Izieu, Frankreich, April 1944

Hand in Hand eilten Antoine und Marguérite dem Kinderheim entgegen. Sie war viel zu spät dran. Doch um nichts in der Welt hätte sie die Nacht mit Antoine missen mögen. Sie hatten sich endlich ausgesprochen. Jetzt, da sie Antoine an ihrer Seite wusste, war die Angst vor der ungewissen Zukunft nicht mehr ganz so schlimm. Antoine hatte es sich nicht nehmen lassen, sie bis zum Zaun, der das Grundstück um das Kinderheim eingrenzte, zu begleiten. Noch bevor sie ihn erreichten, entdeckte sie Léa an einem der Fenster. Sie winkte ihr zu. Doch plötzlich wandte sie sich ab, nur um kurz darauf zurückzukehren und hektisch zu fuchteln. Marguérite verstand nicht, was das bedeuten sollte. Antoine blieb wie angewurzelt stehen und wies auf die Zufahrtsstraße, die zum Weiler von Lélinaz führte.

»Das ist die Gestapo. Sie kommt, um die Kinder zu holen«, sagte er tonlos. »Verdammt!« Er packte ihre Hand. »Komm, wir müssen uns verstecken. Sie dürfen uns nicht sehen.« Er zog sie mit sich über die Wiese, bis sie das angrenzende Gebüsch erreichten. Das Motorengeräusch der beiden Lastwagen und der Limousine wurde immer lauter, je weiter sich die Fahrzeuge zum Waisenhaus hinaufquälten. Sie beobachteten mit Entsetzen, wie der Konvoi schließlich auf der Kiesauffahrt zum Stehen kam. Aus den Fahrzeugen stiegen drei Männer in Zivil, zwei davon waren, wie sie vermutete, Offiziere der Lyoner Gestapo. Ihnen folgten ungefähr fünfzehn Soldaten. Mit Gewehren im Anschlag stürmten sie das friedliche Waisenhaus, in dem die Kinder vermutlich gerade beim Frühstück saßen. Kurz darauf brach ein fürchterliches Chaos aus. Marguérite hörte Schreie und versuchte, sich von Antoine loszureißen.

»Ich muss den Kindern helfen, ich kann sie doch nicht ihrem Schicksal überlassen«, wehrte sie sich empört.

Doch sein Griff um ihren Oberarm war so fest, als säße er in einem Schraubstock. »Du kannst ihnen nicht helfen«, warnte er sie eindringlich. »Es sind zu viele …«

Das wollte sie nicht hören. Sie musste den Kindern doch beistehen. Sie war für sie verantwortlich! Noch einmal versuchte sie, sich loszumachen, doch Antoine ließ es nicht zu.

»Denk an unser Kind«, sagte er leise.

Das brachte sie endlich zur Vernunft. Ihnen blieb nichts übrig, als hilflos mit anzusehen, wie die Soldaten auf brutale Weise Eva und Moise Reifmann aus dem Haus schleppten, ebenso deren Tochter Suzanne und ihren Enkel Claude. Um ihre Schritte zu beschleunigen, stießen die Leute der SS ihren Gefangenen die Gewehrläufe in die Nieren. Als die schon betagte Eva von dem derben Schlag vor Schmerz auf die Knie sank, wurde sie sofort grob hochgerissen und mit einem weiteren Schlag ins Gesicht bestraft.

Dann tauchte Miron Zlatin auf. Er war der Einzige, der sich nicht wehrlos ergab. Er musste von zwei Männern in Schach gehalten werden, nachdem er heftig protestierend versucht hatte, die Anführer des Überfalls von ihrem Vorhaben abzubringen. Einer der Gestapomänner schlug ihm den Gewehrkolben ins Gesicht, während der andere ihn in den Bauch boxte. Zlatin ging in die Knie und erhielt weitere Schläge, bis er sich nicht mehr wehrte. Grob wurde er auf die Rampe des Lastwagens gestoßen und auf eine der Bänke gezwungen. Dann kamen die Kinder an die Reihe. Marguérite erkannte ihre Freundin Léa, die vergeblich versuchte, die Jüngeren zu beruhigen. Die kleine Mina schrie verzweifelt, weil sie von ihrer älteren Schwester getrennt wurde. Ein paar der Jungen versuchten, von den Ladeflächen der Lastwagen hinunterspringen. Wem es gelang, der kam jedoch nicht weit. Die Soldaten packten die Ausreißer wie Kartoffelsäcke und warfen sie erbarmungslos zurück auf die Ladefläche. Dort wurden sie von einem anderen Soldaten mit Fußtritten empfangen.

