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Zwei Wochen zuvor …
D as Wimmern in der Dunkelheit zeigte mir, wie schief es lief. Wir hätten geordneter und behutsamer mit dem Flugzeug ins Landesinnere gebracht werden müssen. Ich hatte gewusst, dass es niemals einfach werden würde, wenn es um Colt und seine Machenschaften ging. Er war berüchtigt für seine Pläne, bei denen ihm nie etwas nachgewiesen werden konnte, und meiner verflüchtigte sich mit dem Fortschreiten der Zeit in abgrundtiefe Vernichtung.
Nun wurden wir eingepfercht wie wilde Tiere auf engstem Raum, und es waren nicht die brennende Hitze oder die stickige Luft, die mir die Atemwege abschnürten. Es war die Angst vor erneuten Schlägen, wie ich sie bereits in mein Gesicht und meinen Bauch hatte ertragen müssen. Hatte ich wirklich gedacht, dass kriminelle Männer mit Maschinengewehren zivilisiert mit uns umgehen würden? Warum war ich davon ausgegangen, dass wir als Ware gut behandelt werden würden? Doch das allein engte nicht meinen Brustkorb ein. Es war die Gefahr, der ich ausgesetzt wurde. Niemand würde mich oder uns befreien. Keiner war da, um uns vor dem Unvermeidlichen zu retten, und dieser doofe Deal brachte mich noch lange nicht dem Tod näher.
Während das Weinen der Frauen meine Nerven zerriss, dachte ich nach. Überlegte, wie ich den Plan noch umsetzen könnte, um nicht nur aus dieser Situation zu entfliehen, sondern auch um an Freiheit zu gelangen.
War diese Lage so viel besser als das, was mich sonst erwartet hätte? Diese Erkenntnis legte sich bitter auf meine Zunge.
Lange waren wir unterwegs. Lange weinten die Frauen, und diejenigen, die schliefen, wurden wach und das Geheule wechselte sich ab. Waren es Tage gewesen, die wir bereits hier festsaßen? Der Geruch und die dünne Luft ließen darauf schließen. Aber vielleicht raubten mein dröhnender Kopf und die Tatsache, dass mir die anderen Frauen an der schweißbedeckten Haut klebten, das Zeitgefühl. Das Einzige, was ich wahrnahm, war, dass aus den Schlitzen unseres kleinen Stahlraums das Licht verschwand. Zum zweiten Mal, wenn ich es richtig mitbekam.
Langsam übermannte mich die Müdigkeit. Meine Augen schlossen sich immer wieder von allein, um neue Energie zu tanken. Es ging jedoch nicht. Zu sehr schlich die Angst durch meine zittrigen Glieder, dass etwas geschehen würde. Aber was sollte noch geschehen? Keine Möglichkeit war vorhanden, mich bei jemandem melden zu können, der mir half. Keine Chance, aus diesem Höllengefängnis zu entkommen, in das ich mich selbst gebracht hatte. Obwohl ich aus guten Gründen hier war, lief alles derart aus dem Ruder, dass ich mir nicht vorstellen wollte, was noch auf mich zukommen würde.
Die Motorgeräusche, das Schluchzen der überängstlichen Frauen und meine eigene Furcht waren kaum zu ertragen. Also schloss ich schließlich die Augen, schaltete die Geräusche um mich herum ab und dachte an etwas Schönes.
Etwas, was mir Mut gab und Hoffnung, dass ich das hier überstehen würde.
Ich erinnerte mich an den Sommer zurück. Wer behauptete, dass Fernbeziehungen nicht funktionierten, der hatte keine Ahnung, wie schön es war. Nicht die Entfernung. Sondern das Aufeinandertreffen, wenn man sich lange nicht mehr gesehen hatte.
