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Adèle fasste sich und begann stockend zu erzählen.

»Unsere Familie … sie war sehr patriotisch. Für meinen Vater war es eine Selbstverständlichkeit, sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zu melden. Er tat es für unser Land, für die Republik, für unsere Freiheit. Papa diente bei der Infanterie, er hat die Schlacht bei Verdun mit all ihrem Grauen nur knapp überlebt. Er geriet in die Giftgasangriffe und wäre beinahe gestorben. Seine Lunge war geschädigt, aber seine Seele noch viel mehr. Als er in seinen Uhrmacherladen zurückkehrte, war er nicht mehr derselbe Mann. Dennoch … Er heiratete und gründete eine Familie mit dem Mädchen, das all die Jahre auf ihn gewartet hatte, deine Urgroßmutter, meine Mutter.« Ein feines Lächeln der Erinnerung umspielte ihre eingefallenen Lippen.

»Sie gründeten eine Familie und bekamen vier Söhne und dich, das Nesthäkchen«, fuhr ich fort, damit sie einen Moment zu Atem kommen konnte.

Natürlich war mir dieser Teil der Geschichte zur Genüge bekannt. Adèle hatte erst meiner Mutter und später mir oft genug davon erzählt. Sie war eine Meisterin im Ausschmücken solcher Geschehnisse und erfand immer neue zahlreiche Details dazu. Schon als Kind war ich von ihrer Erzählkraft fasziniert gewesen, ich konnte nicht genug bekommen. So wusste ich auch, dass mein Urgroßvater nach seinen Erfahrungen nie wieder in einem Krieg hatte kämpfen wollen, und erst recht wollte er nicht, dass es seine Söhne taten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, traf ihn das besonders. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass drei seiner Söhne einberufen wurden. Mir war auch bekannt, dass Antoine gern für einen seiner Brüder in den Krieg gezogen wäre, doch dass der Vater ihn nicht gelassen hatte, weil er ihm zu leichtsinnig erschienen war. Dann war die Nachricht vom Tod Erics eingetroffen und nach der Niederlage der Franzosen auch diejenige über die Gefangenschaft der beiden anderen Brüder. Dass Antoine sich dann den Männern der Vichy-Regierung angeschlossen hatte, wusste ich ja schon. Ebenso, dass Bauersleute aus dem Vercors eines Tages ihr und Gustave Isabelle übergeben hatten, gemeinsam mit einem kurzen Brief ihrer Mutter und Antoines Taschenuhr.

»Antoine war für mich immer der wichtigste meiner Brüder«, schloss Adèle den ersten Teil ihrer Erzählung. Ihre Stimme verlor wieder an Kraft. Das Reden und die Erinnerungen strengten sie sehr an.

Wir wurden von dem Pfleger und der Ärztin unterbrochen, die noch einmal die Lebensfunktionen kontrollierten. Frau Dr. Kling-Hofer machte ein besorgtes Gesicht. »Sie müssen Ihrer Tante jetzt Ruhe gönnen«, wandte sie sich an mich. »Lassen Sie sie erst zu Kräften kommen. Ihr Kreislauf ist noch sehr instabil.« Ich erhob mich sofort, um ihrer Aufforderung Folge zu leisten, doch Adèle ließ es nicht zu. »Ausruhen kann ich mich noch lange genug, wenn ich tot bin«, beschied sie die Ärztin in einem Ton, der keine Widerrede duldete. »Lassen Sie uns bitte allein.«

Nur widerwillig erfüllte man ihr den Wunsch. Dr. Kling-Hofer betonte allerdings, dass dies gegen ihren ausdrücklichen Ratschlag geschehe. Adèle kümmerte sich nicht darum, sondern drängte darauf fortzufahren.

