Die Mama hatte ihr Zöpfe geflochten und ihr ein Blumenkleid angezogen. Millas Gesicht war eingecremt, und Mama hatte ihr erlaubt, etwas von dem roten Puder aufzutragen. Jetzt war sie eine richtige Dame, und wie eine richtige Dame stellte sie sich auf Zehenspitzen an den Esstisch, spitzte die Lippen und holte tief Luft, dann pustete sie drauflos, aber die Luft in ihren Lungen reichte nicht für alle sieben Kerzen auf dem Holzkranz, zwei behielten ihr tanzendes Licht, doch den Eltern genügte es für Beifall.
Sie hatten die gute Stube geheizt. Bunte Papiergirlanden baumelten zwischen der Deckenlampe mit ihren drei weißen Schirmchen, die wie gefaltete Servietten aussahen, und dem dicken, dunklen Holzschrank an der Wand. Die Mama hatte die Gardinen zur Seite geschoben, und durch die Fenster fiel das gedämpfte Licht der Wintersonne.
»Gut gemacht« sagte sie. »Jetzt noch die letzten beiden.«
Milla atmete noch einmal tief ein, und jetzt hatten auch die letzten zwei Flammen keine Chance. Milla hüpfte auf der Stelle, der Holzboden knarzte. »Kipferl, Kipferl«, rief sie, und ihre Stimme überschlug sich fast dabei. Die Wanduhr schlug zehn Mal, der ganze, lange Tag lag noch vor Milla.
Jetzt öffnete Vater die Metalldose, die auf dem Tisch stand, und legte Milla, sich und der Mama jeweils ein paar Vanillekipferl auf die Teller, und gemeinsam aßen sie und hörten der Musik aus dem Rundfunkempfänger zu. Der Kakao war süß und dick und irgendwie ganz weich, und Milla konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so lecker geschmeckt hatte.
Ihre Eltern sahen sich immer wieder an, sie kauten langsam und bedächtig, und dann stellte die Mama den Teller auf den Tisch, stand auf und schlug sich ihre knochige Hand vor den Mund, dann ging sie aus dem Raum. Milla sah den Vater fragend an, er malte Kreise in den Puderzucker, den die Kipferl auf dem Teller hinterlassen hatten, und sagte: »Heute ist ein besonderer Tag.« Dann schob auch er seinen Teller beiseite und richtete seine Brille, deren linker Bügel an einer Bruchstelle mit einem Pflaster umklebt war.
Milla verstand nicht, was los war, natürlich war es ein besonderer Tag, es war ihr Geburtstag, schon ihr siebter, und es war nicht mehr lang bis Weihnachten. Die Musik war schön, und die Girlanden waren bunt, und der Ofen in der Ecke wärmte die Wohnstube. Sie hatte eine Puppe geschenkt bekommen, mit Haaren zum Kämmen und mit richtigen Kleidern. Das warme Gebäck schmolz in ihrem Mund, und sie hätte die Kerzen am liebsten noch einmal ausgeblasen.
»Komm einmal zu mir.« Vater klopfte sich mit den Händen auf die Oberschenkel. Milla ging zu ihm und sprang auf seinen Schoß. Er umarmte sie und küsste ihre Wangen, sein Bart kratzte. Er drückte sie an sich, fast ein bisschen zu fest, und hielt sie eine Weile so. Sie legte ihre Arme um seinen Oberkörper und drückte ebenfalls zu, vielleicht sollte es ein Drückwettbewerb werden, und sie umschlang ihn, so fest sie konnte. Als er nachgab und sie ansah, bemerkte sie Tränen hinter seinen dicken Brillengläsern. Im Zimmer war es dunkler geworden, ein paar Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Sicher waren es Freudentränen, schließlich war es ihr Geburtstag. Er sagte noch einmal: »Heute ist ein besonderer Tag«, und in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Mama stand mit Tante Daphne im Raum. Sofort lief Milla auf sie zu und umarmte sie bei den Beinen.
Vater schenkte sich aus der Porzellankanne Bohnenkaffee nach, ihr fehlte der Henkel. Der Kaffee duftete so lecker, aber Milla hatte schon einmal welchen probiert und sofort ausgespuckt; er war eklig bitter gewesen, und seither war es ihr ein Rätsel, warum Erwachsene ihn tranken. Daphne trug einen engen, kurzen Rock. Ihre dünnen Beine steckten in Nylonstrümpfen und die Füße mit roten Nägeln in Glitzerschuhen mit hohem Absatz. Wie konnte man darauf nur laufen? Sie ging vor ihr in die Hocke. Sie roch nach frischer Seife und sagte: »Alles Gute zum Geburtstag, meine kleine Milla.«
Milla drückte Daphne gleich noch einmal, und dann sagte sie: »Ich bin aber schon groß.«
Daphne nahm ihre Pelzmütze vom Kopf, legte sie auf den Tisch und streichelte Millas Gesicht; sie sagte: »Da hast du recht. Allmählich wirst du groß.«
»Möchtest du Vanillekipferl?«, fragte Milla.