Perticoz und sein Knecht Julien Favet vom benachbarten Bauernhof eilten herbei. Sie wurden ebenfalls Zeugen des Geschehens. Empört über die Art, wie die Gestapo mit den Kindern umsprang, wollte der Bauer sich auf den Soldaten stürzen, der die kleine Nina Aronowicz an den Haaren herbeischleifte.

»Monsieur Perticoz, mischen Sie sich nicht ein, bleiben Sie ja, wo Sie sind!«, hörte Marguérite den verletzten Heimleiter von der Pritsche aus rufen.

Sie konnte in ihrem Versteck jedes einzelne Wort verstehen, gerade so, als stünde sie daneben. Dann wurden sie Zeugen, wie ein Soldat Miron zum Lohn für seine Warnung mit voller Wucht sein Maschinengewehr in den Bauch rammte und ihm heftig gegen das Schienbein trat. Er brach zusammen und war plötzlich nicht mehr zu sehen. Marguérite schloss vor Entsetzen die Augen. Wie konnten Menschen nur so grausam sein? Das waren unschuldige Kinder, von denen jedes einzelne bereits entsetzliche Dinge erlebt hatte, und Erwachsene, die sich aufopfernd um sie kümmerten.

Die Aktion ging sehr effizient vonstatten. Die Soldaten waren ganz offensichtlich geübt. Sie ignorierten Perticoz und einige andere Bauern, die aus der Nachbarschaft herbeigeeilt waren. Zu ihrer Überraschung entdeckte Marguérite unter den Zuschauern Lucien Bourdon. Was machte der Mann zu dieser frühen Stunde hier? Sein Hof lag ein paar Kilometer von Lélinaz entfernt. Antoine, der ihn ebenfalls sah, ballte die Hände zu Fäusten.

»Verdammt! Ich wette, dieser Dreckskerl steckt dahinter«, zischte er verzweifelt. »Ich hätte es verhindern können!«

»Du konntest nicht wissen, dass sie früher kommen«, versuchte Marguérite, ihren Geliebten zu besänftigen. Doch sie verstand, dass er sich Vorwürfe machte. Ihr ging es nicht anders. Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. »Wir müssen den Kindern doch irgendwie helfen!« Sie sah Antoine hilflos an, wohl wissend, dass er ebenso ratlos war wie sie. »Was werden sie jetzt mit ihnen tun?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort längst ahnte.

»Dasselbe, was sie mit den Kindern aus Voiron gemacht haben«, hörte sie Antoines tonlose Stimme.

Im Zuge einer Operation waren Soldaten in das Haus La Martellière im nur vierzig Kilometer entfernten Voiron eingedrungen und hatten auf äußerst brutale Weise achtzehn jüdische Kinder samt ihren Müttern abgeführt und ins Sammellager nach Drancy deportiert. Von dort führte ihr Weg direkt nach Auschwitz. Sie wusste, was das bedeutete. Die Kinder und ihre Betreuer würden in einem der Vernichtungslager sterben.

»Können wir denn gar nichts unternehmen?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. »Ich … ich hab die Kleinen im Stich gelassen.« Sie fühlte, wie die Kraft sie verließ. Die Kinder brauchten sie gerade jetzt, und sie war nicht bei ihnen!

Antoine legte eine Hand auf ihre Schulter und hob mit der anderen sanft ihr Kinn. Dabei sah er ihr fest in die Augen. »Sag doch so was nicht.« Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Sie spürte, wie er sich zu einem Entschluss durchrang. »Du musst jetzt an unser Kind denken!« Seine braunen Augen ruhten voller Liebe, aber auch voller Wehmut auf ihr. Instinktiv begriff sie, dass er klarer zu denken vermochte, als es ihr im Augenblick möglich war. »Du wirst dich gleich auf den Weg zu meiner Schwester nach Grenoble machen«, teilte er ihr mit. »Wir können nicht länger warten.«

»Und was ist mit dir?« Sie wollte sich nicht allein auf den gefährlichen Weg machen. »Ich schaff das nicht allein!«

Er ließ ihren Einwand nicht zu. »Die Operation Frühling hat bereits begonnen«, versuchte er ihr zu erklären. »Barbie startet einen Großangriff auf alle Widerstandsbewegungen in den Departements Ain und Jura. Das bedeutet, dass er mit jedem verfügbaren Mann jeden Hof in der Gegend auf den Kopf stellen und durchsuchen lassen wird. Du bist hier nirgendwo mehr sicher.« Er strich ihr zärtlich über die Wange. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie dich auch noch festnehmen würden. Du schaffst das allein! Adèle wird dir helfen und dich verstecken.« Er nahm die Kette mit dem Anhänger, die er immer trug, von seinem Hals und legte sie ihr um. »Gib ihr das hier.« Dann zog er auch noch die Taschenuhr aus seiner Hose, die sein Vater ihm vermacht hatte. »Meine Schwester weiß, dass ich mich niemals ohne Not von diesen Schmuckstücken trennen würde. Sie wird sie erkennen und dir und unserem Kind beiseitestehen. Auf Adèle ist hundertprozentig Verlass. Umarme sie von mir und warte bei ihr, bis ich euch holen komme.«

