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19. JULI 2018

Dicke, feuchtwarme Luft hing in dem vergitterten Besprechungsraum der JVA Burg. Hannes saß am kleinen Tisch in der Mitte, der am Boden mit breiten Schrauben fixiert war, und goss sich ein Glas Wasser ein. Die Tür öffnete sich, und Winkler wurde in Handschellen hereingeführt. Die Beamten verließen den Raum, Winkler setzte sich, aus zusammengekniffenen Augen starrte er Hannes an.

»Ich bin gespannt«, sagte Winkler.

»Ich auch«, sagte Hannes.

»Verkaufen Sie mich nicht für dämlich, Jansen. Sie haben irgendwas am Laufen, und so ein kleines Teufelchen auf meiner Schulter flüstert mir, dass das nicht gut ist für mich.«

»Böses Teufelchen«, sagte Hannes. Er zündete sich ein Zigarillo an und warf die Schachtel Winkler zu. Der fischte sich ebenfalls ein Zigarillo heraus, trotz der Handschellen gelang es ihm problemlos. Hannes gab ihm Feuer. Er rauchte mit einem Mörder.

»Was war so wichtig, dass Sie unterbrechen lassen mussten? Was hatte Ihre Referendarin für Sie?«

Hannes aschte ab. Er sah der Glut an der Zigarillospitze zu, wie sie sich langsam in den Tabak fraß. Er nahm einen Schluck Wasser. »Ich will, dass Sie ein Geständnis ablegen.«

Winkler fiel zurück in die Stuhllehne. »Tse«, stieß er aus. »Sie wollen was?«

»Sie haben mich verstanden.«

Winkler sah Hannes mit offenem Mund an, er schüttelte den Kopf und rang sich ein Lächeln ab. »Das soll wohl ein schlechter Witz sein. Mensch, Jansen, Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich es nicht war; dass ich in der Kneipe war und nicht auf dem Revier. Wer was anderes behauptet, lügt, verdammt noch mal.« Winkler beugte sich wieder vor und stützte sich mit den Unterarmen auf dem Tisch ab. »Was hat Ihre verdammte Referendarin Ihnen für einen Floh ins Ohr gesetzt?«

Hannes öffnete seine Aktentasche. Er nahm das Tagebuch heraus und schob es zu Winkler hinüber, der Leineneinband zischte über die hölzerne, eingekerbte Tischoberfläche. Bob der Baumeister grinste vom Buchdeckel.

»Was ist das?«, fragte Winkler.

»Das Tagebuch von Lars Kanzow. Schlagen Sie es auf und lesen Sie. Und sehen Sie sich die Zeichnungen an.«

Winkler drückte seine Kippe im Aschenbecher aus und begann zu blättern. Er kaute auf seiner Unterlippe und fuhr sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang. Er blätterte. Immer wieder schüttelte er den Kopf oder stieß ein »Pah« aus. Dann klappte er das Buch zu und schob es über den Tisch zu Hannes.

»Das ist also der Beweis für Sie, dass ich es war? Kommen Sie, Jansen, Sie machen Witze. Gekritzel eines Kindes, Hirngespinste, weiter nichts. Eine blühende Fantasie, vielleicht, weil er Papas Erzählungen aufgeschnappt hat, wer weiß das schon. Aber ein Beweis in einem Mordprozess? Ich denke, Sie sind hier der Profi, Jansen.«

»Ich war gestern bei ihm, er hat Sie identifiziert, ich habe ihm ein Foto von Ihnen gezeigt, er hat Sie sofort erkannt.«

»So, ein Foto von mir. Täusche ich mich, oder sind Sie mein Verteidiger? Sieht gerade nicht danach aus.«

»Ich verschaffe mir ein umfassendes Bild, mehr nicht.«

»Ach so ist das. Ein umfassendes Bild also. Aha. Indem Sie belastendes Material zusammensammeln und diesem Spinner mein Bild unter die Nase halten. Ist das professionell? Was soll der Schwachsinn?«

»Wieso Spinner?«, fragte Hannes.

Winkler hatte Hannes durchschaut, er hatte sofort spitzbekommen, dass Hannes in fremden Gewässern fischte. Winkler war zu intelligent, um sich von seinem Anwalt etwas vormachen zu lassen.

»Der Typ is’n Schwachkopf, schon immer gewesen. Ist stumm wie ein Fisch und spielt an Leichen rum. Wie nennen Sie das denn?«

»Traumatisiert. Und schuld daran sind allein Sie.«

Winkler betrachtete seine Fingernägel, die im Gegensatz zum Daumennagel tadellos waren. »Er hat mich also identifiziert.«

»Ja, das hat er. Er hat Sie in jener Nacht gesehen, als Sie Okeke mit Benzin übergossen und ihn angezündet haben. Er saß in einem Raum gegenüber der Zelle, nur ein paar Meter entfernt, und die Tür zur Zelle stand offen. Lars hat hinter der Tür gehockt, und als er Schläge und Schreie hörte, hat er durch den Türspalt gelinst. Er hat Sie gesehen, niemand anderen sonst.«

Winkler begann zu lachen. Erst leise, dann lauter, er bekam einen roten Kopf, Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht, Adern traten auf seiner Stirn hervor.

»Was ist so komisch?«, fragte Hannes.

