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Am Morgen nach meiner ersten Segelstunde bei Valerie und dem etwas enttäuschenden gemeinsamen Abendessen machten Adèle und ich uns auf den Weg auf die Insel Mainau. Therese Hufnagels Ratschlag befolgend, brachen wir schon zeitig auf. Meine Tante wirkte ziemlich aufgeregt – wie ein junges Mädchen vor ihrem ersten Rendezvous. Eine fiebrige Erregung hatte sie ergriffen. Dabei war es höchst fragwürdig, ob wir etwas über Antoine herausfinden würden.

Ich bestellte uns wieder ein Taxi, das uns direkt auf die Insel brachte und kurz vor dem gräflichen Schloss absetzte. Von dort war es angeblich nicht mehr weit bis zu unserem Ziel. Am Eingang hatten wir einen Plan der Insel bekommen, auf dem die Gedenkstätte nicht verzeichnet war, ich wusste jedoch, dass sich der Ort irgendwo im südlichen Teil der Insel befand. Wir begaben uns dorthin, wobei sich Adèle schwer auf meinen Arm stützte. Das Barockschloss mit seinem Café und den Ausstellungsräumen ließen wir links liegen und durchschritten den Italienischen Rosengarten mit seinem Springbrunnen.

Der Marsch war anstrengend, Adèle bereute nun doch, Thereses Angebot, ihr den Rollator ihres Mannes auszuleihen, ausgeschlagen zu haben. Immer wieder bat sie mich, sie zu einer der Bänke zu führen, damit sie eine kurze Pause einlegen konnte. Ich fürchtete schon, dass ich sie überforderte, doch Adèle genoss den Spaziergang durch die Blumenpracht und bewunderte ihre Schönheit. Es war ein traumhafter Sommertag mit intensiv blauem Himmel. Hunderte verschiedener Rosensorten rankten sich an Gittern hoch oder präsentierten sich als stolze Solitärgewächse. Sie streckten ihre Blüten und Knospen in allen Farben und Variationen der wärmenden Morgensonne entgegen und verströmten einen betörenden Duft.

An der Viktoria-Linde wählten wir einen der Wege, die in Richtung See führten. Doch immer noch gab es keinerlei Hinweise auf das Denkmal. Schließlich erkundigte ich mich bei einem der Gärtner, der mit der Bewässerung der Pflanzen beschäftigt war, doch der Mann hatte keinerlei Ahnung, obwohl er schon jahrelang auf der Insel beschäftigt war.

»Möglich, dass der Ort irgendwo am Rhododendronhang zu finden ist. Da gibt es ein paar Nebenwege«, meinte er achselzuckend und wies in südwestliche Richtung. »Ich hab nur mit den Rosen zu tun. Von einer Gedenkstätte weiß ich nichts.«

Ich bedankte mich und bat Adèle, auf einer der Bänke mit Blick auf den See auf mich zu warten. »Ich mache mich allein auf den Weg und hole dich, sobald ich den Ort gefunden habe.« Wenig später wurde ich an einem abseits gelegenen kleinen Weg fündig. Die Gedenkstätte stand so weit abseits, dass sich wohl nur selten ein Besucher dorthin verirrte. Ich war mir sicher, dass dies Absicht war. Es verstimmte mich. »Der Ort ist nicht weit von hier entfernt«, erklärte ich Adèle auf dem Weg kurze Zeit später. »Es wird ganz offensichtlich kein Hehl daraus gemacht, wie unwichtig das Gedenken an die Opfer für die Besitzer der Insel ist.«

Tatsächlich führte nur ein schmaler Kiesweg zu drei eng beieinanderstehenden schmucklosen Granitstelen. Auf der mittleren Stele fand sich eine deutsche und eine französische Inschrift von Antoine de Saint-Exupéry:

Mensch sein heißt verantwortlich sein.

Eine Tafel, die man ebenfalls leicht übersehen konnte, fand sich seitlich des Mahnmals und gab eine kurze Information über die dreiunddreißig französischen Toten aus dem KZ Dachau, die hier nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gestorben waren – fünfundzwanzig von ihnen wurden namentlich genannt. Der Name Antoine Mardieu war nicht darunter.