»Aber was wirst du jetzt tun?« Marguérite konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sich weiterhin der Gefahr aussetzte. »Komm mit mir!«

»Dann wäre ich ein Deserteur. Sie würden verstärkt nach uns suchen. Solange sie denken, dass ich einer von ihnen bin, bin ich in Sicherheit«, argumentierte er. »Du hast allein bessere Chancen. Begreif das doch!«

Sie weinte und wollte es einfach nicht einsehen. Gleichzeitig wusste sie, dass sie gar keine andere Wahl hatten. Antoine hatte recht. Sie trug jetzt nicht mehr nur für sich die Verantwortung, sondern auch für ihr gemeinsames Kind. Und sie musste stark sein – für die Kinder von Izieu, die jetzt, wie sie selbst, einem unbekannten Schicksal entgegengingen.

»Ich werde es für unser Kind tun«, flüsterte sie und sah mit Tränen in den Augen hinunter ins Tal.

»Du kannst den Waisenkindern jetzt nicht mehr helfen«, erriet Antoine ihre Gedanken. Er gab ihr einen sanften Kuss auf die Nasenspitze. »Aber vielleicht kann ich noch etwas für sie tun. Ich werde mich sofort wieder auf den Weg nach Lyon machen und dort Mittel und Wege finden, sie zu befreien, noch bevor sie nach Drancy gebracht werden. Miron hat mir ein paar Namen von Verbindungsmännern verraten. Sie arbeiten im Lyoner Gefängnis Montluc.« Ein Knacken ganz in ihrer Nähe unterbrach ihre Unterhaltung. »Da ist jemand«, zischte Antoine und drückte sie noch tiefer ins Gebüsch.

Marguérites Herz raste vor Angst, während sie versuchte, möglichst reglos liegen zu bleiben. Dann erkannten sie einen jungen Mann, der scheinbar kopflos an ihnen vorbeihastete.

Sie wusste sofort, wer das war. »Das ist Léon. Léon Reifmann.«

Ihm musste irgendwie die Flucht gelungen sein. Er rannte so schnell, dass sie keine Gelegenheit hatten, sich bemerkbar zu machen. Kurz darauf hörten sie die Stimmen von Soldaten, die ihm nachsetzten. Noch waren sie über hundert Meter von ihnen entfernt, aber schon bald würden sie in ihrer Nähe sein. Marguérite schreckte auf. Pure Angst presste ihr Herz zusammen.

»Du musst sofort los«, drängte Antoine. »Ich werde mich ihnen in den Weg stellen und so tun, als würde ich auch nach dem Flüchtling suchen.«

»Aber wie willst du ihnen dein plötzliches Auftauchen erklären?«, fragte sie.

»Da fällt mir schon was ein. Schließlich trage ich immer noch die Uniform der Milizionäre.« Seine Stimme klang zuversichtlicher, als er vermutlich war. Eilig zog er sie mit sich, bis sie auf einen schmalen Feldweg kamen, der von schützenden Bäumen gesäumt war. »Schlag dich von hier aus nach Süden durch und vermeide alle Siedlungen und Dörfer. Nimm die Pfade über das Massif de la Chartreuse. Sie sind nur schwer zugänglich, sodass dir die Soldaten kaum folgen werden.«

Marguérite hatte das Gefühl, ihre Beine würden sie keinen Schritt weit tragen. Sie war keine Heldin und wollte es auch gar nicht sein.

»Du schaffst das!«, wiederholte Antoine und drückte fest ihre Oberarme. Seine Berührung löste ihren Krampf, und es gelang ihr, sich ein wenig zu beruhigen.

Schließlich nickte sie tapfer. »Ich warte bei deiner Schwester auf dich!«

»Und dann werden wir eine richtige Familie sein.«

Ihr Abschiedskuss würde ihr für immer in Erinnerung bleiben. Für einen viel zu kurzen Augenblick hielten sie sich fest umschlungen. Noch einmal fühlte sie seine Kraft und Geborgenheit durch sich strömen, während seine Lippen fest auf den ihren lagen. Zu schnell war der innige Moment vorbei. Die Stimmen der Soldaten kamen unerbittlich näher. Antoine löste sich aus der Umarmung und schob Marguérite auf einen Wildpfad, der den Abhang hinunterführte.

»Ich liebe dich«, raunte er ihr zum Abschied zu.

Dann hastete er auf der anderen Seite des Weges durch das Gebüsch, um den Soldaten entgegenzutreten.