Nachwort

Die Kinder von Izieu

Durchquert man vom Genfer See kommend auf der Autobahn Savoyen in Richtung Provence, so begegnet einem kurz nach dem wunderschönen Bergsee Lac d’Aiguebelette eine Gedenktafel, die auf das Schicksal der Kinder von Izieu aufmerksam macht. Nimmt man weiter die Abfahrt bei Belley und folgt den Hinweisschildern, so erreicht man nach einigen Kilometern den Weiler Lélinaz. Von dem auf einem Hügel gelegenen weitläufigen Anwesen unweit des Ortes Izieu hat man einen wunderschönen Blick auf das Tal der noch jungen Rhône und das Gebirgsmassiv der Chartreuse.

Die Gebäude der ehemaligen Seidenspinnerei boten zwischen 1943 und 1944 zahlreichen jüdischen Kindern aus ganz Europa wenigstens für kurze Zeit eine sichere Zuflucht vor den Verfolgungen durch die Häscher des Nationalsozialismus. Jedes einzelne dieser Kinder hatte bereits eine lange Flucht hinter sich mit schrecklichen und oft traumatischen Erlebnissen. Getrennt von Geschwistern und Eltern, harrten sie in banger Hoffnung in der Kinderkolonie aus, bis sie an eine Pflegefamilie oder an eine andere Hilfsorganisation vermittelt wurden. Für viele war die Odyssee hier noch lange nicht zu Ende.

Am 6. April 1944, kurz vor Ostern, hielten sich in der Kinderkolonie von Izieu vierundvierzig Kinder zwischen vier und siebzehn Jahren und sieben Betreuer auf. Sie waren gerade beim Frühstück, als Männer der Gestapo und Soldaten der Wehrmacht auf Befehl von Obersturmführer Klaus Barbie das Gebäude stürmten und alle Bewohner in Gewahrsam nahmen. Bis auf zwei ältere Jungen und den Leiter des Waisenhauses Miron Zlatin fanden alle Gefangenen im Vernichtungslager von Auschwitz-Birkenau den Tod, die Jungen und Miron Zlatin wurden in ein Lager nach Estland gebracht und dort erschossen. Nur Léa Feldblum, eine der Betreuerinnen der Kinder, überstand als Einzige die Gräuel des KZ. Sie sagte im späteren Prozess gegen Klaus Barbie aus.

Wie es so häufig in der Geschichte geschieht, wären auch diese schrecklichen Geschehnisse sehr schnell wieder in Vergessenheit geraten, wenn es nicht Menschen wie Sabine Zlatin, die Witwe von Miron, gegeben hätte, die nur durch eine Laune des Schicksals nicht zu den Deportierten gehörte. Dank ihrer Hartnäckigkeit gelang es ihr, die Erinnerung an die Ermordeten zu bewahren und die Gewalttaten der Nazis in Izieu nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Unterstützung erfuhr sie durch die Journalistin Beate Klarsfeld und deren Mann, den Rechtsanwalt Serge Klarsfeld, die sich als Anwälte der Opfer des Nationalsozialismus verstehen. Mittlerweile wurde das Schicksal der Kinder und ihrer Betreuer in allen Einzelheiten aufgearbeitet und in seinen historischen Kontext gestellt. Ein beeindruckendes Dokumentationszentrum, das neben dem ehemaligen Kinderheim errichtet wurde, gibt heute Besuchern die Möglichkeit, die damaligen Ereignisse besser zu verstehen.

Hätte es solch engagierte Menschen nicht gegeben, wäre Klaus Barbie wahrscheinlich seiner gerechten Strafe entgangen. Beate und Serge Klarsfeld gelang es vierzig Jahre nach seinen Gräueltaten, den »Schlächter von Lyon« in Südamerika aufzuspüren und nach Frankreich ausliefern zu lassen. Klaus Barbie unterstützte unter falschem Namen als Berater in Folterfragen mehrere südamerikanische Diktatoren. 1987 wurde er in einem aufsehenerregenden Prozess für seine Verbrechen an der Menschlichkeit in Lyon zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt. Er blieb bis zu seinem Krebstod 1991 im Gefängnis.

Nach dem heutigen Erkenntnisstand geht man davon aus, dass das Waisenhaus von einem Bewohner des Tals an die Gestapo verraten worden ist. Alle Indizien sprechen dafür, dass Lucien Bourdon, ein niedergelassener Flüchtling aus Lothringen, für diese Tat verantwortlich war. Zwar konnte ihm das Gericht nicht eindeutig Denunziation nachweisen, da Barbie vor seiner Flucht vor den Alliierten alle Unterlagen in Lyon vernichtet hatte, doch es sprach Bourdon in anderen Belangen wegen Kollaboration mit den Deutschen und Verrats an Frankreich für schuldig. Das Kriegsgericht in Lyon erkannte Lucien Bourdon am 13. Juni 1947 alle bürgerlichen Rechte auf Lebenszeit ab. So weit die historischen Fakten.

