5
W arum konnten wir die Kleine nicht einfach erschießen, bevor sie uns verriet? Weil es unnötig war und sie eh kein Wort verstand und du nur noch skeptischer als ohnehin schon wärst. Hatte ich dir je gesagt, dass ich es interessant fand, wie du schon dem leisesten Hauch einer Vorahnung so gut nachgehen konntest und damit immer recht behieltst? Du konntest dir nicht annähernd vorstellen, wie schön es wäre, wenn du einfach in unserem Team wärst. Du vertrautest uns. Nicht ganz, aber soweit, dass du uns deine Geschäfte und die, die es einmal gewesen waren, überlassen hattest. Und D, der Arsch, trieb dich im Gegenzug in den Ruin, ohne dass du es bemerktest. Er handelte auf deinem Boden und untergrub Cs und deine Macht. Einfach so. Weil er es konnte. Und was hatte ich von dem Ganzen? Ich durfte babysitten. Wie sollte ich deiner Vorstellung nach an sie herankommen? Ich wusste es nicht, Kit. Da blitzten die Bilder von ihr vor meinen Augen auf. Wie sie in Gregs Kleidung vor mir saß. Bis auf du waren alle Frauen gleich, Kit. Sie ließen sich beeinflussen. Während ich nun meinen Weg zu ihr bahnte, holte ich mein Handy heraus und wählte Majidas Nummer.
Oh, Majida war ein ganz besonderes Mädchen. Sie war ungefähr in ihrem Alter und freute sich bestimmt auf eine Shoppingrunde mit meiner Kreditkarte, die sie für solche Fälle hatte. Du würdest dich über dieses Mädchen kaputtlachen. Das wusste ich. Sie arbeitete für uns, und das schon länger, als es ihr guttun würde. Die süße Achtzehnjährige lebte bei ihren Eltern und spielte ihnen das perfekte Töchterchen vor. Jahrgangsbeste, Musiktalent, sozial engagiert, zugeknöpft bis zum Kinn. Und natürlich würde sie ihre Jungfräulichkeit erst in ihrer Hochzeitsnacht verlieren. Wer es glaubte …
Dabei arbeitete sie für uns. Kaufte für unsere Frauen die Kleidung und erledigte weitere fragwürdige Jobs. Nur damit sie sich ihr kleines Geheimnis finanzieren konnte. Das bestand natürlich aus Partys, Typen und Alkoholexzessen. Ja, die kleine Majida war Engelchen und Teufelchen in einer Person. Bei ihren Eltern gab sie sich so höflich und zurückhaltend. Bei uns war sie die reinste Göre. Ein Mundwerk, das man stopfen sollte, was wir aber nie tun würden. Dafür war sie einfach ein zu großes Highlight.
Es klingelte und ihre unsichere Stimme gab ein »Hallo?« wieder. Sie musste wohl zu Hause sein.
»Hallo, du kleines Monster auf High Heels, ich habe einen Job für dich.«
»Ähm … Hallo, Karina. Wie geht es dir?« Karina? Sie saß wirklich neben ihrer Mutter. Für diesen kindischen Blödsinn hatte ich keine Zeit. Wobei … du kanntest mich, Kit. Manchmal durfte man sich einen Spaß erlauben.
»Oh, sitzt Mami neben dir? Weiß sie von dem Video? Du weißt schon … das von dir und deinem Freund. Dieses süße Amateurfilmchen, welches wir aus dem Internet für dich löschen mussten, damit deine Eltern nicht sehen, was für ein verdorbenes, kleines Mädchen du bist.«
»Danke, wie nett von dir. Mir geht es auch gut. Du kannst mir doch später erzählen, welche Hunde wir von der Tötungsstation retten. Ich kann gerade nicht telefonieren.«
»Wirklich, Majida? Etwas Besseres fällt dir nicht ein? Willst du ihnen nicht erzählen, wie du es genossen hast, den Schwanz von diesem Jungen zu lutschen? Oh, ich habe das Video komplett gesehen, kleines Monster. Wird dir auch so heiß, wenn du daran denken musst? Wirst du gerade feucht, weil du dich an seinen Geschmack erinnern kannst und daran, wie er dich …«
»Karina, gibt es noch einen Grund, warum du anrufst? Ich will nicht unhöflich sein, aber ich sitze gerade mit meinen Eltern zusammen und ich möchte meine Aufmerksamkeit auf sie richten und nicht auf das Handy. Liegt dir etwas Wichtiges auf dem Herzen?«
»Ja. Besorg ein paar Kleidungsstücke. Ich schicke dir gleich eine Mail mit allen wichtigen Informationen. Beeil dich! Und lutsch meinen Schwanz. So, wie diesem Jungen. Schön langsam, genüsslich und tief. Wenn du dann schon …«
»Ja, natürlich, Karina. Wir können uns gegen Nachmittag zum Shoppen treffen. Mir ist eine Strickjacke kaputtgegangen und ich brauche eine neue.«
»Scheiß auf die Strickjacke. Setz dich auf meinen harten Schwanz, Monster.«
»Karina, du weißt, dass ich das nicht mag. Ich trinke keine Softdrinks mit Koffein.«
Ok, Kit, da musste ich lachen. Sie legte mit: »Bis gleich!«, auf. Mal wieder stellte ich fest, wie naiv mache Eltern waren. Als würde es wirklich Achtzehnjährige geben, die bis zur Eheschließung auf Sex warten wollten. Lustig war es trotzdem. Und dumm.
