Der große Bankettsaal stank nach Bier und Zigarren, die Bedienungen gähnten hinter vorgehaltenen Händen. Carl löste seinen Krawattenknoten und öffnete den obersten Hemdknopf. Gegenüber an der langen Tafel, deren weißes Tischtuch übersät war mit Rotwein- und Schnapsflecken, mit Resten des Wildschweinbratens und des Preiselbeerkompotts, und in deren Mitte die Rosengestecke allmählich die Köpfe hängen ließen, saß der Erste Sekretär des Reichsmarschalls und Reichsjägermeisters. Er wankte auf seinem Stuhl, und als er aufstand und versuchte, Halt auf seinen schnapsbefüllten Beinen zu finden, machte er einen Ausfallschritt zur Seite. Er stützte sich auf eine Stuhllehne und übergab sich, was ohne jeden Zweifel dem Kräuterlikör aus Heinrichs und Carls Familienunternehmen geschuldet war. Das Erbrochene quoll aus seinem Mund und platschte auf die Tischplatte und auch auf die Stiefel des Reichsmarschalls. Der sprang vom Stuhl auf, und auch ihn, diesen dicken Mann, ließ der Gleichgewichtssinn im Stich. Er schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand und glitt hinab. Ein paar Männer eilten ihm zur Seite und halfen ihm auf. Er schüttelte umständlich sein Bein, sodass der grau-braune Brei von seinem Schuh rutschte. Lachend schwankte er auf Heinrich zu und umarmte ihn. »Ein Teufelszeug, Ihr Tropfen!«
Heinrich bedankte sich förmlich, indem er seinen Kopf senkte und dem Reichsmarschall die Hand gab. Carl nickte kurz. Er mochte den Mann nicht anfassen.
Die Gruppe der Letzten löste sich auf. Der Reichsjägermeister und sein Gefolge verließen singend, grölend den Saal und torkelten auf den Ausgang zu. Carl ging mit Heinrich zur Garderobe, sie ließen sich ihre Mäntel geben. Draußen wartete Joseph mit dem Wagen.
»Ich werde zu Fuß gehen«, sagte Carl. »Ein wenig Sauerstoff dürfte nicht schaden.«
Bevor Heinrich einstieg, drehte er sich noch einmal um: »Das war heute ein außerordentlich wichtiger Abend für uns. Ich weiß, dass du mein Verhalten missbilligst. Aber manchmal geht es nicht anders, manchmal muss man ihre Lieder singen. Wir tragen Verantwortung. Für viele Familien.«
Ein eisiger Schneewind biss Carl ins Gesicht, er stellte den Mantelkragen auf und schloss den letzten Knopf. »Ich bin kein guter Sänger«, sagte er und ging.
Als er den Wagen hinter sich abfahren hörte und der zur Seite spritzende Schneematsch leiser wurde, hielt er inne und wandte sich um. Die Rücklichter des Opel Kapitän bogen am Ende der Straße rechts ab und verschwanden. Carl machte kehrt und ging zum Hotel zurück. Die Drehtür schraubte ihn fast geräuschlos in die Lobby. Die Rezeption war unbesetzt, Carl trat sacht auf und huschte zur Treppe auf der anderen Seite; der Fahrstuhl hätte unnötige Töne von sich gegeben. Im siebten Stock rang er nach Atem, die vergangenen Stunden mit ihrem Alkohol, ihren Zigarren und dem ganzen Essen klebten in seinen Lungen. Er holte Luft, strich sich das Haar aus der Stirn und ging über den Flur zum Zimmer 709. Er schaute sich um, sicherte nach den Seiten und klopfte vorsichtig. Lea öffnete, sie zog ihn wortlos hinein, und auch sie sah noch einmal den Gang entlang, bevor sie die Tür schloss. Im Zimmer herrschte Dunkelheit, nur ein paar Straßenlichter und der Mondschein fielen durch zwei hohe Fenster, in deren Mitte ein Biedermeiersekretär stand. Links an der Wand war ein riesiges Bett, das mit einer Brokatdecke verhüllt war, auf der dicke Kissen mit Samtbezug lagen.