Die Geschichte von Marguérite und Antoine ist reine Fiktion. Jedoch stehen hinter ihren Persönlichkeiten und Erlebnissen die Erfahrungsberichte von damaligen Zeitzeugen, die mich bei meiner Recherche beeinflusst haben. Historische Persönlichkeiten sind Sabine und Miron Zlatin, Léa Feldblum, Léon Reifmann sowie die Kinder aus dem Waisenhaus von Izieu. Die Deportation der Waisenkinder ist der Beschreibung von Augenzeugenberichten nachempfunden.

Die Kollaboration der Franzosen
mit dem Deutschen Reich

Um zu verstehen, weshalb es in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs zu einer überraschend schnellen Kollaboration mit dem deutschen Nazireich kam, muss man wissen, dass die Wehrmacht im Mai und Juni 1940 die gut gerüstete französische Armee, die damals als die stärkste der Welt galt, einfach überrannte. Es war die größte Niederlage der französischen Geschichte und kostete innerhalb von nur sechs Wochen sechzigtausend Soldaten das Leben. 1,8 Millionen Soldaten kamen in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der die meisten erst 1945 wieder zurückkehrten. Frankreich stand plötzlich am Rande eines Abgrunds.

In dieser trostlosen und demütigenden Lage versprach Maréchal Philippe Pétain, der Held von Verdun, der sich bereits im Ersten Weltkrieg um das Vaterland verdient gemacht hatte, Abhilfe. Er beendete den Krieg mit der Annahme der deutschen Waffenstillstandsbedingungen und versprach seinem Volk, es vor den Übergriffen der Besatzungsmacht zu bewahren, indem er die parlamentarische Republik beendete und in Frankreich ein autoritäres Regime installierte. In diesem Sinne trat am 10. Juli 1940 die Nationalversammlung in dem im unbesetzten Südfrankreich gelegenen Kurort Vichy zusammen und verlieh dem Maréchal volle exekutive sowie legislative Macht. Damit wurde de facto die Verfassung der Französischen Republik außer Kraft gesetzt.

Das neue Regime unterschied sich vom nationalsozialistischen Deutschland und vom faschistischen Italien nur durch das Fehlen einer Einheitspartei und einer ungezügelten Expansionspolitik. Ansonsten hatte die Vichy-Regierung vieles mit den Faschisten gemeinsam: strenge, hierarchische Gliederung der Gesellschaft, scharfe Pressezensur, massive Unterdrückung der Opposition, Fremdenfeindlichkeit und einen »Führerkult«. Neben den Kommunisten und Freimaurern hatten im Vichy-Frankreich vor allem die Juden zu leiden. Ohne Druck von deutscher Seite erließ Vichy Statute, die Juden von öffentlichen Ämtern und zahlreichen freien Berufen sowie dem Pressewesen ausschlossen.

Als das Deutsche Reich im Sommer 1942 begann, auch die in Frankreich ansässigen Juden systematisch in deutsche Vernichtungslager zu deportieren, arbeitete die Vichy-Regierung mit ihrem Polizei- und Verwaltungsapparat dem Besatzer bereitwillig zu, obwohl sie den Vernichtungswillen eigentlich gar nicht teilte. Mit ihrer Hilfe wurden fünfundsiebzigtausend Juden aus Frankreich in die Vernichtungslager deportiert. Weniger als zweitausendsechshundert kehrten zurück. Hinter dieser Kollaborationspolitik stand die Überzeugung, dass Deutschland letztendlich den Krieg gewinnen würde. Kurzfristig erhoffte das Regime durch die Unterstützung der Deutschen die Rückkehr der Kriegsgefangenen, eine Reduzierung der Besatzungskosten sowie die Aufrechterhaltung seiner staatlichen Souveränität zu erreichen. Langfristig sollte sie Frankreich eine möglichst gute Position in einem von Deutschland dominierten Europa sichern. Über 4,5 Millionen Franzosen arbeiteten während des Krieges für die deutsche Wirtschaft als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Deutschland oder als Industriearbeiter in Rüstungsbetrieben in Frankreich. Mehr als fünfzig Prozent der französischen Wirtschaft produzierten für das Deutsche Reich.

Was die Vichy-Regierung veranlasste, fand jedoch in der Bevölkerung nicht ungeteilten Zuspruch. Auch wenn die deutschen Besatzer nach dem »Blitzkrieg« unerwartet korrekt auftraten, deutet alles darauf hin, dass die Mehrheit der Bevölkerung schon ab 1940 eindeutig antideutsch und probritisch eingestellt war. Allerdings dauerte es noch bis 1942, bis der französische Widerstand koordiniert agieren konnte.