»Dein Großvater und ich waren nicht nur Geschwister, wir waren seelenverwandt«, sagte sie mit der Sehnsucht in ihrer Stimme, die sie immer hören ließ, wenn sie über Antoine sprach. »Er hat mir geholfen, meine wahre Berufung zu finden. Ohne ihn hätte ich niemals den Mut besessen, nach Paris an die Modeschule zu gehen. Ich hätte vermutlich einen Handwerker aus dem Ort geheiratet, weil man es so von mir erwartete. Damals war die Bestimmung einer Frau noch, dass sie sich um ihren Mann und die gemeinsamen Kinder kümmerte. Das hat mich nicht geschert, auch wenn es für viele unannehmbar war …«

In Erinnerung an die Zeit musste sie lachen und bekam prompt einen Hustenanfall. Kaum hatte sie sich wieder beruhigt, fiel ihr das Atmen zunehmend schwer. Sie keuchte, und ich fürchtete, dass sie sich doch übernommen hatte. Dann entdeckte ich, dass sich der Sauerstoffschlauch gelöst hatte, und brachte ihn wieder in die richtige Position. Tatsächlich half ihr das, und sie beruhigte sich wieder.

»Soll ich nicht doch lieber gehen?«, erkundigte ich mich besorgt. »Ich lasse dich ein wenig ausruhen und warte draußen!«

Doch sie wollte nichts davon wissen. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt«, beharrte sie stur. »Bevor ich abtrete, musst du die ganze Wahrheit erfahren. Lange genug habe ich unter meinen eigenen Lügen gelitten. Ich habe nämlich nicht nur euch, sondern vor allem mir selbst etwas vorgemacht.« Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als mich erneut zu setzen und ihr zuzuhören. »Antoine liebte die Musik und hasste seinen Beruf und das Schicksal, das ihn dazu ausersehen hatte, anstelle seiner Brüder das Geschäft zu übernehmen. Er musste sich wohl oder übel damit abfinden, solange die drei im Krieg waren und er für mich und meine Mutter sorgen musste. Doch wann immer es ging, suchte er Ablenkung in seiner Musik. Er trat überall auf und unterhielt die Menschen mit seinen selbst komponierten Chansons und Stücken. Damit verdiente er sogar etwas Geld oder bekam Lebensmittel, die wir dringend nötig hatten. Irgendwann geriet er unter den Einfluss der Milizionäre. Einer ihrer Anführer, ein gewisser Georges, wurde sein bester Freund. Er überredete ihn schließlich, sich ihnen anzuschließen. Die Männer wurden gut bezahlt, musst du wissen.« Sie seufzte. »Mir gefiel es nie, dass er sich mit diesen Menschen abgab, denn unser Vater und auch ich empfanden die Vichy-Regierung als Verrat an unserer eigenen Nation. Aber Politik scherte Antoine nicht. Es ging ihm nur um seine Musik und wie er mich und unsere Mutter versorgen konnte. Dass er damit auch seine Brüder verriet, die schließlich für ein unabhängiges Frankreich in den Krieg gezogen waren, scherte ihn nicht.«

Adèle wies auf ein Wasserglas, das auf einem Tisch neben ihrem Bett stand.

»Möchtest du einen Schluck trinken?«, fragte ich.

Sie nickte, und ich gab ihr das Verlangte.

»Dieser Georges überredete ihn schließlich, mit ihm nach Lyon zu gehen«, fuhr sie fort. »Bevor er aufbrach, hatten wir ein ausführliches Gespräch. Ich flehte ihn an, nicht zu den Kollaborateuren überzulaufen, und legte ihm meine Gründe dar. Antoine hörte mir zu und brachte seine eigenen Argumente ein, indem er mir klarmachte, dass er das alles nur für unsere Brüder tat. ›Hitler wird bald über ganz Europa herrschen‹, war er überzeugt. ›Und wir Franzosen werden dabei eine bedeutende Rolle spielen, aber nur, wenn wir ihn dabei unterstützen. Als Milizionär verdiene ich ausreichend Geld, um dich und Maman zu unterstützen. Außerdem sehen die Deutschen, dass ich auf ihrer Seite stehe. Sie werden es mir danken, indem sie Charles und Louis freilassen‹, versicherte er mir so glaubhaft, dass ich schließlich selbst daran glaubte.«

Adèle atmete tief ein und schloss die Augen. Ich verstand, wie wichtig ihr mein Großvater gewesen war und welch einen Einfluss er auf sie gehabt hatte. Sie war damals schließlich noch ein junges Mädchen gewesen.

