Die Zuschauerreihen im großen Schwurgerichtssaal des Landgerichts Magdeburg waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Kamerateams und ein Schwarm von Fotografen schritten vor der Anklagebank entlang und hielten die Szene für die Ewigkeit fest: Maik Winkler, der gut aussehende Polizeibeamte, den die Zeitungen für schuldig hielten, noch bevor der erste Verhandlungstag begonnen hatte, stand neben seinem Verteidiger und besprach sich mit ihm ohne jede Gefühlsregung. Winkler, der Undurchsichtige, hatte ein Wochenblatt geschrieben, höflich, aber kalt sei er, ein Mann, dem man alles zutraute und nichts, einer, der sich nicht in die Karten schauen lasse, ein Pokerspieler, verschlossen, berechnend, ein Mörder mit Umgangsformen. Blaue Jeans, weißes Hemd, den obersten Knopf verschlossen, Winkler war gekleidet wie ein Geistlicher auf Freizeit. Er hatte sich frisch rasiert, seine Haut schimmerte leicht rötlich, und seine kurzen, hellbraunen Haare hatte er akkurat nach hinten gekämmt.
Das Gericht betrat den Saal, alle erhoben sich. Drei Berufsrichter, in der Mitte die Vorsitzende, eine Frau Westphal, neben ihr die beiden Beisitzer und daneben zwei Schöffen. Die Westphal: eine Frau mit blonden, kinnlangen, etwas zu strähnigen, fast fettigen Haaren und Brille. Ihre Kollegen aus der Kammer: der eine mit einem Ohrring, an dem ein kleines Kruzifix baumelte, ein Umstand, den es vor zehn Jahren in einem Gerichtssaal noch nicht gegeben hätte. Die schwarzen Haare trug der Mann kurz, Falten durchfurchten sein Gesicht; ein jungwilliger Altrocker, ein Linker vermutlich. Der andere trug einen akkuraten grauen Kurzhaarschnitt und Hornbrille, breite Schultern, mindestens eins neunzig groß, Typ: Soldat; ein Mann, auf den Hannes setzen konnte. Dazu die Schöffen – Beiwerk im Strafprozess, gesichtslos und faktisch unbedeutend, auch wenn sie selbst ihre Funktion anders sahen.
Fünf Menschen also, in schwarzen Roben mit Samtrevers, drei Profis, zwei Laien, die irgendwann, wenn die Beweisaufnahme abgeschlossen war, über Wohl und Wehe des Angeklagten zu entscheiden hatten. Die Kameras schwenkten zum Richtertisch. Die Vorsitzende verschränkte die Arme auf dem Rücken und ließ etwas Zeit vergehen, bevor sie die Journalisten bat, das Fotografieren einzustellen, und alle Anwesenden aufforderte, Platz zu nehmen.
Hannes, in neuer Robe, richtete seinen Krawattenknoten. Er setzte sich und schlug – eher aus einem Reflex heraus – die Akte auf.
Von draußen wehte Schneeregen gegen die Scheiben, im Raum hing trockene Heizungsluft. Hannes warf einen kurzen Blick hinter sich, sein Koffer stand unversehrt am Rand. Ski und passende Stiefel würde er sich vor Ort leihen, Sophie hatte gesagt, es gebe einen Verleih direkt im Hotel. Hannes sah zur Uhr an der Wand über den Zuschauern, in zwei Stunden ging der Zug nach München. Sophie wollte direkt von Berlin aus fahren, Treffpunkt: die Weißbiertheke im Münchener Hauptbahnhof. Der Gedanke, mit Sophie die nächsten sieben Tage (und Nächte!) in einem Hotelzimmer an der Zugspitze zu verbringen, ließ Hannes einen Schauer über den Rücken laufen.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren. Zum Aufruf kommt die Strafsache Winkler.« Die Vorsitzende schob ihre Brille bis vorn zur Nasenspitze und sah über den Brillenrand in die Reihen. Sie sagte zur Protokollführerin, die ganz außen links an der Stirnseite des Richtertisches saß: »Es sind erschienen: der Angeklagte in Person mit seinem Bevollmächtigten, Herrn Doktor Jansen, und für die Staatsanwaltschaft Frau Doktor Baier.«
Die Protokollführerin tippte alles in ihren Computer.
»Dann müssten erschienen sein«, fuhr die Vorsitzende fort, »Herr Professor Doktor Bender, Herr Doktor Stanev und Frau Professor Doktor Witt.« Die jeweils Angesprochenen, die in der ersten Zuschauerreihe saßen, nickten.
