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DEZEMBER 1941

Er hatte den Opel Kapitän ein paar Straßen weiter abgestellt. Der Wagen hatte die vergangene Nacht ohne erkennbare Schäden überstanden; in den abgelegenen Seitenstraßen außerhalb des Braunschweiger Zentrums waren die Häuserzeilen offenbar weniger interessant gewesen für die britischen Bomber. Carl startete den Motor und fuhr los. Er fuhr am Bahnhof entlang, der einen Großteil seiner Fassade und seines Dachs eingebüßt hatte und nur noch wie ein Dinosauriergerippe dalag. Überall hinter den Mauerresten stieg Rauch empor, der vom Wind zerfetzt wurde.

Er fuhr weiter, vorbei an den zerschlagenen Fensterscheiben der Geschäfte, vorbei an den längst zum Straßenbild gehörenden Plakaten, mit denen vor Jahren die Dunkelheit begonnen hatte: Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!

Auf dem Vorplatz des Residenzschlosses hielten die schwarzen Uniformen eine ihrer unzähligen, dämonischen Aufmärsche ab. Carl hörte den Stechschritt durch die geschlossenen Scheiben, die Stiefel traten ihm in den Magen. Er musste sich beeilen. Sie würden Lea und das Kind finden. Auf der Landstraße nach Wolfenbüttel stoppte er abrupt, er stieg aus und übergab sich. Die Pappeln bogen sich im Wind, als wollten sie ihn fortwischen, und dabei knackte ihr Geäst wie die Knochen der Sauen beim Aufbrechen. Er hatte keine Wahl, Lea hatte recht: Er musste sich seinem Bruder offenbaren, Heinrich war jetzt der Einzige, der helfen konnte. Er setzte sich zurück in den Wagen und trat aufs Gas. Die wenigen Kilometer bis zum Hof dauerten ewig.

Er parkte vorm Haupthaus, sprang die acht Stufen zur Tür hinauf und betrat die Eingangshalle. Niemand empfing ihn, nur die unzähligen Hirschköpfe starrten stumm von den Wänden.

»Hallo?«

Niemand antwortete. Gut. Also in die Küche. Die Haushälterin schien unterwegs zu sein, ebenso wie seine Frau. Heinrich saß sicher schon in der Firma, Carl rief nochmals. Keine Reaktion. In der Küche griff er nach einem Stoffbeutel. Er betrat die Speisekammer, steckte einen Laib Brot in den Beutel und Tomaten und eine Flasche Milch. Er schnitt einen Kanten Schinken ab und dachte auch an ein Stück Käse, das er in seiner Tasche verschwinden ließ. Er schloss die Tür der Kammer, stand jetzt, schweißüberströmt, inmitten der Küche und sah sich schon im Auto sitzen, als er Schritte hörte. Sie kamen aus der Eingangshalle, kamen die Treppe herunter, schwere, dicke Schritte, und er wusste sofort, dass jeden Moment Maria im Raum stehen würde; die Haushälterin roch Diebe. Da öffnete er, einer bubenhaften Eingebung folgend, das Fenster und stieg zur Terrasse hinaus, lief über die Wiese um das Haus herum und hielt an einem Rosenbusch inne, an dem Raureif funkelte. Er duckte sich, auch wenn niemand auf dem Kieshof zu sehen war, und wartete ab. Aus den Ställen gegenüber schnaubten die Pferde, Heinrichs ganzer Stolz, obwohl er nicht einmal reiten konnte. Carl hielt den Atem an und lauschte, die Schneeflocken fielen lautlos zu Boden; manche von ihnen überlebten, die meisten schmolzen dahin, gingen unter in der Masse der kleinen Steine. Carl fror. Er durfte das Holz nicht vergessen, der Vorrat im Stadthaus war aufgebraucht. Schnell sprang er rüber zum Wagen und verstaute die Tasche mit den Lebensmitteln im Kofferraum. Aus dem Lagerraum neben der Scheune sammelte er ein paar Scheite und brachte sie ebenfalls zum Auto. Die nackten Eichen, die den Hof rahmten, beobachteten jeden seiner Schritte, sahen ihm auf die Finger. Schnell sprang er hinters Steuer, startete den Motor, der nach mehrmaligem Ruckeln nur widerwillig ansprang, und fuhr ab. Im Rückspiegel tauchte die Haushälterin auf, sie winkte, er konnte aber ihr Gesicht nicht erkennen, zu klein wurde sie durch die schnell größer werdende Entfernung. Vielleicht hatte sie etwas mitbekommen. Dann würde sie jetzt zu Heinrich laufen, würde ihm Bericht erstatten über ein besonderes Vorkommnis, wie Heinrich das nannte. Carl wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Und wenn schon. Sollte sie ihn doch verraten, er musste ohnehin mit Heinrich reden.

Zurück in Braunschweig bog er Richtung Zentrum ab. Auf Höhe der Reichsakademie für Jugendführung, in der seit Fronteinberufung der männlichen Schüler der Bund Deutscher Mädel untergebracht war, standen Uniformierte auf der Straße und zwangen ihn zum Halten. Carl kurbelte die Fensterscheibe herunter. Einer der Männer beugte sich herab, sein Gesicht war tadellos glatt rasiert und das schwarze, pomadige Haar aus der Stirn nach hinten gekämmt und über den Ohren akkurat gestutzt. Er roch nach Birkenwasser.

»Führerschein und Fahrzeugpapiere!« Ausdruckslos hielt er Carl die offene Hand entgegen. Seine andere Hand lag auf dem Pistolenschaft an seiner Hüfte.

Carl überreichte die geforderten Dokumente, der Mann las mit der Ruhe der Überlegenheit, seine Augen fuhren mechanisch wie der Wagen einer Schreibmaschine von einer Seite zur anderen. Er klappte die Papiere zusammen und gab sie zurück. »Aussteigen!«, befahl er, während der Zweite die hintere Tür öffnete, seinen Kopf ins Fahrzeuginnere schob und mit einem Schlagstock eine auf der Rückbank liegende Decke anhob.

»Ich verstehe nicht recht«, sagte Carl.

»Öffnen Sie den Kofferraum«, sagte der Erste.

Carl stieg aus. Die Luft war erfüllt von Brandgeruch. Sicher fror Lea, seit Stunden ohne Holz, und sie brauchte zu essen. Was wollten diese Kerle? Der eine nahm die Tüte mit den Vorräten aus dem offenen Kofferraum und hielt sie – einer erlegten Beute gleich – in die Luft. »Für wen ist das?«, fragte er.

Carl sah dem Mann in seine wasserblauen Augen, dann über seine Schulter. An der Fassade der Reichsakademie zuckte ein Banner im Wind, darauf stand: Auch die deutsche Frau hat ihr Schlachtfeld: Mit jedem Kinde, das sie der Nation zur Welt bringt, kämpft sie ihren Kampf für die Nation.

»Für das Kinderheim«, sagte Carl und sah seinem Gegenüber erneut in die Augen. »Meine Familie spendet Lebensmittel für unsere deutschen Kinder, die ohne Eltern aufwachsen müssen. Eine lange Tradition, die bereits mein Vater pflegte.«

Der Gesichtsausdruck des Mannes änderte sich, die harten Züge wurden weicher, er kniff die Augen nicht mehr zusammen und begann zu lächeln. »Löblich«, sagte er und legte seine entkommene Beute zurück in den Wagen. »Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, aber wir haben unsere Befehle.«

»Heil Hitler«, sagte Carl darauf und hob die Hand zum Gruß.

»Heil Hitler«, sagte auch der andere und erwiderte den Gruß.