S
o unwohl ich mich auch in fremder Männerkleidung fühlte und dabei, von gefährlich kriminellen Personen in Augenschein genommen zu werden, war ich noch nie so emotional und positiv gegenüber einer fremden Person eingestellt gewesen. Mila hatte mich so herzzerreißend und brutal ehrlich verteidigt und zu guter Letzt sprach Calvin auch noch russisch. Schlechtes, einfaches Russisch. Aber russisch.
Diese Leute bekamen tatsächlich einen Vertrauensvorschuss von mir. Weil sie gut waren. Außer Adam. Er war ein egoistischer, narzisstischer Blödkopf. Ich machte mir nichts aus ihm. Denn ich war es gewohnt, dass man mein Äußeres als
hässlich empfand und damit lebte ich schon viele Jahre. Dennoch schmerzte es ein wenig.
Das ganze Frühstück wirkte familiär und ausgelassen, obwohl Kits Anspannung aufgrund der Frauen, die mit mir nach Detroit verschleppt worden waren, fast schon körperlich spürbar war. Immer wieder schwang diese dicke Luft zu mir rüber. Ich vermutete, dass die anderen es auch bemerkten. Zudem war ich immer stärker davon überzeugt, wie wenig Ahnung Kit davon hatte, und dass sie nicht die Empfängerin dieser besonderen Fracht gewesen war. Umso überraschter war ich, als sie sich mehr darüber aufregte, dass Frauen in ihrem Gebiet verkauft wurden, als über die Tatsache, dass sie tot waren. Erschossen worden waren.
Plötzlich klopfte es an der Tür in meinem Rücken und gerade, als ich mich an Milas Seite völlig entspannt hatte, begann es in meinem Nacken zu kribbeln. Die Angst, wer hinter mir stand, ließ mich erstarren.
»Entschuldigen Sie die Störung, aber ich gehe einer Vermisstenanzeige nach.« Diese Stimme. Sie war so weich und desinteressiert zugleich. Lag es daran, dass der Sumpf seiner Arbeit ihn schon abgehärtet hatte oder weil diese Leute einen Schandfleck in seiner Karriere darstellten?
»Jetzt schon? Und ohne Vorankündigung störst du uns beim Frühstück?« Spätestens da wusste ich, dass Kits Stimme noch dunkler knurren konnte, und das machte mich wütend. Warum musste sie so verachtend sein? Er wollte schließlich einen ihrer Leute suchen, oder nicht?
»Es geht um Davon? Hat Malcolm angerufen?«, fragte nun Calvin.
»Ja. Hat er. Wann wurde er zuletzt gesehen?«
»Da fragst du die Falschen, Frischling. Frag das Malcolm!« Kit war überaus feindselig. Warum nur? Hatte sie etwas mit dem Verschwinden einer ihrer Männer zu tun? Es war ihr zuzutrauen. Aber warum? Hatte er sich gegen sie gewandt?
»Hey. Ich kann mir auch etwas Besseres vorstellen, als hier zu sein, okay?«
»Wo ist dein Kollege?«
»Der, den du so liebevoll Herzchen nennst, hat Urlaub. Klar?«
Ein Stuhl knallte nach hinten und ich sah auf. »Pass auf, wie du redest! Klar?« Kit stand da und funkelte ihn wütend an. Als würde sie jeden Moment eine Knarre ziehen und den Polizisten hinter mir erschießen, bedrohte sie ihn mit einem Blick. Mein Atem blieb stehen und ich betete zu Gott, dass nichts Derartiges eintreffen würde. Das durfte einfach nicht passieren.
»Kitty, setz dich.« Calvin stand auf, richtete ihren Stuhl für sie und sie nahm Platz, ohne den Polizisten noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Die Hitze schoss über meinen Rücken und ich schloss die Augen. Er sah nun mich an. Ich spürte es. Die Luft war tödlich angespannt. Zum Zerreißen. Und er betrachtete mich. Musterte mich.
»Wer ist das?«
»Geht dich nichts an«, knurrte Mila vor sich hin und legte mir eine Hand aufs Bein. Da spürte ich eine Berührung. An meiner Wirbelsäule entlang strich er vorsichtig hinab.
»Fass sie nicht an!«, brüllte Mila und die Finger, die eine brennende Hitze zurückließen, waren verschwunden. Kleinlaut hörte ich ihn. »Wer bist du?«
»Sie versteht dich eh nicht. Oder sprichst du russisch?«
»Mila!«, mahnte Kit und ich spürte, ohne einen Blick auf ihn zu werfen, wie er den Abstand vergrößerte. »Na dann. Wenn ihr etwas wisst, könnt ihr auf dem Revier anrufen.« Damit verschwanden die Schritte. Langsam glitt die Luft aus mir hinaus, die ich in mir gefangen gehalten hatte. Noch viel langsamer atmete ich tief ein, um mich wieder zu entspannen. Finger tippten auf mein Bein und ich sah erst hinunter und dann in Milas lächelndes Gesicht. Sie wollte mir Trost spenden.