Ich rief mir den Mann ins Gedächtnis, den ich so sehr liebte, dass es schmerzte. Wie wir uns endlich wiedertrafen und er mich anlächelte. Wir sahen uns nur am Wochenende und das war die wohltuendste Zeit der ganzen Woche. Er breitete an jenem schönen Sommertag die Decke aus und ich stellte den Picknickkorb darauf. Wie so oft betrachtete ich ihn in seiner vollkommenen Fehlerlosigkeit, genoss jeden einzelnen Zentimeter seiner attraktiven Präsenz und wie so oft konnte ich nicht glauben, dass dieser Mann zu mir gehörte. Sein jugendliches Erscheinungsbild mit seiner freundlichen Ausstrahlung und seinem gut gebauten, großen Körper. Sein Charakter war noch schöner. Er trug mich auf Händen und behandelte mich, als wäre ich der größte Schatz in seinem Leben. Immer wieder spürte ich die Blicke der anderen, weil er sich mit mir abgab. Anfangs war genau das der Grund gewesen, warum ich ihm nicht vertrauen konnte, weswegen ich ihn nicht nah genug an mich herangelassen hatte. Aber er zeigte mir jeden Tag seine Liebe zu mir. Mit vielen Kleinigkeiten bewies er mir, wie oft er an mich dachte.
Ich roch die Blumen um uns herum und seinen Duft. Die Sonnenstrahlen erwärmten meine sensible Haut und seine Nähe mein Herz. Sorglos und ohne Zweifel an unserer Verbindung legte er sich entspannt hin und streckte die Beine aus. Zu ihm kniend war es mir unbegreiflich, was für ein Glück ich doch hatte, dass mich jemand so Großartiges wie er liebte. Und das so, wie ich war. Mit einem Ruck zog er mich an sich. Eher unbeholfen, trotz der langen Zeit mit ihm, legte ich den Kopf auf seiner harten Brust ab. Gemeinsam sahen wir zum Himmel hinauf, zu den Wolken, die wie Zuckerwatte an uns vorbeiflogen. Die eifersüchtigen Blicke der Frauen, die vor sich hinsabberten, weil sich sein Shirt aufgrund seiner Muskeln anspannte, ignorierte ich und genoss es, ihm so nahe zu sein.
»Ich weiß, wo es nach der Ausbildung hingeht.«
»Und wohin?«, fragte ich und schon begann sich Schweiß an meinen Handflächen zu bilden. Falls er sich noch weiter von mir entfernte und dabei auch noch am Wochenende arbeiten müsste, würden wir uns noch weniger sehen. Oder vielleicht gar nicht mehr. Denn ich konnte hier nicht weg. Hier war ich in Sicherheit.
»Nach Detroit.«
Da sprang ich auf, weil die Entfernung ja noch so viel weiter war, als ich es je hatte ahnen können. Das wäre unser Ende.
Er öffnete nur ein Auge und eine Hand streckte sich nach mir aus. Er berührte mich und …
Ein ohrenbetäubender Knall ließ mich zusammenschrecken.
Hitze. Schreie. Wie schwerelos flog ich davon. Feuchte Körper quetschten mich ein. Mit aufgerissenen Augen sah ich nichts außer Fleisch und Stahl.
Rot. Mein Blick wurde in tiefes Rot gefärbt. Und diese Aufschreie. Alles ging so schnell und doch flog ich in Zeitlupe durch den Container. Spürte weder Boden noch Halt, und dennoch wurde ich zwischen Fleisch zusammengepresst, sodass jeder Hilfeschrei in mir erstickte.
Etwas traf meinen Kopf. Oder ich knallte irgendwo gegen. Obwohl die Umgebung laut und wild ein schreckliches Szenario verkündete, wurde mir schwarz vor Augen. Alles verschwand und meine Glieder waren nicht mehr kontrollierbar.
Da sah ich ihn.
»Edwin«, hauchte ich, als er vor mir kniete und verzweifelt in seiner Tasche fummelte.
»Warte. Ganz kurz. Ich hab’s gleich.« Nie zuvor war er so zerstreut und nervös gewesen. Obwohl ich ahnte, was er vorhatte, konnte ich es nicht glauben. Bis er mir eine geöffnete Schachtel mit einem Diamantring hinhielt.
