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SEPTEMBER 1941

Lea nähte die Sterne an ihre Blusen, an die zwei Strickjacken und an ihren Mantel, auf die rechte Brustseite, das war seit Kurzem Vorschrift, wer sich nicht daran hielt, wurde erschossen oder weggebracht, und Lea mochte sich nicht vorstellen, was das bedeutete. Sie stieß die Nadel durch den dicken Mantelstoff und zog in größeren Schwingen das Garn nach. »Muss kein Kunstwerk werden«, hatte Onkel Simon noch gesagt, bevor sie ihn abgeholt, ihn die Treppe hinabgestoßen hatten, sodass er gestürzt und sein dürrer Vogelkörper über die Stufen gepoltert war. Lea und Riwka hatten es beobachtet, durch einen Türspalt hatten sie mit angesehen, wie die Polizisten ihm einen Tritt in den Rücken versetzten, er hatte keine Chance, er konnte sich nirgends abstützen, er hatte nicht einmal einen Ton von sich gegeben, als er fiel.

Die Nadel bohrte sich in ihre Fingerkuppe, Blut quoll heraus und sickerte in den Stern. Ein Fleck bildete sich, aber die vier Buchstaben darauf blieben unversehrt, gut lesbar für jedermann.

Ihre Hand zitterte, es war kalt im Raum, ihr Körper war übersät mit Gänsehaut. Sie bekamen kein Holz, kein Öl mehr zugeteilt, nichts, womit sie heizen konnten. Das Sofa war klamm, genauso wie die Kleider, die Lea am Leib trug. Ein riesiger Schimmelfleck, groß wie eine Tellermine, fraß sich an der Decke über dem Fenster entlang, und durch die gesprungenen Scheiben regnete es herein.

Lea legte das Nähzeug und den Mantel beiseite. Sie stand auf, öffnete den kleinen Stubenschrank, auf dem früher der Rundfunkempfänger gestanden hatte, und räumte das letzte Geschirr, das sie noch hatten, auf den Boden. Sie zog das Schränkchen von der Wand ab und trat gegen die offenen Türflügel. Das Holz brach aus den Scharnieren. Sie zog die Einlegeböden heraus, stellte sie winklig gegen die Wand und trat zu. Eine nach der anderen brachen die Sperrholzplatten, und Lea teilte die entstandenen Hälften noch einmal.

»Um Himmels willen, was ist in dich gefahren?« Riwka stand mit offenem Mund in der Tür.

»Hol Papier und Zündhölzer«, sagte Lea, und Riwka tat es ohne Verzug. Gemeinsam stopften sie altes Papier und Kleinholz in den Ofen und zündeten es an. Lea legte das Schrankholz nach, ein Brett nach dem anderen, und die Flammen wurden größer. »Sollen sie uns brandmarken und erschießen, aber erfrieren werden wir nicht!« Sie schloss die Ofenklappe, und gemeinsam mit ihrer Tante setzte sie sich auf den Boden. Regen schlug gegen das Fenster, ein kleines Rinnsal schlängelte sich nach innen, Tropfen fielen auf den Teppichboden. Die Tage wurden kürzer, die Dämmerung kam jetzt schon zum frühen Abend, und Lea sah durch die Scheibe hinaus, sah, wie eine weiße Wolke den schwarzen Himmel scheitelte und davor tanzte wie ein winkender Geist. Auf dem Tisch lag die Haggada. Sie hatte ihm daraus vorgelesen, und er hatte ihr gebannt zugehört und gefragt und gelächelt, so gut es ihm mit seinen Schmerzen und der Benommenheit möglich war. Lea streichelte die Decke auf der Chaiselongue, sie hatte sie über ihn gelegt, als er geschlafen hatte. Und dann, nur einen Tag und einen Abend später, hatte sie die Nacht mit ihm im Hotel verbracht.

Riwka hielt Lea ein Taschentuch hin. Sie trocknete sich die Augen und sagte: »Ich habe uns alle in Gefahr gebracht. Wenn ich nicht wäre, hätte die SS Simon verschont. Wo er jetzt bloß ist? Wo haben sie ihn hingebracht?«

Riwka legte einen Arm um Leas Schultern. »Red keinen Unsinn, dein Onkel wusste, was er tat. Er wird es ihnen erklären. Wir müssen abwarten.« Sie küsste Leas Stirn, und gleich darauf hörte Lea Gewehrschüsse auf der Straße, scharfe Risse in der Stille, der Atem des Krieges. Ihre Glieder fuhren zusammen, sie kauerte sich an die Tante, an ihre Riwka, und für einen Moment war ihr, als sei sie zurück im Haus der Mutter, als sehe sie die Berge Zermatts und ein Weißkopfadler hinge in der Luft über schneebetupften Kämmen. Die Tante hielt sie fest im Arm. Die Flammen im Ofen züngelten am Holz und spendeten etwas Wärme.