»Antoine ging also mit Georges nach Lyon und schloss sich den Milizen an?«

»Was er dort genau tat, habe ich nie erfahren«, fuhr sie schließlich mit immer noch geschlossenen Augen fort, »aber später habe ich mir natürlich einiges zusammengereimt. Er schrieb mir zwar regelmäßig Briefe, doch dabei blieb er immer vage. Ich weiß nur, dass er in der Gegend von Belley stationiert war und ein Verbindungsmann der deutschen Gestapo war. Er schrieb mir auch, dass er eine junge Frau kennengelernt und sich sehr verliebt habe. Sie arbeitete als Betreuerin in einem nahegelegenen Kinderheim.«

Als Adèle das Kinderheim in der Nähe von Belley erwähnte, schrillten bei mir plötzlich sämtliche Alarmglocken. Ich hoffte, dass meine Befürchtungen sich nicht bewahrheiteten.

»Erinnerst du dich noch an den Namen des Kinderheims?«, hakte ich vorsichtig nach.

Sie öffnete erstaunt die Augen. »Aber ja«, antwortete meine Tante leise. »Es war das Kinderheim von Izieu.« Also doch! Es gelang mir kaum, mein Entsetzen zu verbergen. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, erriet sie meinen Gedanken. »Du denkst, dass Antoine an der Deportation der Kinder von Izieu beteiligt war, nicht wahr?«

»War es denn so?«

Dass mein Großvater ein Kollaborateur gewesen war, war die eine Sache, erfahren zu müssen, an welchen schändlichen Taten er beteiligt gewesen war, noch einmal eine ganz andere. Die Vorstellung, dass es zumindest nicht unwahrscheinlich war, schnürte mir die Kehle zu.

Adèle zuckte hilflos mit den Schultern. »Das weiß nur Gott allein«, erwiderte sie tonlos. »Ich habe diese Vorstellung einfach nicht zugelassen«, erklärte sie traurig. »Dafür war ich zu feige. Aus Angst, daran zu zerbrechen, habe ich mir immer wieder eingeredet, dass mein geliebter Bruder gar kein Kollaborateur gewesen ist. Wie hätte ich deine Mutter aufziehen können, wenn sie erfahren hätte, dass ihr Vater ein Verräter und möglicherweise ein Mörder gewesen ist?« Ihre Stimme verebbte.

»Nur wenn wir zu unserer Vergangenheit stehen, können wir in der Zukunft solch schreckliche Fehler vermeiden.«

Meine Tante sah mich an und schüttelte verbittert den Kopf. »Wenn das so leicht wäre!«

»Was ist eigentlich mit Marguérite, meiner Großmutter, passiert?«, erkundigte ich mich.

»Über sie weiß ich fast gar nichts, nur dass sie in dem Kinderheim als Betreuerin gearbeitet hatte. Sie war vermutlich nur kurze Zeit dort. Wahrscheinlich stammte sie aus einer der umliegenden Ortschaften. Antoine wollte sie heiraten. Das schrieb er in seinem letzten Brief an mich. Danach habe ich nie wieder etwas von ihm gehört, bis die Bauern mir Isabelle samt Antoines Uhr brachten. Marguérite bat mich in dem beiliegenden Brief, gut für die Kleine zu sorgen. Laut Auskunft der Bauersleute hat sie sich nach der Geburt davongemacht. Dafür habe ich sie immer verachtet. Sie hat ihr Kind einfach allein zurückgelassen.«

»Großvater war Kollaborateur und vielleicht ein Mörder, und Großmutter hat ihr eigenes Kind im Stich gelassen«, resümierte ich resigniert.

Erst da begriff ich, dass Adèle Antoines Schuld und Marguérites unverzeihliches Handeln auch auf sich genommen hatte. Ihre Glorifizierung war für sie reiner Selbstschutz geworden. Wie konnte ich ihr da einen Vorwurf machen? War es nicht sogar für mich kaum zu ertragen, dass der eigene Großvater ein Monster gewesen war? Für den Augenblick hatte auch ich keine Vorstellung, wie ich damit umgehen sollte.

War es nicht einfacher, die Wahrheit einfach zu leugnen?