Einst glaubte ich auch daran, dass es solche Frauen gab. Suchte sogar danach. Allerdings erwiesen sich Jungfrauen im fähigen Alter als eine Art Heiliger Gral. Eher waren sie ein Sinnbild von göttlicher Tugend und bei weitem eine Fantasie. Sie wurden zu einer Erfindung, um Glauben zu erwecken. Heute – oder vielmehr, nachdem ich dich kennengelernt hatte – wusste ich, wonach ich wirklich strebte.
Weshalb ich D verstand, warum er ausgerechnet dir verfallen war. Mir erging es nicht anders. Jede noch so kleine Unterwerfung deinerseits machte ihn zu einem Gott. Was ich wiederum verachtete, weil er es nicht verdient hatte. Er nutzte es noch mehr aus, als ich es tun könnte.
Ich ging die Treppe hinauf zum Gästezimmer, um meine neue Babysitteraufgabe umzusetzen. Von diesem Kind Informationen zu bekommen, ohne ihre Sprache zu sprechen, grenzte an eine unlösbare Aufgabe. Ich konnte sie noch nicht einmal beeinflussen. Allerdings musste ich zumindest ihr Vertrauen gewinnen, was noch unmöglicher erschien. Ich wusste, dass sie meine Worte nicht verstand, aber meine Verachtung ihr gegenüber spüren würde. Vor der Tür strich ich mir daher durchs Gesicht und versteckte meine Abneigung. Schließlich war sie nur ein Kind.
Ich öffnete die Tür und erkannte sie unmittelbar auf dem Bett sitzend. Natürlich noch immer im Shirt von Greg. Kaum bemerkte sie mich, glitt ihr der Schreck übers Gesicht, als würde ich ihr etwas antun wollen. Oh, Kit, diese Aufgabe wurde nur noch schwieriger, wenn sie Angst vor mir hatte. Vor mir. Wo doch sonst jede Frau dachte, dass ich der Harmloseste von uns war. Mit einem Tritt nach hinten schloss ich die Tür, weshalb sie kurz zusammenzuckte.
Stiletto, das hier wurde vor meinen Augen zu einer Herausforderung, der ich wahrscheinlich nicht gewachsen sein würde. Ich war nicht der Richtige dafür. Riley musste das übernehmen. Ich konnte nur gut mit Frauen, aber mit jungen, schreckhaften Mädchen konnte ich nichts anfangen. Dennoch gab ich in jenem Moment nicht auf und betrachtete sie genauer. Mein Blick wanderte über ihre kleinen Füße und über ihre Beine, die sie unmittelbar unter der Decke zu verstecken versuchte. Das war ja großartig. Mit einer Hand fuhr ich mir durchs Haar, zog den Stuhl aus der Ecke heran und setzte mich ihr gegenüber ans Bettende. Der Abstand war groß genug und die Tatsache, dass ich mich setzte, ohne eine gefährliche Körperhaltung einzunehmen, schien den pochenden Puls an ihrer Halsschlagader ein wenig zu beruhigen.
Ihre gesamte Aufmerksamkeit war nach wie vor auf mich gerichtet. Ängstlich sah sie mich an. Sie musterte mich nicht, sondern starrte nur in mein Gesicht. Wahrscheinlich suchte sie dort Antworten. Längst fragte sie sich, was ich machte und was ich wohl von ihr wollte.
