Epilog

Sicherheitshinweis: Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt!«

Die monotone Frauenstimme der Ansage legte sich über das Gemurmel auf dem Flughafengelände, während ich meinen Rollkoffer in Richtung Gepäckaufgabe schob. Ich reihte mich in die lange Schlange der Wartenden ein und zückte mein Smartphone, um mich zu vergewissern, dass mein E-Ticket noch verfügbar und mein Akku geladen war. Ich misstraute immer der Elektronik, was für viele etwas oldschool war. Ich hatte immer noch lieber ein Stück Papier in den Händen, doch im Trubel der vergangenen Tage hatte ich keine Zeit gehabt, mir das Ticket noch einmal auszudrucken. Adèles plötzlicher Tod kurz vor meiner Abreise in die USA hatte so vieles durcheinandergebracht.

Wie sie in ihrem Testament verfügt hatte, wurde sie in aller Stille beigesetzt. Ich hatte niemanden darüber informiert, auch nicht Aaron und Valerie, obwohl mich das in Gewissenskonflikte gestürzt hatte. Natürlich hätten sie ein Recht darauf gehabt, sich von ihrer Tante und Großtante zu verabschieden. Doch der Gedanke, Valerie so kurz nach dem bitteren Ende unserer Liebe noch einmal gegenübertreten zu müssen, schien mir so unerträglich, dass ich darüber hinweggegangen war. Ich hatte den beiden nachträglich eine Trauerkarte samt einem langen Brief geschickt und sie um Verständnis gebeten.

Adèles Nachlass war zum Glück geregelt gewesen. Nachdem sie von Aaron und Valerie erfahren hatte, hatte sie ihr Testament noch einmal geändert und die beiden mit Erinnerungsstücken sowie gewissen Anteilen an ihrem Vermögen bedacht. Ich blieb ihr Haupterbe und hatte mich deswegen um ihre sonstigen Besitztümer zu kümmern. Den Verkauf ihres Hauses hatte ich einem Makler übergeben. Damit war für mich auch die letzte Brücke in meine Vergangenheit abgebrochen.

Meinem Leben in den Vereinigten Staaten sah ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Auf der einen Seite freute ich mich auf neue Aufgaben, auf der anderen Seite trauerte ich all dem nach, was ich damit zurückließ – Paris, meine Freunde und vor allem meine große Liebe Valerie. Ich hatte immer geglaubt, die Abgründe von Liebeskummer zu kennen, als sich Marie-Claire von mir trennte, doch dieses Mal hatte mein Schmerz eine ganz andere Dimension. Alles hatte perfekt gepasst, unsere Gefühle füreinander waren stetig gewachsen. Ich wusste, dass ich mich nirgendwo sonst als in ihrer Nähe so fallen lassen konnte, weil sie mir so viel Vertrauen entgegenbrachte, wie kein anderer Mensch es jemals zuvor getan hatte. Wir waren uns unserer Gefühle so sicher gewesen und durften sie doch nicht leben. Valerie hatte alles ergänzt, was mir fehlte. Ob ich sie jemals vergessen konnte?

Mein Wunsch, ihr nah zu sein, war so groß, dass ich sie in allen möglichen Menschen zu sehen glaubte. Sobald ich auch nur aus der Ferne jemanden entdeckte, der ihr ein wenig ähnelte, begann mein Herz, wie wild zu schlagen, und ich bekam vor Aufregung Schweißausbrüche. Kaum hatte ich die Täuschung bemerkt, verkrampfte sich mein Herz vor Enttäuschung. Danach fühlte ich mich hilflos und traurig. Hinzu kam meine Trauer um Adèle. Ihr Tod war trotz ihres hohen Alters dann doch viel zu überraschend gekommen. Wie bitter für die alte Frau, dass das Schicksal es nicht zugelassen hatte, dass sie rechtzeitig von Antoines Kehrtwende im Leben erfahren hatte. So vieles war in letzter Zeit aus dem Ruder gelaufen. Alle Konstanten, die mir einmal Sicherheit gegeben hatten, hatten sich in Luft aufgelöst. Ich fühlte mich wie ein hilfloses Blatt im Wind.