»Ich liebe dich. Du machst mich glücklich. Willst du das für den Rest deines Lebens tun? Willst du mich heiraten, Praskowja?« Bei seinen Worten rollten die Tränen von allein über meine Wangen. Wir waren erst ein Jahr zusammen und hatten noch lange nicht so viel miteinander erlebt, wie wir sollten. Heiraten? Ich war glücklich. Er machte mich unbekümmert, weil ich mich nie zuvor so geliebt gefühlt hatte. Aber jetzt schon zu heiraten, wäre doch verrückt, oder?
Ich hockte mich vor ihn. Ignorierte diesen wunderschönen, glänzenden Ring und nahm sein bezauberndes, strahlendes Gesicht in meine Hände. Ganz behutsam, als könnte er zwischen meinen Fingern zerbrechen.
»Edwin, ich liebe dich auch. Du machst mich so glücklich. Aber wir sind noch so jung und du wirst bald nach Detroit gehen.«
»Komm mit mir, Praskowja. Wir lieben uns.« Für eine Sekunde zweifelte ich. Für eine kleine Sekunde schlich sich der Gedanke ein, dass er das nur wegen meines Versprechens und meiner Einstellung tat. Aber dann hauchte er so liebevoll, als würde ein Engel mit den Glöckchen spielen: »Ich liebe dich, Praskowja.«
Nur konnte ich ihn nicht begleiten. Zwar war ich hier sicher, nur müsste ich mir diese Sicherheit verdienen. Nein, ich musste mich verpflichten und konnte Edwin nicht nach Detroit folgen. Schlimmer noch, denn so sehr ich ihn auch liebte, war ich eine Diebin und er ein Polizist.
Mein Geliebter wusste nicht einmal, dass ich Schutz brauchte, den er mir niemals geben könnte, und auch nichts davon, welchen Preis ich für meine Selbstbestimmtheit zahlte.
Deswegen konnte ich ihn unmöglich heiraten und selbst eine gemeinsame Zukunft würde uns verwehrt bleiben. Dieser Gedanke schmerze so sehr, dass weitere Tränen mich verließen, als seine warmen Lippen die meinen trafen. Voller Zuneigung, Liebe und Wertschätzung zog er mich an sich und küsste mich innig.
Es war wie ein Feuerwerk, laut knallte es um uns herum. Es drang immer dröhnender zu meinen Ohren.
Bis mir klar wurde, dass es kein Feuerwerk war, sondern Schüsse.
Überall Schüsse. Schmerz brannte mir Tränen in die Augen und ich versuchte, sie zu öffnen. Da roch ich Tod und Verderben. Spürte einen Druck auf meiner Brust und eine Schwere, die mich die Zähne zusammenbeißen ließ. Ungewollt begann ich zu schluchzen und zu wimmern, drückte in der Dunkelheit die Last von mir. Dabei spürte ich das weiche Fleisch einer Frau. Ich öffnete erschrocken die Augen. Ich war in diesem Container und hörte Weinen und weitere Schüsse. Konnte aber nichts sehen, weil etwas auf meinem Kopf lag. Eine andere Frau. Mein Puls donnerte in meinen schmerzenden Ohren und ich spürte meinen ganzen Körper beben.
Dann Stille.
Eine schlimme, grausame Stille.
Panik brach in mir aus. Hektisch schlug und trat ich alles von mir, schrie vor Schmerzen, und Kälte breitete sich in mir aus. Ich wusste nicht, was genau passiert war. Als ich mich befreit hatte, sah ich mich um und ich erblickte nur Blut. Frauen und so viel Blut.
Ich richtete mich auf, taste nach ihnen. Sie waren tot.
Der Schock über so viele Leichen brach über mich ein und ich weinte lauter, während ich hektisch nach ihnen griff. Nacheinander rüttelte ich an ihnen, versuchte, sie zum Bewegen zu animieren. Aber sie waren tot. Die vielen Schusswunden zeigten, dass sie bald ihren Verletzungen erliegen würden, selbst wenn sie noch lebten.