Keine Ahnung, ob sie die Situation richtig einschätzte. Also zwang ich mich, zu lächeln, und erhob mich. Ich brauchte Abstand zu diesen Leuten, musste aufstehen und den Raum verlassen. Sie verwirrten einen nur. Mal waren sie freundlich, gaben sich Mühe, mir ein wohliges Gefühl zu spenden, mal waren sie so gefährlich. So angsteinflößend.
Verunsichert, allein die Villa eines Mafiabosses zu durchqueren, ging ich den Flur entlang, um wieder zu dem Zimmer zurückzugelangen, wo ich heute Nacht mit Mila geschlafen hatte. Erschrocken schrie ich auf, als warme Hände mich am Arm griffen und in einen kleinen Flur zogen. Gleichzeitig legten sich Finger auf meinen Mund und ich sah in diese Augen.
»Nicht schreien.« Ich nickte hastig und er musterte meine Kleidung. Dabei spürte ich an meinen Lippen keine Haut, sondern Stoff. Eine Bandage an seiner Hand? Als hätte er bemerkt, dass ich mich wunderte, nahm er die Hand schnell weg und sah zu mir herunter, um dann wieder meine Augen zu fixieren. »Du solltest nicht hier sein.« Das wusste ich auch, aber woher wusste er es? Ohne den Blick von mir zu wenden, strichen seine Fingerknöchel an meiner Seite entlang und meine Gänsehaut verselbständigte sich. Er ließ etwas in die Tasche meiner Jogginghose fallen. »Du sollst Eni anrufen.«
Er wusste, dass ich hier war? Hart schluckend fragte ich mich, was ich fühlen sollte. Erleichterung? Angst?
»Männerkleidung?« Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte. Dass er ein Problem damit hatte, dass ich Gregs Kleidung trug. Aber ich hatte nichts anderes. Selbst dafür war ich dankbar. »Du stinkst nach Mann! Geh duschen und zieh dich um!« Was sagte er da? Tränen sammelten sich in meinen Augen, so angewidert glitten seine Worte zu mir. »Hast du gehört?«
»Hey, Eddi! Lass das Mädchen in Ruhe, sie ist zu jung für dich!« Calvins warnende Stimme ließ ihn zusammenschrecken,
und ohne mich ein weiteres Mal anzusehen, drehte er sich um und ging zu Calvin. Mein Puls raste und ich fragte mich, ob er enttäuscht war, weil ich diese Kleidung trug, weil ich nach Greg roch.
»Zu jung?«
»Ja, sie ist erst fünfzehn und verstehen tut sie dich auch nicht. Geh besser!«
»Wenn du es sagst.« Damit verschwand er aus meinem Blickfeld. Noch immer stand ich an der Wand angelehnt da. Emotionen schwirrten um mich herum und ich wusste gar nicht, was ich denken sollte. Als ich mich wieder gesammelt hatte, trat ich aus dem kleinen Flurvorsprung und wollte zu der Treppe gehen. Da kamen mir zwei Männer entgegen. Einer war komplett tätowiert. Sogar sein Hals. Nicht nur seine Arme. Der andere war gutaussehend. Braune Haare, groß und er hatte, obwohl er strenge Gesichtszüge besaß, etwas Freches an sich. Gerade als sie sich näherten, zwinkerte er mir im Vorbeigehen zu und streifte mit seinem Arm meinen. Ich blickte zurück, aber sie taten es nicht. Irgendetwas machte mich neugierig, also blieb ich stehen und folgte ihnen unauffällig. Sie verschwanden in einem Raum und ich blieb draußen stehen. Ich vernahm Adam und Colts Stimmen. Sie unterhielten sich. Die Tür schloss sich. Nach rechts und links schauend, um nicht dabei erwischt zu werden, wie ich lauschte, hörte ich angestrengt den dumpfen Stimmen zu.
»Habt ihr die Frauen verschwinden lassen?«
»Ja, Boss. Wir haben auch nachgezählt. Mit der Überlebenden sind sie vollständig. Die andere Lieferung ist sogar komplett.«
»Sie ist komplett?«
»Ja, komisch, oder? Obwohl sie keines hatte, sind alle da.« Um was ging es? Ich verstand nichts. Hätte ich etwas bei mir haben sollen?