»Gern«, antwortete Daphne.
Milla rutschte vom Schoß des Vaters, angelte mit der Hand ein paar Gebäckstücke aus der Dose und legte sie auf einen Teller. Daphne schob sich ein ganzes Kipferl auf einmal in den roten Mund, und nachdem sie eine Weile gekaut und hinuntergeschluckt hatte, sagte sie: »Donnerwetter, das sind die besten Vanillekipferl, die ich jemals gegessen habe.«
»Die hat die Mama gebacken«, sagte Milla. Darauf sahen sich die Frauen an, und Mama weinte schon wieder. Warum weinte sie denn? Hatte Milla etwas falsch gemacht, etwas Falsches gesagt? Milla lief zu ihr und drückte sie. Mama zitterte am ganzen Körper.
Tante Daphne, die noch immer in der Hocke saß, stellte den Teller auf den Tisch und stand auf. Sie schaute sich in der Stube um, ließ ihren Blick an den paar Familienbildern an der Wand haften und schien sich sogar für das Streifenmuster der grau-gelben Tapete zu interessieren. Die Girlanden hingen von der Decke, als warteten sie auf irgendetwas, ein roter Papierstreifen tippte der Frau auf den Kopf. An Milla gewandt sagte sie: »Würdest du mich kurz mit deinen Eltern allein lassen?«
Milla sah an der Mama hoch, die ihr zunickte und sich mit der flachen Hand über die Wange wischte. »Geh einen Moment in dein Zimmer, wir sind gleich wieder bei dir.«
Eigentlich wollte Milla das nicht, sie wollte nicht allein in ihrem Zimmer sitzen, und plötzlich spürte sie, dass ihr Herz kräftiger schlug als noch vor ein paar Minuten. Ihre Kopfhaut juckte. Als sie sich kratzte, löste sich das Schleifchen, das die Mama ihr heute früh ins Haar gebunden hatte. Vater konnte laut werden, wenn Milla nicht gehorchte, also verließ sie die Wohnstube und zog die Tür hinter sich ran, ohne sie jedoch ganz zu schließen. Sie blieb im Flur stehen und lugte durch den Türspalt. Der Fliesenboden war kalt, und weil der Flur so klein war, konnte Milla sich an das hölzerne Treppengeländer lehnen und gleichzeitig durch den Spalt in die Stube linsen.
Vater ging auf Mama zu und nahm sie in den Arm. Sie schluchzte jetzt laut und presste ihren Kopf an seine Schulter. Er sagte zu ihr: »Seit Heinrich die Sache mit Milla spitzgekriegt hat, ist sie nicht mehr erwünscht, das weißt du. Der Alte hasst sie, er will, dass sie verschwindet. Sie hat keine Chance.«
»Wir könnten doch fortgehen.«
Milla wollte nicht fortgehen, wer sollte sich dann um die vielen Pferde kümmern, wenn Vater nicht mehr da wäre? Sie wollte ihr Zimmer nicht verlassen, und auch den ganzen Hof nicht. Nur vor Onkel Heinrich, vor dem hatte sie Angst. Vor seinem grimmigen, dicken Gesicht und seiner dunklen Stimme, die in den Ohren wehtat. Er hatte Hände groß wie Suppenschüsseln, der Onkel Heinrich, und wenn er Milla mit diesen Händen an den Armen packte, weil er meinte, dass sie etwas ausgefressen hatte, blieben blaue Flecke zurück.
»Fortgehen«, wiederholte der Vater. »Wohin sollen wir schon fortgehen, ein Stallknecht und eine Näherin?«
Daphne zog irgendetwas aus ihrer Handtasche, sie fragte die Mama: »Magst du das Foto von Millas Mutter bei dir behalten?«
Worüber sprachen die Erwachsenen da? Mama stand doch da? Sie hatte doch heute früh die Kipferl für Milla gebacken und ihr die Puppe geschenkt?
Mama nahm das Foto entgegen und betrachtete es. Ihre Tränen fielen zu Boden. Warum war sie nur so traurig? Es war doch Millas Geburtstag, es schien sogar ein bisschen die Sonne. Sie gab Daphne das Foto zurück und schüttelte den Kopf.
»Sie schaut so liebenswürdig aus«, sagte Mama. Dann hielt sie sich wieder die Hand vor den Mund.