»Pssst. Komm her«, hörte ich und mein Blick wanderte zur geöffneten Tür, wo eine Frau stand. »Komm her«, rief sie mir im Flüsterton ein weiteres Mal zu und zeigte es auch mit den Händen. Hinter ihr erstreckte sich die Dunkelheit der Nacht. Ich hatte keine Ahnung, was gerade geschehen war, aber etwas in ihren Augen verriet mir, dass mir Schlimmeres widerfahren würde, wenn ich mich nicht zu ihr hinbewegte.
Mir war klar, dass ich zwischen all dem Blut und Tod nicht bleiben konnte.
Vorsichtig, ohne auf eine Frau zu treten, stolperte ich zu ihr. Kaum hatte ich sie erreicht, nahm sie meine Arme und zog mich an sich.
»Psst. Nicht weinen«, flüsterte sie mir ins Ohr, und erst da bemerkte ich, dass ich es überhaupt tat. »Ich bring dich hier weg, ok?« Ihre Hände strichen über mein verklebtes Haar, aber das schien sie nicht zu stören. Sie roch nach einem Frühlingsnachmittag und ihre Berührungen fühlten sich so warm und geborgen an, dass ich in ihren beschützenden Armen nur noch leicht schluchzte. Immer wieder flüsterte sie mir zu, dass alles wieder gut werden würde.
Obwohl es alles andere als gut war, ich verkauft werden sollte, mehrfach geschlagen worden und in diesem LKW über unzählige tote Frauen gestiegen war, glaubte ich ihr jedes Wort.
Alles würde gut werden.
Sie löste sich von mir und musterte meine armselige Gestalt, indem sie mich etwas nach hinten von sich wegdrückte. Dann nahm sie meine Hand und zog mich hinter sich her. Sie brachte mich zu einem schwarzen Auto. Einem Camaro. Und bedeutete mir, einzusteigen. Allerdings riskierte ich einen Blick zurück und erneut fuhr ein Schauer durch mich hindurch, sodass ich die Hände vor den Mund schlug, um jeden Schrei darin zu ersticken.
Das Führerhaus sah aus, als wäre es explodiert. Der Container vom LKW war abgerissen, wurde einige Meter entfernt eingedellt von Rauch und Verderben verschlungen.
Zitternd stand ich da, sah die vielen Leichen wieder vor meinen Augen und mir gefror das Blut. Mir wurde kalt, so unendlich kalt. So viele Frauen. So viel Blut. So viel Tod.
Da spürte ich warme Hände an den Oberarmen, die mich ins Auto auf den Beifahrersitz drückten.
»Wir müssen hier schnell weg«, sprach sie zu mir und ich ließ mich von ihr leiten. Geschockt konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen.
Hatte ich gerade Glück oder Pech?
Ich wusste es nicht.
Sie fuhr los und ich vertraute ihr, dass sie keine bösen Absichten verfolgte. Warum auch? Sie war eine Retterin.
»Wie heißt du?«, fragte sie mich und ich sah zu ihr rüber. Erst da nahm ich sie wirklich wahr. Sie hatte dunkles Haar mit lila Strähnen und hohe Wangenknochen. Sie sah noch sehr jung aus und war wunderschön. Ihre dunkle, abgewetzte Kleidung, die mit Absicht so aussah, machte sie wilder. Dabei umgab sie etwas Harmonisches, Liebevolles und Wahres. In ihrer Nähe fühlte ich mich trotz der Ereignisse sicher. Sie war außergewöhnlich. Keine Person aus meinem Leben war vergleichbar mit ihr. Da sie zu mir rübersah und durch eine Laterne Licht ins Fahrzeug drang, erkannte ich ihre grünen Augen. Wie Katzenaugen reflektierten sie kurz und mir stockte der Atem.