»Aus dem Raum gegenüber also.«

»Ja, durch einen Türspalt.«

Winkler beruhigte sich wieder. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über Stirn und Nacken. Er atmete durch. »Kennen Sie das Revier, Jansen?«

»Nur von Fotos.«

»Von Fotos? Sie verteidigen mich wegen Mordes und sehen sich nicht einmal die Örtlichkeiten aus nächster Nähe an?«

»Die Aktenlage ist sehr umfassend. Fotos, Grundrisse, Maßstäbe. Ich musste mir das nicht vor Ort ansehen.« Schon wieder hatte Winkler recht. Hannes hätte hinfahren und sich selbst ein Bild verschaffen sollen. Doch sogar Boogs hatte das für überflüssig gehalten, nicht zuletzt wegen der rund dreizehn Jahre, die seit der Tat vergangen waren und in denen in den Räumen nichts mehr beim Alten geblieben war.

»Ihre Aktenlage, Jansen, ist gequirlte Scheiße. Wenn Sie sich auch nur einmal die Mühe gemacht hätten, sich das Revier genauer anzusehen, hätten Sie festgestellt, dass es gegenüber der Zelle gar keinen Raum gibt. Der nächste Raum liegt wenigstens zwei Meter nach rechts versetzt. Und von dort ist es schlicht unmöglich, durch einen Türspalt in die Zelle zu sehen.«

»Warum sollte das nicht möglich sein? Ich öffne die Tür einen Spalt und sehe etwas mehr nach links.«

»Sie Architekt. Dann überlegen Sie mal, zu welcher Seite die Tür angeschlagen ist. Na? Richtig: zur linken. Die Tür öffnet also im Verhältnis zur gegenüberliegenden Zelle zur falschen Seite. Unmöglich, von dort zu sehen, was in der Zelle geschieht.« Winkler legte die Hände an seinen Hinterkopf.

Vielleicht hatte Lars Kanzow von einer anderen Stelle aus die Situation verfolgt. Es ergab keinen Sinn, dass er sich seine Worte und Zeichnungen nur ausgedacht hatte. Warum hätte er das tun sollen?

Hannes goss Wasser ins Glas nach, einige Tropfen landeten auf dem Tisch. Er trank das Glas in einem Zug leer. Im Raum ging kein Lüftchen, er spürte sein Hemd am Rücken kleben.

»Und worüber wollen wir sonst noch so plaudern? Über meine Lieblingstiere?« Winkler zog die Augenbrauen hoch.

Hannes stand auf und ging zum Fenster, er sah durch die Gitterstäbe nach draußen in den Innenhof der Haftanstalt. Ein Basketballplatz, der in der Mittagssonne döste, ein paar Bänke, die ohne Sitzende einsam aussahen, eine Deutschlandfahne, die im spärlichen Wind wehte. Wenn Hannes es nicht besser gewusst hätte, hätte er glauben können, in einer Jugendherberge der Achtzigerjahre zu stehen. Er drehte sich wieder zu Winkler um. »Wir könnten über Ihre Tochter sprechen. Wir könnten darüber sprechen, dass Sie sie ein Leben lang belügen werden. Dass Sie dem Kind etwas vormachen, nur um Ihre Weste reinzuhalten. Und Ihre Tochter, die kleine Lara, wird ihrem Papa glauben. Sie wird ihm vertrauen, und sie wird zum lieben Gott beten, dass alles nicht wahr ist, was manche Leute über ihn erzählen. Und dann? Was geschieht dann eines Tages?«

»Sie haben eine blühende Fantasie, Jansen.«

»Dann wird sie es herausbekommen. Vielleicht erst in vielen Jahren, aber sie wird es erfahren. Sie wird erfahren, dass ihr Vater ein Mörder ist und dass er sie ihr ganzes Leben lang belogen hat.«

Winkler sprang vom Stuhl auf und trat dicht vor Hannes. »Wollen Sie mir drohen, Jansen? Wollen Sie mich erpressen, oder was?«

»Ich will, dass Sie nach dreizehn Jahren endlich die Wahrheit sagen. Ich denke, das sind Sie Ihrer Tochter schuldig.«

Hannes roch Winklers warmen Schweiß, der sich mit seinem ledernen Aftershave mischte. Winklers Kiefermuskeln zuckten, Hannes hörte, wie Winkler schnaubend durch die Nase atmete.

»Sie haben doch überhaupt keine Ahnung, was Sie da reden, Jansen. Machen Sie Ihren Job, und lassen Sie mich ansonsten in Ruhe. Ich war zur Tatzeit in dieser beschissenen Kneipe. Geht das in Ihre Rübe? Meine Tochter braucht vor allem eins: einen Vater. Einen Vater, der sich um sie kümmert und für den es nichts Wichtigeres auf der Welt gibt als seine Tochter. Versauen Sie das nicht, Jansen. Meinetwegen toben Sie sich aus an mir, aber lassen Sie Lara da raus. Sie ist gerade mal zehn, sie braucht mich.«

»Lars Kanzow wird Sie identifizieren, Ihr Alibi ist einen Scheiß wert.«

»Lars Kanzow ist hochgradig verblödet und zudem stumm. Den Richter will ich sehen, der seine Aussage höher bewertet als die eines tadellosen Polizeibeamten.«

Hannes ging zu seiner Tasche und packte das Buch wieder ein. An der Wand das Wort, das er bei seinem ersten Besuch vor einigen Monaten nicht gleich erkannt hatte: HASS.

Er verschloss die Riemen seiner Tasche, schnappte seine Zigarillos vom Tisch und klopfte an die Tür.

Die Beamten öffneten. Hannes stand im Türspalt, er drehte sich noch einmal zu Winkler um: »Sie sind nicht tadellos.«

Winkler trat einen Schritt auf Hannes zu. »Genauso wenig wie Sie, Jansen. Genauso wenig wie Sie.«