»Wunderbar«, sagte die Vorsitzende. »Die Kammer hat sich im Vorfeld der heutigen Verhandlung Gedanken über den Ablauf gemacht. Ich schlage vor, wir setzen zunächst einmal fünfzehn Sitzungstage an. Aus Sicht der Kammer macht es Sinn, wenn wir zunächst in die Zeugenvernehmung einsteigen und anschließend die Sachverständigen hören. Bestehen Bedenken?« Die Vorsitzende sah nach links und rechts.
Baier und Hannes schüttelten den Kopf.
Der Sachverständige Bender sollte in sechs bis acht Wochen angehört werden, Mitte Februar also, gegebenenfalls – wenn nötig – mit Nachvernehmung in den zwei Wochen danach.
Er blätterte in seinem Kalender und sagte: »Ich gehe davon aus, das passt. Allerdings müsste ich das kurz mit meinem Sekretariat abstimmen, vor allem, weil ich nicht über den Kopf meiner Assistentin hinweg Termine zusagen kann. Sie muss auf jeden Fall bei den Anhörungen dabei sein.«
»Natürlich«, sagte die Vorsitzende. »Tun Sie das. Und wir fangen hier schon mal an. Solange würde ich die Sachverständigen nach draußen bitten. Dann können Sie, Herr Bender, telefonieren. Einverstanden?«
Zustimmendes Nicken auf allen Seiten.
Hannes sah auf sein Handy. Sophie saß bereits im Zug und schickte ein Foto von einer kleinen Weinflasche und einem Glas daneben. Beides stand auf einem Tisch im Bordbistro, an das Glas hatte sie ein Post-it geklebt, darauf der Abdruck ihres roten Lippenstifts und darunter handschriftlich: Gleich! Freu mich!!! Hannes steckte das Handy zurück in die Aktentasche, die neben ihm auf dem Boden stand.
Die drei Sachverständigen verließen den Saal. Die schwere Holztür quietschte beim Öffnen und fiel mit einem Knall zurück ins Schloss. Einer der beiden Justizbeamten, die links und rechts am Eingang standen, prüfte, ob die Tür auch wirklich geschlossen war.
Die Vorsitzende sah zur Staatsanwältin. »Dann sind Sie dran, Frau Doktor Baier. Bitte sehr.«
Die Staatsanwältin erhob sich und nahm ein paar zusammengetackerte DIN-A4-Seiten zur Hand: »Hohes Gericht, Herr Verteidiger, verehrte Anwesende. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, durch mehrere aufeinander folgende Handlungen einen Menschen aus niederen Beweggründen grausam und zur Verdeckung einer anderen Straftat vorsätzlich und schuldhaft ermordet zu haben, indem er das Opfer, den Senegalesen Abba Okeke, in der Nacht des 6. auf den 7. Januar 2005 in Polizeigewahrsam nahm, ihn – nachdem Okeke sich wiederholt zur Wehr gesetzt hatte – mittels Faustschlägen und unter Einsatz seines Schlagstocks körperlich misshandelte und ihm dabei wenigstens einen schweren Schlag auf den Kopf beziehungsweise ins Gesicht versetzte. Dabei brach Okekes Nasenbein, zudem blutete er stark aus einer Platzwunde an der rechten Augenbraue und hatte das Bewusstsein verloren. Um die Spuren dieser Misshandlung zu verdecken, fesselte der Angeklagte sein Opfer mit Händen und Füßen an Metallbügeln, die in Wand und Boden eingelassen waren. Er übergoss das Opfer mit Benzin und zündete es an, der Körper verbrannte bis in die tiefsten Hautschichten bis zur Unkenntlichkeit, der Tod trat wenige Minuten nach Ausbruch des Feuers durch multiples Organversagen ein.«
Hannes beobachtete, während Baier die Anklage verlas, Winkler neben sich. Der hatte seine Hände in den Schoß gelegt und nestelte am verkümmerten Nagel seines rechten Daumens herum. Hannes betrachtete seinen eigenen Daumen. Der menschliche Fingernagel entsprach anatomisch dem Huf eines Pferdes. Hannes hatte vor Jahren seinem Vater beim Löschen eines Stallbrandes geholfen. Ein Fohlen war in den Flammen umgekommen, der Körper war vollkommen verkohlt gewesen, und die Hufe hatten sich verformt wie Luftballons, aus denen die Luft entwichen ist – zusammengeschmolzen zu einem kleinen, letzten Konzentrat.