»Ich verstehe, du stehst noch unter Schock. Aber halt bitte deine Arme hoch. Meine Schwester dreht durch, wenn du in ihrem Baby Blut hinterlässt.« Da ich nicht verstand, was sie da sagte, ließ ich mir ihre Worte noch mal durch den Kopf gehen. An mir herabsehend erkannte ich das Blut an mir. Es klebte überall. So viel Blut. War es meins?
Ich hatte Schnitte davongetragen, ja, aber das war nicht alles meins. Ich hielt die Arme hoch und betrachtete erschüttert und mit weit aufgerissenen Augen meinen blutbedeckten Oberkörper und Beine. Alles blutbeschmiert und einfach viel zu viel für eine Person.
»Hey, keine Panik kriegen«, hörte ich sie. Allerdings rauschte mir bereits die Furcht wild durch die Adern. Mein Herzschlag wurde immer stärker und schneller, sodass mir schwindelig wurde und ich noch schlimmer zitterte.
»Wir sind gleich da. Ich bringe dich zu meiner Schwester. Sie ist zwar echt mies drauf, weil sie schwanger ist und, na ja, gehandicapt oder so. Aber sie ist eigentlich voll cool drauf.«
Meine Lippen blieben versiegelt und ich starrte weiter auf meinen beschmutzten Körper.
»Sie weiß immer, was man in so einem Fall tun kann.« Angestrengt versuchte ich, ihren Worten zu folgen, mich vor meinem kurzbevorstehenden Zusammenbruch zu retten und ihrer weichen Stimme zu lauschen.
»Ich heiße übrigens Mila.« Mila. Ein sehr schöner Name und er passte perfekt zu ihrer vertrauenswürdigen, hilfsbereiten und doch stürmischen Erscheinung.
»Mach dir keine Sorgen. Meine Schwester wird dafür sorgen, dass es dir gut geht, und wenn nicht, bin ich auch noch da. Es wird jetzt wirklich alles gut, versprochen.« Starr sah ich durch die Windschutzscheibe. Die Lichter schossen an uns vorbei und ich konnte nur an die Schreie denken. An die Frauen, die gestorben waren. Die nicht nur verletzt worden waren, sondern auch erschossen dalagen.
Langsam versuchte ich, zu verstehen, suchte nach den Bildern, den Erinnerungen. Aber ich hatte keinen gesehen, nur gehört.
Nur die Schüsse hatte ich wahrgenommen. Wahrscheinlich dachten sie, ich sei längst umgekommen, sonst wäre ich jetzt nicht hier.
Nur wer konnte so etwas Grausames tun? Und warum?
Mit Sicherheit war es nur ein Unfall und die Männer, die uns darin eingepfercht hatten, hatten die Beweise vernichten wollen. Uns auslöschen wollen, damit wir nicht reden konnten. Sie hatten sie alle getötet.
Ich sah vor meinen geöffneten Augen dieses schreckliche Bild der vielen Schusswunden. Diese armen Frauen. Tränen der Verzweiflung rannten mir über die Wangen. Ich musste an etwas Schönes denken. An Edwin. Diesen wunderbaren Mann, der mich liebte und der mich schon lange verlassen hatte. Gerade als ich die Lider schloss und mir sein Gesicht und sein Lächeln vorstellte, blieb der Wagen abrupt stehen.
»Wir sind da«, verkündete Mila. Wir standen vor einem schönen Einfamilienhaus. Wir konnten unmöglich in der Nacht bei jemandem klingeln. Nicht nachdem, was passiert war, und auch sonst nicht. Die Beifahrertür öffnete sich und Mila sah zu mir hinab. »Na komm schon.« Sie hielt mir eine Hand hin und ich zögerte.
»Sie wird dir helfen«, ergänzte sie. Sie strahlte so viel Zuversicht aus, dass ich ihre Hand ergriff. Mit ihr gemeinsam trat ich die Stufen hinauf und an der Tür klopfte sie wild. Angst rüttelte an mir, genauso wie warme Hände. »Hey, dreh jetzt nicht durch. Du hast es bis hier geschafft.«
Wieder klopfte sie laut und klingelte. »Kit!«, brüllte sie gegen die Tür. »O Mann, wenn die jetzt gerade am Vögeln sind …«
Was? O nein! Bitte nicht!