Manchmal hatte Onkel Heinrich Milla auch schon geschlagen. Aber heute würde er das bestimmt nicht tun, nicht an ihrem Geburtstag. Sie sah Mamas Tränen, und ihr Hals wurde mit einem Mal ganz eng. Mit den Nägeln kratzte sie die von der Wand blätternde graue Farbe ab. Milla musste zu ihrer Mama, sie wollte ihre Hand halten, ihr einen Kuss geben, und die Mama sollte sie in den Arm nehmen, aber da schlug die Haustür auf, ein kalter Wind schoss in den Flur, und der Onkel kam herein. An seinen Stiefeln klebte Dreck, er trug einen grünen Filzhut auf dem Kopf, und über seiner Schulter hing ein Gewehr. Er blieb vor Milla stehen, sie wich zur Seite, er öffnete die Tür und trat in die Wohnstube.
»Ist alles geklärt?«, fragte er ruhig.
Milla lief in den Raum, Onkel Heinrich drehte sich zu ihr, er sagte: »Geh in dein Zimmer!«, und seine Stimme war warm dabei, ganz anders als sonst, aber statt seiner Anweisung zu folgen, lief Milla zurück hinter die Deckung der Tür.
»Ich hatte Sie gebeten, meinen Grund und Boden nicht mehr zu betreten.« Der Onkel sah Daphne an.
»Es ging nicht anders«, sagte sie. »Wenn Sie wollen, dass ich Milla mitnehme, müssen Sie damit leben, dass ich Ihren Hof beschmutze.«
Mitnehmen? Den Hof verlassen? Was redeten die? Nein! Niemals! Auch wenn der Onkel noch so böse war! Was war denn mit Mama, mit Vater?
»In einer Stunde sind Sie verschwunden!«, sagte Onkel Heinrich. »Mit dem Kind!« Er verließ den Raum, und als er durch den Flur ging, sah er Milla nicht mehr an. Die Tür schepperte ins Schloss.
Milla lief zum Vater und hielt sich an ihm fest. Er hob Milla hoch und setzte sich mit ihr in den Sessel. Er hatte sich heute extra ein weißes Hemd angezogen, extra für Milla, und er fragte: »Weißt du, wo die Schweiz liegt?«, und als Milla den Kopf schüttelte, erklärte er es ihr. »Dort leben dein Großvater und deine Großmutter, sie sind sehr lieb. Du wirst sie kennenlernen, und die Mama und ich kommen dich oft besuchen.«
»Woher weißt du, dass sie lieb sind?«, fragte Milla.
»Daphne hat es mir erzählt«, sagte der Vater.
»Kennst du den Großvater und die Großmutter?«, fragte Milla an Daphne gerichtet.
»O, ja, ich kenne sie«, antwortete die Frau. »Und sie haben mir ein Geschenk für dich mitgegeben, schau.« Sie gab Milla ein kleines Büchlein. Es sah witzig aus, ganz bunt bestickt mit Männern und Frauen in komischen Kleidern.
»Was ist das?«, fragte Milla. Und die Frau antwortete: »Das ist eine Haggada. Sie wird dich von nun an begleiten. Sie wird dich beschützen.«
Milla schlug das Büchlein auf, da waren kämpfende Männer und ganz viele Tiere, Esel und Schafe und Rinder, und sie alle gingen durch einen See, der in der Mitte geteilt war. »Das geht doch gar nicht«, sagte Milla lachend und zeigte auf das gescheitelte Wasser.
Daphne legte einen Arm um Millas Schultern und sagte: »O, doch. Eines Tages wirst du es sehen.«
Das verstand Milla nicht, und sie sah sich weiter die Bilder mit den Tieren an.
»Haben der Großvater und die Großmutter auch Tiere?«
»Sie haben Ziegen und Kaninchen und Hühner. Du kannst sie füttern und streicheln, und aus der Milch der Ziegen kannst du mit den Großeltern Käse machen.«
»Ich mag keinen Käse«, sagte Milla.
Mama zog Daphne ein Stück zur Seite, und sie kehrten ihr und dem Vater den Rücken zu, aber Milla verstand jedes Wort, auch wenn die Frauen leise sprachen.
»Lea hat mir die Haggada gegeben. Sie wollte, dass Milla sie eines Tages bekommt«, sagte die Frau.
Darauf nickte Mama und ließ sich von der Frau in den Arm nehmen.
Mama gab ihr noch einen dicken Briefumschlag, der sah ein bisschen gelblich aus und hatte einen ganz hübschen Blumenrand. Mama flüsterte, aber Milla hatte gute Ohren. »Ich habe, seit sie bei uns ist, Notizen gemacht. Die ganze Geschichte von den Herrschaften drüben. Über den Alten und über Carl, steht alles hier drin. Nimm es, bitte.«
Daphne nahm den dicken Umschlag und umarmte Mama noch mal. Die Mama weinte wieder. Sie sollte nicht weinen, es war doch so ein schöner Tag.
Die Girlanden hingen von der Deckenlampe. Milla schaute aus dem Fenster, es hatte zu regnen begonnen, die Tropfen kullerten an den Scheiben herab, und Milla fragte sich, wie wohl Käse aus der Milch von Ziegen gemacht wird. Aber eigentlich wollte sie es gar nicht wissen.