»Deswegen muss das Mädchen vorerst hierbleiben. Ich will
wissen, wer sie in den Container gesetzt hat. Ich will alles über sie wissen.«
»Warum, Boss?«
»Weil sie nie im Container hätte sein dürfen, Trick. Sie ist fünfzehn. Russin. Und hier stinkt etwas. Riley? Hast du Hinweise gefunden, wer es war? Waren es Kits Leute?«
»Nichts. Nicht mehr Hinweise, als du in der Nacht schon gefunden hast. D, denkst du wirklich, sie war es?«
»Nein. Dafür ist sie zu sehr außer sich. Aber es könnte auch sein, dass einer ihrer Leute selbständig gehandelt hat, weil er herausgefunden hat, dass wir auf deren Boden Geschäfte machen.«
»Ja, und wenn Kit das erfährt, haben wir ein Problem.«
»Das wird sie nicht. Wir haben keine Zeit. Jeden Moment kommt C, um alles mit uns zu klären. Also Arbeitsaufteilung. Trick bleibt bei Kit und behält sie im Auge. Bevor sie nachher zu viel rumschnüffelt. Riley, du checkst die Lage im Revier, du hast doch Freundschaften geknüpft. Nutze diese. Greg, du trennst Mila von der Neuen.«
»Warum darf ich das nicht machen?«
»Oh, Riley, weil du sie fickst und mir das nicht hilft! Greg übernimmt das. Außerdem müssen wir wissen, was passiert ist. Warum die Lieferung komplett ist. Adam, du kümmerst dich um das Mädchen, du lässt sie nicht aus den Augen und findest heraus, ob sie gechippt ist. Derweil kümmere ich mich um mögliche Rivalen und darum, ob es Probleme mit den anderen Frauen gibt. Und ich besänftige unsere Kunden.«
Das hatten sie also vor. Das reichte mir. Ich rannte von der Tür weg, bevor sie mich entdeckten oder Calvin kam. Als ich außer Reichweite war, verlangsamte ich meine Schritte. Gerade als ich die Treppe sah, kam mir Calvin nickend entgegen. Er war sicher auf dem Weg zu den Männern. Ich hatte also nicht viel Zeit. Zum Glück fand ich auf Anhieb das Zimmer wieder, in welchem ich geschlafen hatte. Schnell
fischte ich das Handy heraus und rief Eni an, bevor Mila zu mir kam. Denn ich hatte keine Ahnung, wo sie sich gerade aufhielt. Bestimmt war sie bei Kit.
»Wie geht es dir?« Erschrocken, dass er direkt ranging, sammelte ich mich erst, als ich antwortete: »Alles ist schiefgelaufen. Wir wurden nicht mit dem Flieger gebracht und so konnte ich auch nicht eingreifen.«
»Es wurden einige Attentate auf Flughäfen verübt.«
Erschrocken schlug ich die Hand vor den Mund und mir fehlten die Worte.
»Deswegen wurdet ihr anders transportiert.«
»Ja, aber der LKW hatte einen Unfall. Die Frauen sind alle tot. Hörst du? Alle sind tot und nur ich habe überlebt. Ich bin jetzt in Calvins Haus. In Detroit. Kits Schwester hat mich gerettet. Kit! Hörst du? Und Colt ist auch hier. Eni, was soll ich machen?«
»Ganz ruhig. Atme tief durch. Ich werde über alles in Kenntnis gesetzt.« Was? Aber wie? Woher?
»Aber … Er war nicht der Kunde! Colt war nicht der Kunde! Er ist der Händler! Er … Sie werden mich töten, wenn sie erfahren, wer ich bin. Oder sie werden mich ausliefern. Calvin und mein Vater sind Rivalen, das weißt du doch!«
»Ganz ruhig. Gerate jetzt nicht in Panik. Ich weiß, dass du jetzt in einer schwierigen Situation bist und Angst hast. Alles wird gut. Ich passe immer auf dich auf. Dir wird nichts zustoßen. Hör mir jetzt genau zu. Du wirst das Handy gleich ausschalten. Du versteckst es und bleibst ruhig.«
»Ich hätte irgendetwas bei mir haben müssen. Drogen vielleicht? Was ist, wenn sie mir nicht glauben?«
»Wonach haben sie genau gefragt?«
»Noch gar nicht. Ich habe sie belauscht, dass sie mich das fragen wollen. Eni, sie werden mich töten.« Erst da wurde mir klar, dass ich hier nicht sicher war, egal wie freundlich sie vorgaben, zu sein. Adam war ohnehin gemein, er würde nicht
zögern, mir etwas anzutun.
»Was hast du bis jetzt gesagt?«, fragte er so sanft und ruhig, dass mein Puls sich etwas beruhigte. Tief atmete ich durch. »Nicht viel. Calvin spricht russisch. Ich habe gesagt, dass ich Pascha heiße und dass ich fünfzehn bin.«
»Das hast du? Warum?«
»Sie haben gesagt, dass sie sich nicht an Kindern vergreifen.«
»Clever. Gut, aber verrate nicht mehr von dir. Bleib ruhig. Und vorsichtig. Wir hören auf und du rufst an, wenn du dich sicher fühlst. Dann erzählst du mir alles in Ruhe und ich helfe dir.«
»Ja, Eni. Danke.« Ich wusste, dass er mir helfen würde. Das tat er immer. Woher er wusste, dass ich hier war und wie er mir das Handy hatte zuschleusen können, war mir ein Rätsel. So wie er selbst. Er konnte mich schon immer nur mit der Stimme beruhigen. Dabei kannte ich ihn nicht persönlich. Ich tippte darauf, dass er nicht viel älter war als ich. Nur mit dieser Ruhe und der Weisheit, worum ich ihn beneidete. Er würde mich hier rausholen. Da war ich mir sicher.