Wie gern hätte ich Adèle diese Enttäuschung erspart. Bekümmert streichelte ich ihre alten, knotigen Hände, die leicht zu zittern begannen. Ich spürte, wie sie schwach wurde, und führte sie zur nächsten Bank, damit sie sich wieder etwas ausruhen konnte. Sie wirkte niedergeschlagen, und ich ärgerte mich, dass ich vor einiger Zeit das Fünkchen vergeblicher Hoffnung in ihr geschürt hatte. Gleichzeitig wuchs in mir ein Trotz, der den Wunsch in mir anfachte, nun erst recht nachzuforschen.

»Wie ich dir schon sagte, könnte Großvater zu den acht Toten gehören, deren Identität nicht ermittelt wurde«, überlegte ich laut. »Nach dem Krieg hat sich niemand mehr die Mühe gemacht, sich um ihre Herkunft zu kümmern. Wir können zumindest davon ausgehen, dass sein Name noch in anderen Listen auftaucht. Darum werde ich mich als Nächstes kümmern.«

Adèle reagierte leider anders, als ich es erwartet hatte. »Es ist Zeit, dass wir die Vergangenheit ruhen lassen«, erwiderte sie müde. »Wir werden wohl nie erfahren, was mit Antoine damals geschehen ist. Lass es gut sein. Wir wissen doch, dass er ein guter Mensch war.«

Damit konnte und wollte ich mich jedoch nicht abfinden. Es gelang mir kaum, meine Enttäuschung zu verbergen. Schließlich war Adèle es doch gewesen, die mich hergelockt hatte. So einfach konnte ich mich nicht geschlagen geben.

»Das werden wir ganz gewiss nicht tun!«, widersprach ich vielleicht ein wenig zu energisch. »Das hat Großvater nicht verdient. Er hat für sein Land und seine Überzeugung gekämpft. Als sein Enkel bin ich es ihm schuldig herauszufinden, ob er hier gestorben ist. Außerdem empört es mich, wie man mit dem Andenken an die Opfer des Nationalsozialismus hier auf der Insel umgeht. Man will sich wahrscheinlich nicht an diese Menschen erinnern, weil sie nicht in das Konzept einer Vergnügungsinsel passen. Oder warum denkst du, liegt der Erinnerungsort so abseits?« Ich redete mich langsam in Rage. »Wusstest du übrigens, dass dieses Denkmal nur errichtet wurde, weil die Deutsch-Französische Gesellschaft und ein paar Wissenschaftler Druck auf die gräfliche Familie ausgeübt haben?« Ich warf ihr einen niedergeschlagenen Blick zu.

»Die Menschen wollen nicht überall an ihre Vergangenheit erinnert werden.«

Adèles Feststellung traf leider ins Schwarze, doch deswegen, so fand ich, durfte man sich noch lange nicht damit begnügen.

»Ja, da zu vergessen so viel einfacher scheint, als sich der bitteren Wahrheit zu stellen.« Ich wollte, dass sie mich verstand. »So geht man einfach nicht mit dem Andenken an Menschen um, denen Unrecht widerfahren ist. Als ob die Besitzer der Insel nicht schon genügend Geld mit den Nazis verdient hätten! Angeblich war der schwedische Graf ja neutral, was ihn jedoch nicht davon abhielt, das Schloss während des Krieges an die Naziorganisation Todt zu verpachten.« Adèle hörte mir nun wieder aufmerksam zu. Auf jeden Fall tat es mir gut, meiner Empörung freien Lauf zu lassen. Ich ließ mich darüber aus, dass Todt die bautechnische Organisation des Rüstungsministeriums der Nazis gewesen war. Die Insel sollte damals als Erholungsheim für Mitarbeiter und Gäste von Hitlers Architekt und Minister Albert Speer genutzt werden. Um das möglich zu machen, wurde das Anwesen auf Kosten der Nazis bestens instandgesetzt. Sogar eine neue Wasserleitung wurde gebaut. Aus Frankreich wurde Mobiliar herangeschafft, dessen Herkunft ungeklärt war. Von all diesen Renovierungsarbeiten profitierte die gräfliche Familie auch nach dem Krieg noch. Sie wurde sogar für Verwüstungen, die in der Nachkriegszeit entstanden waren, finanziell entschädigt. »Selbst die neunzig Taxus- und Buchsbäumchen, die beim Ausheben der Gräber herausgerissen werden mussten, stellte der Graf den Franzosen in Rechnung«, erklärte ich abschließend und stellte erst viel zu spät fest, dass Adèle in wirklich schlechter Verfassung war. Sie zitterte wie Espenlaub, sodass ich fürchtete, sie würde gleich zusammenbrechen. »Mamie, was bin ich nur für ein Idiot«, entschuldigte ich mich erschrocken und schlug ihr vor, sie ins Schlosscafé im Palmenhaus zu führen, damit sie sich ein wenig ausruhen konnte.