Winkler ließ seine Hände unterm Tisch verschwinden und starrte Hannes regungslos an.
Die Staatsanwältin spulte ihr Programm ab: »Der Angeklagte handelte vorsätzlich, er wusste um die Folgen seiner Handlungen und wollte diese auch. Es liegt Vorsatz in Form des dolus directus ersten Grades vor. Eine Rechtfertigung oder Entschuldigungstatbestände scheiden aus. Das Verhalten ist strafbar gemäß Paragrafen 211, 306, 223, 53 Strafgesetzbuch.« Baier setzte sich.
»Vielen Dank, Frau Staatsanwältin«, sagte die Vorsitzende und wandte sich an Hannes: »Wird Ihr Mandant sich zur Sache einlassen?«
Hannes erhob sich. »Mein Mandant macht von seinem Recht zu schweigen Gebrauch, Frau Vorsitzende.« Unter dem Raunen der Zuschauer setzte er sich wieder.
»Bitte Ruhe im Saal«, sagte die Vorsitzende. Die Geräusche versiegten. »Bitte nehmen Sie auf«, sagte sie in Richtung Protokollführerin: »Auf Nachfrage erklärt der Angeklagte …«
»Entschuldigung«, unterbrach Hannes sie. »Es muss heißen: Der Bevollmächtigte des Angeklagten, nicht: der Angeklagte. Der Angeklagte hat noch gar nichts gesagt, und er wird auch nichts sagen.«
Westphal sah über ihren Brillenrand Hannes an: »Herr Verteidiger, der Prozess hat noch nicht einmal richtig begonnen, und Sie kommen schon mit Förmeleien.«
»Verzeihen Sie, Frau Vorsitzende, das Protokoll hat den Ablauf der Verhandlung korrekt wiederzugeben, und es wäre nicht korrekt, es so zu formulieren, wie Sie es eben diktiert haben. Erklärt habe ich etwas, nicht mein Mandant. Und im Übrigen …« Hannes unterbrach. Er überlegte kurz, dann fuhr er fort: »Meinen sachlich völlig zutreffenden Einwand als Förmelei abzutun kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes einen Befangenheitsgrund darstellen. Ich verweise auf die Entscheidung des BGH vom 23. November 1998, nachzulesen in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht 1999, Seite 411.«
Im Saal war es still, nur die Heizung knackte, und draußen pfiff der Wind an den Fensterscheiben vorbei.
»Und, wollen Sie jetzt einen Befangenheitsantrag gegen mich stellen?« Die Vorsitzende lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wir sind noch beim Warm-up«, sagte Hannes und lächelte. Auch er lehnte sich jetzt in seinen Stuhl zurück, seine Arme ließ er links und rechts an den Stuhllehnen herunterbaumeln.
Winkler beugte sich zu ihm und flüsterte: »Was soll das? Warum verärgern Sie die Frau? Das ist doch Schwachsinn.«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, flüsterte Hannes zurück. »Sie hat schon in den ersten Minuten versucht, Spielchen zu spielen. Jetzt weiß sie, woran sie bei uns ist.«
Winkler schien einen Moment zu überlegen. Er sah sich im Saal um, dann wieder zu Hannes, und nickte.
»Na schön«, sagte die Vorsitzende an die Protokollführerin gewandt. »Auf Nachfrage des Gerichts erklärt der Verteidiger des Angeklagten: Mein Mandant macht von seinem Recht zu schweigen Gebrauch.«
Hannes sah wieder auf sein Handy, Sophie hatte geschrieben: Habe Lust auf Dich. Er schrieb zurück: Und ich auf Dich. Acht Stunden, dann sind wir im Hotel. Stell den Schampus kalt. Er schob das Telefon in die Hosentasche.
Hannes sah wieder zu Winklers Händen. Der Huf des Fohlens war damals zusammengezogen wie ein Stück Trockenobst, und er war ganz schwarz gewesen. Winklers Nagel dagegen, den er jetzt wieder mit seinem linken Zeigefinger streichelte, schimmerte blassweiß.
»Was ist?«, fragte Winkler leise.
»Was ist da passiert?« Hannes deutete auf Winklers Daumen.
Winkler drehte den Daumen wie einen fremden Gegenstand von einer zur anderen Seite und betrachtete ihn. Dann schob er seine Hand in die Hosentasche. »Manchmal bekommt man vererbt, was man nicht braucht«, sagte er.