Solche und ähnliche Gedanken begleiteten mich, während sich die Reihe langsam in Richtung Gepäckaufgabe bewegte. Als ich endlich meinen Koffer abgegeben hatte, war schon so viel Zeit vergangen, dass ich mich sputen musste, um durch den Zoll und die Security zu gelangen. Auch hier warteten lange Schlangen auf mich. Während ich überlegte, an welchem der Schalter ich mich anstellen sollte, entdeckte ich eine Frau mit einer auffälligen Wollmütze, die sich den Wartenden mit eiligen Schritten näherte. Sie sah sich hektisch um. Die Art, wie sie sich bewegte, erinnerte mich prompt wieder an Valerie. Ich zwang mich wegzusehen, da ich sicher war, dass mein Verstand mir erneut einen Streich spielte. Doch dann hörte ich eine wohlbekannte Stimme, die laut und deutlich meinen Namen rief.

»Rick! Rick! Geh noch nicht!«

Jedes einzelne Wort fühlte sich an wie ein Stromschlag. Ich schloss die Augen, wartete darauf, dass die Wirklichkeit mich wieder einholte. Dann vernahm ich empörte Proteste, weil sich jemand vordrängelte. Ich öffnete die Augen und sah die Frau mit der Wollmütze näher kommen. Es war tatsächlich Valerie. Wie hätte ich jemals die hellen Augen und ihre unverwechselbaren Gesichtszüge vergessen können? Sie war außer Atem. Einzelne Löckchen hatten sich unter ihrer Mütze hervorgestohlen.

»Wir müssen reden!«

Das war alles, was sie hervorbrachte. Dann wagte sie ein Lächeln, das ihre wunderbaren Sterngrübchen hervorzauberte. Am liebsten hätte ich sie einfach nur in den Arm genommen, was ich selbstverständlich nicht tat. Stattdessen starrte ich sie nur an.

»Was willst du hier?«, brachte ich schließlich mühsam hervor. »Mein Flieger geht in einer Dreiviertelstunde.«

»Ich musste dich einfach noch einmal sehen, bevor … bevor du abreist«, stammelte sie nun plötzlich verlegen. Sie zeigte auf ein Café in der Nähe. »Lass uns dort drüben hingehen«, bat sie mich.

»Das … das geht nicht«, erwiderte ich völlig verunsichert. »Es würde uns den Abschied nur noch schwerer machen. Und ich würde meinen Flieger verpassen.«

»Ich weiß …« Sie schluckte. Ihre Stimme klang zaghaft und unsicher. »Aber da gibt es etwas, das du unbedingt wissen solltest.«

»Ich … ich kann nicht!«

Plötzlich wollte ich nur noch weg. Schnell durch die Security und zum Gate. Doch Valerie griff nach meinem Arm und zog mich mit sich. Als wir schließlich im Café saßen, schwiegen wir uns beide erst einmal eine Weile an. Valerie schien genauso unsicher wie ich. Ich sah, wie sie auf ihrer Unterlippe kaute und vergeblich nach dem passenden Beginn unserer Unterhaltung suchte. Vermutlich bereute sie bereits, mich abgefangen zu haben. Mir ging es nicht anders. Was war nur in sie gefahren, dass sie uns beiden das noch einmal antat? Ich wollte schon aufstehen, um mich wieder an der Security anzustellen, als sie endlich zu reden begann.

»Es tut mir leid, dass ich erst so spät komme«, sagte sie. »Aber vorher war ich einfach noch nicht so weit. Und mein Zug hierher hatte Verspätung, also …«

Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Was redete sie nur? Valerie sprach in Rätseln, für die ich im Augenblick wirklich keinen Nerv hatte.