»Carl macht auch immer Feuer für uns«, sagte Lea in den Raum. »Er schließt dann schnell die Klappe, damit der Schein nicht nach draußen fällt. Er ist sehr aufmerksam.«

»Es ist zu gefährlich, Lea. Für dich und auch für ihn.«

»Damals hat seine Familie eine Essig- und Weinhandlung in dem Haus betrieben, bevor sie mit dem Kräuterschnaps anfingen. Es steht seit Jahren leer, es ist ein gutes Versteck.« Lea blickte an sich herab, sie streichelte ihren Bauch, in dem ein neues Leben entstand, das keinen Glauben kannte.

Riwka nahm ihren Arm von Leas Schulter, stand auf und ging hinaus in den Korridor. Sie schob den kleinen Teppich beiseite, öffnete die Bodenluke und zog die Tüte heraus, die sie in die Stube zurückbrachte. Dann nahm sie zwei Teller vom Geschirr an der Seite und legte Pökelfleisch und Brotkanten darauf. »Du musst essen«, sagte sie und schob Lea einen Teller hin.

Lea starrte den rosa-grauen Fleischklumpen an, ein aus einem Schweineleib sezierter Würfel, dessen Muskelfasern freilagen wie strähniges Haar. »Ich kann davon nichts essen«, sagte sie.

»Lea, du hast seit Tagen nichts gegessen. Bitte, tu es für mich.« Riwka streichelte ihr die Wange.

Lea schob den Teller von sich. »Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen«, sagte sie. »Dann wäre Onkel Simon jetzt noch bei uns.«

»Aber du vielleicht nicht«, entgegnete Riwka.

Lea riss ein kleines Stück vom trockenen Brot ab und schob es sich in den Mund. Sie kaute, sie versuchte, die harte Kruste zu zermalmen, aber es dauerte, und der Teigkloß schien größer zu werden statt kleiner, und als er vom Speichel durchweicht war, schloss sich eine Klappe in Leas Kehle. Es half nichts: Sie spuckte aus, und ihre Tränen tropften auf den Teller. »Wie sind sie nur auf Onkel Simon gekommen?«, fragte sie. »Es hat ihn niemand gesehen, niemand hat ihn beobachtet. Wir waren immer so vorsichtig, Carl und er und ich.«

»Es kann ein Nachbar gewesen sein«, sagte Riwka tonlos. »Sie zwingen Juden, Juden zu verraten, die eigenen Leute, sonst holen sie ihre Kinder.« Riwka legte das Brot zurück auf den Teller.

Die Wohnungstür öffnete sich, und Anschel stand im Zimmer. Er war völlig außer Atem, Schweiß perlte ihm von der Stirn. »Simon«, sagte er und rang nach Luft. »Sie haben ihn abtransportiert. Mit anderen zusammen. Auf einem Lastwagen.«

Riwka richtete sich auf, ihr Gesicht war gefroren, die Unterlippe zitterte, und ihre Stimme war ganz leise, als sie fragte: »Wohin denn?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Anschel. »Ich weiß es nicht.«

Sie schrie: »Wohin denn?« und schlug mit den Fäusten gegen seine Brust, und Anschel wich vor den Schlägen nicht zurück. Sie hielt inne. Sie verließ den Raum, ihren Blick zu Boden gerichtet, und schloss sich im Schlafzimmer ein.

Lea starrte Anschel an, dann das Fleisch und das Brot und die Tüte auf dem Boden. Carl hatte alles darin verpackt, er hatte diesmal sogar ein paar Äpfel und Bohnenkaffee dazugelegt und ein kleines Stück Schokolade für sie. Als die Männer Simon holten, nannten sie ihn einen Schmarotzer und ein Schmugglerschwein. Sie suchten nicht einmal nach der Tüte, nicht nach ihrem Inhalt, es genügte ihnen, was sie gehört hatten.

»Onkel Simon hat darauf bestanden«, sagte Lea, Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich durfte die Lebensmittel nicht herbringen. Ich wäre zu jung dafür, hat er gesagt.«

Anschel schloss Lea in seine Arme. Er nickte sacht.