»Habt ihr die Fahrscheine gefunden?«, fragte er.
»Ja«, sagte Lea und trat dicht vor ihn. Ihr schwarzes Haar roch nach Rosenwasser.
»Und die Ausweise?«, fragte er. »Konnte von Trotter die Ausweise besorgen?«
Lea griff in ihre Rocktasche und zog zwei Pässe hervor, ausgestellt auf Minna und Franz Strasser, neben den Namen die Porträts von Lea und Simon.
»Es wird funktionieren«, sagte Carl und holte Luft.
»Komm morgen mit«, erwiderte sie. »Komm mit in die Schweiz. Dort sind wir sicher.«
Ein Ofen in der Ecke strahlte Wärme in den Raum, ein kleines Stück Kohle glomm hinter der Scheibe und warf einen Lichtfleck auf den weinroten Teppich. Sie sahen einander lange an. Lea schien ebenso überrascht wie er von der Klarheit, die sie verspürten, obwohl sie sich kaum kannten. Obwohl ihre Verbindung völlig unmöglich war.
»Ich wünschte, ich könnte«, sagte Carl. »Aber es geht nicht. Ich kann nicht. Meine Familie, die Firma.«
Lea nickte. »Dann halt mich fest«, sagte sie, und Carl schloss sie in seine Arme. Sie presste sich an ihn, streichelte seinen Rücken, legte ihren Kopf an seine Brust. Von einem Wandgemälde über dem Bett funkelten die goldenen Gewänder eines Mannes und einer Frau, ein zweidimensionaler Kunstschnitt eines Paares, das die Augen geschlossen hielt und einander umschlang. Carl küsste Leas Stirn und spürte ihre Tränen, die durch seinen Hemdstoff drangen.
»Es wird alles gut werden«, sagte er und ließ seine Hände ihre Schultern ertasten, ihren Rücken, die kleinen, spitzen Knochen ihrer Wirbelsäule. Ihr Hals schmeckte salzig, er roch ihren warmen Schweiß und das Haar, das seitlich unter ihrem Kopftuch hervorhing.
»Nicht«, sagte sie leise und drückte ihn sanft von sich. Sie sah zu Boden, und im gleichen Moment machte sie einen Schritt auf ihn zu und erneuerte die Umarmung. So hatte er seine Ehefrau Frederike schon eine Ewigkeit nicht mehr im Arm gehalten. Im Vergleich erschien sie ihm schroff, fast plump, wenngleich er sie in den ersten Jahren geliebt hatte. Lea war anders, ihr Griff war fest und sanft zugleich, wenn sie jetzt seine Arme, seine Schultern umfasste. Er spürte das sachte Kreisen ihrer Brust an seiner, Bewegungen, so fordernd wie verschämt. Als sie den Kopf hob und Carl ansah, streichelte er ihr Gesicht, sie lächelte, sie schloss die Augen, und sie ließ sich von ihm küssen. Die Lippen berührten sich, einer den anderen ertastend, weiche Lippen, die Angst vor dem hatten, was sie taten. Carl zog seinen Mantel aus und auch das Sakko und ließ beides neben sich fallen. Er knöpfte ihre Bluse auf. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Körper, auf warme, feste Hügel, und dabei küsste er sie weiter, immer weiter und zog sie sanft mit sich zu Boden. Er küsste ihren Hals und streifte ihren Rock ab und auch den Stoff, den sie darunter trug. Er küsste die glatte Haut ihrer Schenkel. Sie hielt seinen Kopf dabei, und ihr leises Stöhnen brach die Stille. Carl erhob sich und befreite sich von seinen restlichen Kleidern. Sie sah ihm zu und tat es ihm nach. Lea schmiegte sich an ihn, sie rieben ihre Körper aneinander. Leas Haut glänzte im Vollmond, die feinen Härchen auf ihren Armen schimmerten, und ihre Küsse schmeckten süß und ein wenig nach Hagebutten.