Nach lauterem Klopfen und Dauerklingeln von Mila, was mich noch nervöser machte, weil sie dazu auch noch brüllte, öffnete sich die Tür. Das Ganze war so beschämend, dass ich nur nach unten sah und nicht der Schwester entgegentreten konnte.
»Kit, ich brauche deine Hilfe!«
Hatte sie ›Kit‹ gesagt? Ohne aufzuschauen, schob mich Mila am Rücken ins Haus. Die Wärme hüllte mich ein und das leichte Streicheln an meiner Haut beruhigte mich.
»Holst du einen Stuhl heran?«
»Sie wird alles einsauen. Sie ist ja voller Blut, Babe.«
Stimmen wirbelten herum, ohne dass ich sie erkannte.
»Na mach schon.«
Schritte entfernten sich und kurz erhaschte ich einen Blick auf nackte Männerfüße.
»Erzähl mir, was passiert ist, Mila.« Geräusche wie Schritte und etwas, das leicht auf den Boden stampfte, kamen näher.
»Da war dieser Unfall. Ich war gerade auf dem Weg zurück, als ich auf dem Highway den brennenden, umgefallenen LKW sah. Nachdem ich angehalten habe, um helfen zu wollen, entdeckte ich sie.«
Diese Schreie. Ich schloss die Augen, als sie wiederkamen und mich heimsuchten.
»Mila. Das ist gefährlich. Warum hast du nicht direkt angerufen? Wir wären gekommen.«
»Ja, genau«
»O Mann. Ich habe nicht nachgedacht. Außerdem seht ihr so aus, als wärt ihr beschäftigt gewesen.«
»Jetzt nicht mehr, danke für die Störung.«
»Dean! Mila darf uns zu jeder Zeit stören, ist das klar?«
Oh, noch peinlicher ging es nicht. Da spürte ich große Hände, die mich an den Schultern grob nach unten drückten, sodass ich auf einem Stuhl zum Sitzen kam. Er ging um mich herum und zog etwas auf. »Es sind nur kleine Schnittverletzungen. Woher kommt das ganze Blut?«
Mila flüsterte über mich hinweg, da sie neben mir stand. »Da waren ganz viele andere Frauen. Alle tot.« Wieder erschien dieses Bild vor meinen Augen. Die Frauen und das Blut. Die Schusswunden und die toten Augen.
»Das müssen wir uns ansehen, ich rufe Adam an, Babe.«
»Ich kümmere mich mit Mila um … wie heißt sie eigentlich?«
»Ich weiß es nicht. Sie hat nicht gesprochen. Nicht ein Wort.«
Plötzlich spürte ich eine Nähe, eine machtvolle Nähe und sah auf nackte Männerbeine, die sich vor mich knieten. Eine Hand streckte er nach mir aus und legte sie unter mein Kinn. Vorsichtig schob er mein Kinn hoch, sodass ich genau in sein Gesicht sah. Mein Blick wanderte von seinen tiefschwarzen Augen über die markanten Gesichtszüge, hoch zu seinem schwarzen Haar. Ruckartig wich ich schockiert zurück, als ich ihn erkannte. Dean Johnson alias Colt alias Mörder alias Ich-werde-sterben-und-das-qualvoll.
Colt kannte ich nur von Bildern, aber ich war mir sicher, dass er vor mir kniete. Nur in schwarzen Shorts.