»Zu was warst du nicht bereit?«, hakte ich nach. Mit jedem Wort kam wieder neuer Schmerz. »Dich persönlich von mir zu verabschieden? Das hättest du uns besser erspart …« Ich schluckte, denn es fiel mir nicht leicht, ihr noch einmal in die Augen zu sehen. Unsere Blicke begegneten sich, und ich musste erneut gegen meine Gefühle ankämpfen. »Wir müssen beide lernen, unsere Gefühle füreinander zu unterdrücken«, fuhr ich beklommen fort. »Deswegen ist es wohl besser, wenn wir das hier möglichst schnell beenden. Ich brauche zumindest jetzt Abstand. Du wirst mir immer viel bedeuten. Doch im Augenblick kann ich einfach noch nicht mit dir reden.«

Ich erhob mich, um der Farce endlich ein Ende zu bereiten. Da berührte sie meinen Arm und sah mich mit Tränen in den Augen an.

»Nun weiß ich ganz sicher, dass du mich wirklich liebst«, flüsterte sie und schnitt mir damit noch tiefer ins Herz. »Und ich liebe dich auch!«

»Valerie, was soll das?«, fuhr ich sie an und versuchte, mich von ihr loszumachen.

War sie wirklich nur hierhergekommen, um uns noch einmal zu quälen? Ihr Griff wurde fester.

»Du kannst gleich gehen«, sagte sie mit einem Mal bestimmt, »aber erst möchte ich, dass du dir anhörst, was ich zu sagen habe. Bitte, tu mir den Gefallen!«

Nicht fähig, ihr zu widerstehen, ließ ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen. Sie ließ mich los. »Kannst du dir vorstellen, dass das Leben noch mehr Kapriolen für uns schlagen kann?«, überraschte sie mich mit einem rätselhaften Lächeln.

»Wenn du damit meinst, dass es mich noch mehr quälen kann, dann wohl kaum«, antwortete ich düster. »Und wenn du jetzt nicht endlich auf den Punkt kommst, dann gehe ich wirklich!«

»Wir sind nicht miteinander verwandt.«

»Wie bitte?« Ich glaubte, mich verhört zu haben. Dann wurde ich ungehalten. »Was soll das? Willst du mich auf den Arm nehmen? Über so etwas macht man keine Späße.«

»Aaron ist nicht mein Vater. Also bin ich nicht Antoines und Marguérites Enkelin.«

»Aber natürlich ist Aaron dein Vater!« Ich verstand immer noch nicht, was sie mir sagen wollte.

»Aaron ist zeugungsunfähig, und meine Mutter hat ihn betrogen, kurz bevor sie mit mir schwanger wurde«, erklärte Valerie schlicht. »Sie hat all die Jahre gedacht, dass Aaron ihr nicht auf die Schliche kommen würde. Aber mein Vater ist schließlich Arzt. Nachdem die beiden jahrelang erfolglos versucht hatten, Kinder zu bekommen, ließ er sich untersuchen. Es bestand kein Zweifel daran, dass er unfruchtbar war. Er war jedoch zu feige, meiner Mutter zu gestehen, was er herausgefunden hatte. Als sie dann plötzlich doch schwanger wurde, wusste mein Vater natürlich sofort, dass sie ihn betrogen hatte. Er hatte fürchterliche Angst, sie zu verlieren, deshalb hat er sie nie zur Rede gestellt. Meine Mutter ahnte, dass ich nicht Aarons leibliche Tochter war. Auch sie fürchtete, dass mein Vater sie wegen ihres Fehltritts verlassen könnte, und hütete ihr Geheimnis. Die zwei haben mein ganzes Leben lang geschwiegen, bis mein Vater meine Mutter gezwungen hat, ehrlich zu sein. Sie haben sich endlich ausgesprochen, und die Erleichterung war ihnen anzusehen. Wahrscheinlich wäre das alles nie ans Tageslicht gekommen, wenn wir uns nicht kennengelernt hätten und du nicht begonnen hättest, in unserer gemeinsamen Vergangenheit zu stöbern.«

Mit einem Lächeln, das so viel mehr ausdrückte als alle Worte, schob sie langsam ihre Hand über den Tisch auf die meine zu. Als sich unsere Finger berührten, durchflutete mich eine Welle von Glück und Erleichterung. Da wusste ich, dass nun alles gut werden würde.

ENDE