»Von Geburt an?«
»Oder Nagelpilz, den ich mir in der Pubertät eingefangen habe. Wer weiß. Man sollte seine Finger halt nicht überall reinstecken.« Winkler deutete ein Lächeln an.
Die Vorsitzende rief über die Sprechanlage die Sachverständigen in den Sitzungssaal zurück. Die beiden Männer und die Frau nahmen auf ihren vormaligen Plätzen in der ersten Zuschauerreihe Platz.
»Und, Herr Professor Bender, passen die Termine bei Frau Doktor Tauber?«
Hannes hob den Kopf. Was war das?
»Ja, Frau Vorsitzende, die Kollegin Tauber ist an den geplanten Tagen verfügbar.«
Bei wem? Bei Frau Dr. Tauber?
Hannes sah diesen Bender genauer an, weißes Haar, grobe Brille, abgewetzte Aktentasche neben sich, ein asketischer Wissenschaftler, bestimmt zwei Meter groß und reingesteckt in einen hellbraunen Cordanzug, der auf den Oberschenkeln glänzte. Er lächelte zufrieden, dieser Mann, er wartete auf richterliche Anweisungen.
»Entschuldigung«, sagte Hannes, zur Vorsitzenden gewandt. »Wer genau ist Frau Doktor Tauber?«
Die Vorsitzende neigte ihren Kopf etwas zur Seite und kniff die Augen zusammen, die Geste, die man macht, wenn man nicht glauben kann, dass es Menschen gibt, die derart überflüssige Fragen stellen können. Hannes’ Atmung ging jetzt kurz und schnell, er konzentrierte sich auf sich selbst. Tu immer so, als hättest du die Situation im Griff, bleib ruhig, zappele nicht auf deinem Stuhl herum und rede nicht zu laut.
Die Vorsitzende sah zu Professor Bender. Der sagte: »Frau Doktor Tauber, Herr Verteidiger, ist meine Assistentin. Sie hat wesentlich am Gutachten mitgearbeitet, sie steckt mehr im Detail als ich. Sie ist diejenige, auf deren Expertise es im hiesigen Prozess ankommt.«
»Frau Doktor Tauber?«, fragte Hannes, aber er kannte die Antwort bereits.
»Ja«, sagte Bender. »Frau Doktor Sophie Tauber.«
Hannes spürte seinen Puls beschleunigen, er sah in die Zuschauerreihen, die Leute starrten ihn an, als erwarteten sie etwas von ihm.
Sophie im Adlon, sie bestellt Wein und redet Unsinn über Opern. Sophie im Fahrstuhl, als sie Hannes Der Widerspenstigen Zähmung ins Ohr flüstert. Sophie im Hotelzimmer, in das nur das Licht der Straße fällt und sich auf ihrer nackten Haut spiegelt.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte die Vorsitzende.
Hannes wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn.
Ärztin, hatte Sophie gesagt, und im Boot auf der Alster hatte sie die Pathologie erwähnt. Warum, verdammt noch mal, hatte Hannes nicht genauer nachgefragt? Bis eben noch war Professor Bender der größter Gegner in diesem Prozess gewesen. Sicher eine Aufgabe, die schwer genug geworden wäre. Doch jetzt hieß der Gegner Sophie und war die Frau, zu der sich Hannes hingezogen fühlte, wie nie zu einer anderen Frau davor.
»Herr Jansen, ist alles in Ordnung?« Die Stimme der Vorsitzenden wurde lauter. Sie kam von weit weg und hallte im Saal.
»Das kam überraschend. Ich hatte keine Kenntnis davon, dass das Gutachten von Professor Bender tatsächlich von jemand anderem stammt.«
»Nun, verantwortlich zeichnet Herr Professor Bender«, sagte die Vorsitzende. »Und es ist legitim, wenn er sich der Hilfe Dritter bedient.«
»Sicher, natürlich, Frau Vorsitzende. Kein Problem. Bitte, fahren Sie fort.«
Die Vorsitzende nickte.
Hannes fiel in seinen Stuhl zurück, verstand die Welt nicht mehr. Seine Gedanken kreisten, ihm wurde schummrig vor Augen. Er atmete tief durch, sah zur Uhr an der Wand. In gut einer Stunde fuhr sein Zug. Der Zug nach München. Der Zug zu Sophie – der Brandgutachterin.