»Oh, Dean. Du verschreckst das arme Ding.«
Er sah von mir weg und ich sah ebenfalls auf. Ein nacktes Bein und eine Krücke. Ein Shirtsaum. Mein Blick wanderte immer höher. Doch sie kam mir entgegen und beugte sich zu mir runter, als sie bemerkte, wie ich sie schüchtern musterte. Ihre gelb-braunen Iriden stachen mir direkt ins Auge und ihr fielen dunkle Haarsträhnen über die Schulter. Das Lächeln auf ihren Lippen erreichte nicht ihre Augen, sie versuchte mir aber trotzdem damit zu zeigen, dass von ihr keine Gefahr ausging. Doch diese Augen erkannte ich sofort. Und neben dem berüchtigten Mörder war mir auch klar, wer sie war. Kit. Die rechte Hand des Mafiabosses Calvin. Damit wusste ich, wo ich mich befand. In Detroit.
Hart schluckte ich meine Ängste herunter, als mir bewusstwurde, dass die liebe Mila Kits Schwester war. Kit! Ich war im Haus von Colt und Kit.
»Wie heißt du, Süße?«, glitt ihre rauchige Stimme über ihre Lippen. Selbst wenn ich wollte, hätte ich nicht antworten können. Es war unmöglich. Also ließ ich den Kopf hängen.
»Babe? Ihre Kleidung.«
»Ja. Die ist voller Blut!«
»Nein, Mila. Dean wollte damit sagen, dass sie einen Nuttenfummel trägt und …«
»Sie ist keine Nutte!« Nein, noch nicht. Ich sollte zu einer werden.
»Mila, das, was du erzählt hast … von den Frauen …«
»Klärt das unter euch. Ich ruf Adam an.«
»Mila, reg dich nicht auf. Das passiert täglich. Diese Frauen wurden verkauft oder sollten verkauft werden. Aber wir sehen uns das an.«
»Es ist doch dein Revier, Kit! Weißt du darüber etwas?«
»Nein, Mila. Aber ich werde es herausfinden. Niemand verkauft ohne mein Wissen Frauen in meinem Revier.« Das wurde immer besser. Wahrscheinlich war sie wirklich die Käuferin. Ohne Grund waren wir doch nicht nach Detroit gebracht worden. Nur was war dann passiert? Was war mit dem LKW passiert? Kein anderes Fahrzeug war involviert gewesen. Zwischen Mila und Kit war Ruhe eingekehrt und ich hörte Colt telefonieren.
»Tu nicht so, als hätte ich dich geweckt. Ich habe das Glas auf dem Tisch gesehen.« Eine der Frauen knurrte genervt und ich tippte auf Kit.
»Adam! Beweg deinen Arsch rüber. Es muss doch einen Vorteil für mich haben, dass du das Haus nebenan gekauft hast, abgesehen von deinen heimlichen, nächtlichen Besuchen.«
Die Schritte kamen näher. »Entschuldige, Babe, er war schon wieder im Haus.«
»Was will der Fickmensch hier? Sich daran aufgeilen, wenn wir vögeln?«
»Leute, bitte, ich will das nicht hören.«
»Aber uns dabei stören?«
»Dean!«
»Oh, Babe, es war wirklich ungünstig.«
»Nicht, wenn es um Mila geht. Sorg du lieber dafür, dass deine Freunde nicht heimlich das Haus betreten!«
Das könnte nicht schlimmer enden. Colt. Der Colt! Und die Kit! Streiten sich, weil ich – ja, ich! – sie beim Liebesakt gestört hatte. Hilfe! Die Stimmen versuchte ich abzuschalten, was kaum möglich war, weil ich in Colts und Kits Zuhause war. Ich! Und das auch noch blutüberströmt. Immerhin verstand ich nun, warum Mila nicht unter Schock stand und warum sie davon ausging, ihre Schwester würde mir helfen. Na ja, das Handicap ihrer Schwester verstand ich jetzt auch, denn sie hatte ihr Bein verloren, als sie von ihrem Ex entführt worden war. Aber warum wusste ich nichts von ihrer Schwester? Oder davon, dass sie überhaupt eine hatte? Aber wusste ich über Kits Familie überhaupt etwas?
Hatte Mila nicht auch gesagt, dass ihre Schwester schwanger sei? Kit war schwanger? Von Colt?