Den Weg dorthin schaffte sie nur mit großer Mühe. Doch als ich ihr ein Glas Wasser sowie Tee und Kuchen bestellt hatte, kehrten ihre Kräfte rasch zurück.

»Du bist ein guter Junge«, bemerkte Adèle und tätschelte liebevoll meine Hand. »Ich genieße die Zeit mit dir hier sehr. Du erinnerst mich in vielem an meinen Bruder.«

Sie lächelte versonnen und machte mich dann auf das wunderbare tropische Ambiente um uns herum aufmerksam.

»Wir könnten gleich noch auf den Hauptfriedhof fahren«, schlug ich ihr vor. Ich war nun ganz besessen davon, mit meinen Nachforschungen fortzufahren. »Womöglich finden wir ja dort einen Hinweis auf Grandpère. Falls er einer der noch nicht identifizierten Toten ist, wissen wir wenigstens, wo seine Überreste zu finden sind.«

»Mir wird das alles heute zu viel«, entschuldigte Adèle sich. »Ich setze mich lieber wieder in den wundervollen Garten am See.«

»Das verstehe ich natürlich«, lenkte ich notgedrungen ein. »Ich werde dir sofort ein Taxi rufen, das dich nach Hause bringen wird. Oder möchtest du, dass ich mitkomme? Ich kann den Segelkurs heute Nachmittag auch absagen.«

»Auf keinen Fall! Ich freue mich über die Ruhe am See und ein kleines Gespräch mit Frau Hufnagel.« Adèle zwinkerte mir zu. »Ich weiß doch, wie sehr du dich aufs Segeln freust. Und die hübsche Segellehrerin scheint dir ja auch ganz gut zu gefallen.«

Ich überging ihre Anspielung. »Dann werde ich allein zum Friedhof gehen«, erwiderte ich. »Ich muss einfach wissen, ob Antoine dort begraben liegt. Und dann treffe ich mich auch noch mit einem Kollegen von der Universität. Er weiß sehr viel über die Menschen, die hier auf der Mainau gewesen sind.«

Adèle schien von meiner Idee weiterhin nicht sehr begeistert zu sein. »Ach, Junge! Vielleicht war es ja doch ein Fehler, dass wir hierhergekommen sind«, murmelte sie. »Wenn ich meinen Frieden mit Antoines Schicksal gemacht habe, dann solltest du es auch tun. Was spielt es schon für eine Rolle, wo seine sterblichen Überreste wirklich liegen? Wir können doch nichts mehr ungeschehen machen. Lass uns lieber noch die Tage hier genießen und nicht mehr an die Vergangenheit denken.«

Sie berührte noch einmal meine Hand und sah mich dabei so eindringlich an, als könnte sie mich damit auf ihre Seite ziehen. Ich verstand ihren jähen Sinneswandel einfach nicht. Doch sosehr ich ihren Willen auch sonst akzeptierte, ich konnte und wollte mich diesem nicht beugen, jetzt, da ich schon mal Blut geleckt hatte.

»Ich bin Historiker«, erinnerte ich sie sanft. »Schon allein deswegen ist es meine Pflicht, Großvaters Schicksal auf den Grund zu gehen. Es ist bestimmt auch in seinem Sinn.«

Adèles Augen füllten sich mit Tränen. »Eigentlich wollte ich nur hierherfahren, um Zeit mit dir zu verbringen«, erklärte sie mit brüchiger Stimme. »Ob er nun hier gestorben ist oder woanders, spielt doch eigentlich keine Rolle. Warum willst du das nicht endlich verstehen?«

»Weil es für mich plötzlich sehr wichtig ist.«

Sie nickte und wischte sich unbeholfen mit dem Handrücken über die Wange, bevor sie gezwungen lächelte. »Dann soll es wohl so sein, mein Junge«, sagte sie.