Die Geschichte der Insel Mainau während
des Zweiten Weltkriegs

Dass Geschehnisse aus der Vergangenheit unlösbar mit denen aus der Gegenwart und Zukunft miteinander verbunden sind, das soll die Geschichte von Rick und Valerie zeigen. Ich habe sie nicht unabsichtlich mit der schönen Blumeninsel Mainau in Zusammenhang gebracht. Zu Lebzeiten von Lennart Graf Bernadotte aus Schweden, dessen Nachkommen auch heute noch die Blumeninsel bewirtschaften, äußerte sich der Graf in der Öffentlichkeit nicht als Augenzeuge der Geschehnisse auf der Insel während des Naziregimes, sondern als Betroffener. Er stellte sich als Geschädigter dar und nicht als Nutznießer des Dritten Reiches, der er eindeutig gewesen war. Auch hier ist es der unermüdlichen Arbeit von Historikern zu verdanken, dass diese uneinsichtigen Behauptungen mittlerweile ins rechte Licht gerückt wurden.

Hierzu einige wenige Fakten:

1932 übertrug Prinz Wilhelm von Schweden seinem damals dreiundzwanzigjährigen Sohn Lennart die Insel Mainau. Im selben Jahr zog sich Lennart Bernadotte, nachdem er durch die Heirat mit der bürgerlichen Karin Nissvandt sämtliche Titel und Erbansprüche an das schwedische Königshaus verloren hatte, von Schweden auf die Mainau zurück und machte die Insel für sich und seine Familie zum neuen Wohnsitz. Mit einigem Aufwand gestaltete er das vernachlässigte Eiland zu einem Park und eröffnete 1937 die Gaststätte Schwedenschänke, die bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein beliebtes Reiseziel für die nationalsozialistische Vereinigung »Kraft durch Freude« war.

Noch vor Kriegsbeginn verließ Bernadotte die Insel, er verbrachte die Zeit während des Krieges mit seiner Familie in Schweden. Als 1942 der Verwalter der Insel zur Wehrmacht einberufen wurde und die Insel wieder zu verwahrlosen drohte, kam Lennart Bernadotte ein Angebot der Organisation Todt sehr gelegen. Die bautechnische Organisation des nationalsozialistischen Rüstungsministeriums pachtete die Mainau für die Dauer des Krieges. Dabei wurden nicht nur Schloss und Torbogengebäude saniert und neu eingerichtet, sondern auch eine Wasserleitung vom Konstanzer Ortsteil Egg zur Insel verlegt. Die Organisation wollte ranghohen Mitarbeitern auf der Mainau die Gelegenheit zur Erholung bieten. Doch dazu kam es nicht mehr.

Kurz vor Kriegsende gewährte Hitlers Auswärtiges Amt den französischen Kollaborateuren auf der Insel Zuflucht. Der Chef der rechtsradikalen Parti populaire français, Jacques Doriot, scharte hier seine Anhänger um sich. Seine Gruppe plante von Süddeutschland aus das Zurückdrängen der Gaullisten und Kommunisten aus Frankreich. Die deutsch-französische Kollaboration endete jedoch bereits im Februar 1945 mit dem Tod Doriots bei einem Tieffliegerangriff nahe Mengen. Seine Anhänger verließen daraufhin fluchtartig die Insel Mainau.

Ab 26. April 1945 wurden Konstanz und seine Umgebung Teil der französischen Besatzungszone. Die Inseln Mainau und Reichenau wurden für die Unterbringung und Erholung von aus dem KZ Dachau befreiten französischen Häftlingen geräumt. Die von den Nazis errichteten Baracken und sanierten Gebäude dienten nun mehreren tausend ehemaligen KZ-Häftlingen als Hospital. Für dreiunddreißig Männer kam jedoch jede Hilfe zu spät. Trotz guter Pflege starben sie während ihres Aufenthalts auf der Mainau und wurden zunächst am Ostufer der Insel auf einem provisorischen Gräberfeld beigesetzt. Bereits bei seinem ersten Besuch der Insel nach Kriegsende veranlasste Lennart Bernadotte, dass die Toten auf Kosten der Stadt Konstanz auf den dortigen Hauptfriedhof umgebettet wurden. Zwischen 1947 und 1949 wurden die sterblichen Überreste, so sie denn identifiziert werden konnten, nach Frankreich überführt. Für die Regulierung der Schäden und die Neuanschaffung fehlender Einrichtungsgegenstände aus dieser Zeit forderte Lennart Graf Bernadotte von den französischen Verwaltungsstellen Schadensersatz.

Erst nach dem Tod von Lennart Bernadotte wurden auf Druck von Historikern und der Deutsch-Französischen Gesellschaft die Ereignisse auf der Insel aufgearbeitet. Heute befindet sich – wenn auch abgelegen – eine kleine Erinnerungsstätte an die dreiunddreißig verstorbenen Häftlinge aus dem KZ Dachau auf der Insel.