»Sie ist keine Nutte!«, brüllte Mila so laut, dass ich aus meinen Gedanken gerissen wurde. »Kannst du Schabe uns endlich helfen, anstatt zu behaupten, dass sie eine Nutte ist?«
Hinter mir knallte die Tür auf und ich schreckte zusammen. Eine leichte Gänsehaut breitete sich auf meinem Rücken aus und ich zog erst recht den Kopf ein.
»Kannst du auch klingeln, Fickmensch?«
»Oh, Stiletto, ist das deine Art, mich zu begrüßen?«
»Nein, aber meine Art, dir in den Arsch zu treten, wenn du noch mal in mein Haus kommst, ohne vorher zu klingeln.«
Die Schritte kamen näher und er brachte Kälte mit. Anscheinend merkte Mila, wie unwohl ich mich fühlte, und legte meine Hand in ihre. Sie nahm mir die Furcht und ihre Wärme schwappte zu mir rüber.
»Na, wer ist das denn?« Damit meinte er wohl mich.
»…’ne Frachtnutte.« Das war Colt.
»Sie ist keine Nutte!« Wie Mila mich beschützte, ließ mein Herz schneller schlagen. Noch nie hatte sich jemand so für mich eingesetzt. Dabei kannte sie mich noch nicht einmal und wusste nicht, dass ich zu einer hatte werden sollen.
»Nein, das ist sie auch nicht. Seht euch das Mädchen an. Die würde keinen Penny einbringen.« Diese Stimme, diese Worte. Es war nichts Neues, dass man mich für fett hielt. Der Neuankömmling nahm da auch kein Blatt vor den Mund.
Klatsch! Bei dem Geräusch schreckte ich ein weiteres Mal zusammen, aber diesmal sah ich auf. Mila stand neben mir und ein blonder Typ rieb sich die Wange. Mit der freien Hand hatte Mila diesem Mann wohl ins Gesicht geschlagen. Zumindest sah es so aus, so wie sie vor mir stand.
»Oh, du kl–« Er ging einen Schritt näher auf Mila zu, doch da schob sich eine Hand dazwischen.
»Ganz vorsichtig. Das ist meine Schwester.«
»Sie ist respektlos.«
»Das hat dich bei mir auch nicht aufgehalten, mir nachzustellen. Aber wenn du ihr zu nah kommst, lächelst du morgen ohne deine Zähne.« Es war mehr wie ein böses Knurren von Kit. Es drang durch meine Haut, umhüllte meine Adern und ließ sie erfrieren.
»Schon gut, Stiletto. Warum bin ich hier?«
Colt legte einen Arm um Kit und erklärte: »Du nimmst Mila, ihre neue Freundin und bringst sie zu C. Du bleibst bei ihnen und passt auf sie auf.«
»Ich rufe den Boss an«, klärte Kit auf. »Und Mila, du bleibst bei ihr. Du lässt sie noch nicht einmal allein aufs Klo gehen, verstanden? Solange wir nicht wissen, was passiert ist, lässt du sie nicht aus den Augen!«
»Jawohl, Ma’am.« Mila salutierte und Kit verdrehte die Augen.
»Wir sehen uns das Ganze an. Oder eher ich. Und du, Babe, wartest nackt im Bett auf mich.«
»Oh, Leute! Bitte!«
»Verschwindet. Wir sehen uns morgen in der Villa zum Frühstück.« Damit zog mich Mila in den Stand und legte einen Arm um mich. Weiterhin sah ich starr zu Boden und folgte ihr hinaus.
»Wenn wir bei Calvin angekommen sind, gehst du erst einmal duschen und dann verbinde ich dir die Arme.« Hatte Mila gerade Calvin gesagt? Meinte sie den Calvin? Den Boss der Detroiter Unterwelt? Wenn ich gerade nicht gestorben war und dies hier meine Todeshalluzinationen waren, würde mein Kopf bald auf irgendeinem Servierteller liegen. Oje.