mehr gab, wofür sie ihn verabscheuen konnte. »Warum quittierst du nicht einfach den Dienst, wenn dir das alles hier nicht passt?«, zog sie die einzig logische Konsequenz.

Antoine ballte gequält die Hände zu Fäusten. Marguérite hatte ja keine Ahnung, wie kompliziert sein Leben war. »Das kann ich nicht, weil ich den Sold brauche, um meine Schwester und meine Mutter zu versorgen.«

Marguérite schüttelte unwirsch den Kopf. »Der Sold ist Blutgeld!« Sie gab sich keine Mühe, ihre Verachtung zu verbergen.

Ihr Vorwurf kränkte ihn, obwohl er wusste, dass sie jedes Recht hatte, es so zu sehen. »Ich stehe auf der Seite derjenigen, die ein starkes Frankreich wollen«, rechtfertigte er sich trotzig. »Die Deutschen werden diesen Krieg gewinnen, und Leute wie ich sorgen dafür, dass es danach auch für uns Franzosen gut weitergeht!«

»Glaubst du im Ernst an diesen Unsinn?« Marguérite schüttelte enttäuscht den Kopf. »Jedes Kind weiß mittlerweile, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Alliierten hier einmarschieren. Die Italiener haben schon ihre Allianz mit Hitler aufgegeben. Die Russen haben sich auch nicht überrennen lassen. Vielleicht stehst du ja einfach nur auf der falschen Seite, Antoine …« Sie sah ihn herausfordernd an.

»Das ist Kriegspropaganda, die nicht der Wahrheit entspricht«, widersprach er ihr uneinsichtig. »Maréchal Pétain wird an Hitlers Seite Frankreich zu neuer Größe führen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede!«

»Weißt du das wirklich?« Sie rückte von ihm ab. Er bedauerte die Unstimmigkeit, die durch das Gespräch entstanden war. Gleichzeitig ärgerte ihn ihre anmaßende Haltung. Zweifellos hatte sie keine Ahnung von Politik. Er fühlte sich verwirrt und unsicher. Seine Gefühle für Marguérite gingen weit über das hinaus, was er jemals für eine andere Frau empfunden hatte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr zu gestehen, wie viel er für sie empfand. Doch durch ihre Unterhaltung war die Nähe und Vertrautheit zwischen ihnen verloren gegangen. Sie setzten ihren Weg schweigend fort, bis in der Ferne der Weiler von Lélinaz auftauchte. »Von hier aus schaffe ich es allein«, erklärte Marguérite auf einmal. Sie standen auf einem Schotterweg, der von weiß blühenden Büschen gesäumt wurde. Zum Abschied reichte sie ihm die Hand.

Plötzlich raschelte es hinter ihnen, und zwei Mädchen krabbelten aus dem Gebüsch, in dem sie wohl Verstecken gespielt hatten. Sie begrüßten Marguérite fröhlich in einer fremden Sprache, die Antoine sofort als Deutsch identifizierte. Er sah, wie Marguérite erstarrte. Mit einem schnellen Blick auf ihn schickte sie die Kleinen zurück zum Haus. Erschrocken machten sie, dass sie davonkamen.

Antoine entging nicht, dass Marguérites Blick wieder besorgt zu den Büschen wanderte. Ein drittes Mädchen kroch darunter hervor und hielt auf sie zu. Er erkannte es sofort. Es war das jüdische Flüchtlingskind, das er in jener nicht lange vergangenen Nacht heimlich zum Waisenhaus gebracht hatte. Dann hatten sie es also bei sich aufgenommen. Er freute sich, dass es der Kleinen gut ging. Marguérite eilte zu ihr. Offenbar wollte sie verhindern, dass dieses Mädchen sich ebenfalls verriet. Doch es machte einen Bogen um Marguérite und steuerte direkt auf ihn, Antoine, zu. Er wollte Marguérite nicht noch mehr in Verlegenheit bringen und wandte sich ab. Aber das Mädchen hielt plötzlich sein Bein umklammert.

»Anne, nein, so etwas tut man nicht!«, rief Marguérite erschrocken. Sie bemühte sich, die Kleine von ihm wegzuziehen. Doch diese protestierte energisch auf Deutsch. »Sie ist noch nicht lange bei uns«, rechtfertigte Marguérite sich, nachdem es ihr endlich gelungen war, das Mädchen an die Hand zu nehmen. Mit einem Mal hatte sie es sehr eilig. Nachdem sie ein paar Schritte gegangen war, drehte sie sich nochmals um. »Bitte zieh keine falschen Schlüsse daraus«, flehte sie ihn an. Dann gab sie sich einen Ruck. »Es wird das Beste sein, wenn wir uns nicht mehr wiedersehen!«