»Schade, dass du mich nicht verstehst«, begann ich sanft zu sprechen. »Sonst hätte ich dir erklärt, dass du in Sicherheit bist. Dass du keine Angst haben musst und dass ich hier bin, um auf dich aufzupassen.« Ich hoffte, dass meine freundliche Stimme und das darauffolgende Lächeln in meinem Gesicht dafür sorgten, dass sie sich entspannte. Anscheinend verstand sie wirklich kein Wort, denn sie schien noch immer alarmiert.
Zurückgelehnt legte ich den Kopf schief und begann, sie genauer zu scannen. Abgesehen von ihren großen Augen, in deren Grün die Furcht geschrieben stand, zierten blasse Sommersprossen ihre Wangen und Nase. Obwohl sie ein kindliches, rundliches Gesicht hatte, war sie eigentlich ganz hübsch. Die roten, langen Haare umrahmten jenes. Doch da fand ich nicht, was ich erhofft hatte. Also glitt mein Blick wie von selbst über ihren Oberkörper. Dafür, dass sie erst fünfzehn war, hatte sie beachtlich viel Oberweite. Aber wer konnte schon das Alter einer Frau anhand des Aussehens einschätzen?
Ihre Arme schloss sie um ihre Körpermitte, bedeckte ihren Bauch, und das sicher nicht, weil sie kräftiger war als du. Es war ein weiteres Zeichen dafür, dass sie sich unwohl in meiner Gegenwart fühlte. So würde ich nicht weiterkommen. Ich stand auf. Langsam. Lächelnd. Dennoch sprang sie bis an das Kopfende zurück und versuchte, den Abstand zu vergrößern, den ich Schritt für Schritt verkürzte. Entwaffnend hob ich zudem die Hände und setzte den freundlichsten Ausdruck auf, den ich besaß, schmunzelte sogar noch breiter. Bei jedem Schritt machte ich eine kleine Pause, um ihr Zeit zu geben, sich an meine Nähe zu gewöhnen. Dennoch war jeder ihrer Muskeln angespannt und eine tiefsitzende Angst erkennbar, die ich ihr sicher nicht so schnell nehmen konnte.
»Pssst. Hab keine Angst«, versuchte ich mein Glück, obwohl sie nicht den Inhalt meiner Botschaft verstand. »Ich tu dir nichts. Versprochen.«
Kaum stand ich direkt neben ihr, duckte sie sich. Sie machte sich kleiner, als könnte sie sich zwischen den Kissen im Bett vor mir verstecken, und bei diesem Anblick des Häufchen Elends vor mir tat sie mir sogar etwas leid. Sie hätte nicht hier sein dürfen, Kit. Sie hätte niemals im Container sein dürfen. Was war nur passiert? Wer hatte sie ihren Eltern entrissen und entführt?
Darüber nachzudenken, machte gerade keinen Sinn. Das würden wir noch herausbekommen. Ein Anhaltspunkt wäre aber zu wissen, ob sie überhaupt unseren Chip trug.
Ich streckte die Hand nach ihr aus und sie schloss wimmernd die Augen.
»Pozhaluysta net«, hauchte sie zart. Zwar hatte ich keine Ahnung, was das bedeutete, aber ihre Körpersprache wies darauf hin, dass sie bettelte, ihr nichts zu tun, was ich eh nicht vorhatte. Mit den Fingerspitzen berührte ich vorsichtig ihren Unterarm.
»Pozhaluysta …« Erneut diese Worte. Ich gab mir wirklich Mühe, behutsam mit ihr umzugehen, obwohl das Ganze meine Nerven überstrapazierte. Kit, wir brauchten Antworten und hier saß dieses ängstliche Kind, das anscheinend nur deiner Schwester wohlwollend war. Diese konnten wir allerdings nicht zu Rate ziehen. Sie durfte genauso wenig wissen wie du. Leider musste ich auch davon ausgehen, dass sie sich nicht lange genug beschäftigen lassen und bald hier aufschlagen würde.
Behutsam streichelte ich nur mit den Fingerspitzen ihren Arm hinauf. Immerhin zuckte sie nicht weg und schien sich, trotz ihrer Furcht, an mich zu gewöhnen. Ich setzte mich neben ihr auf die Bettkante und prüfte ihre Haut. Wie warmes Porzellan wirkte sie auf mich.
»Du brauchst keine Angst zu haben.« Ich löste meine Finger von ihr und strich ihr eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich würde dir nie etwas tun.« Das rostfarbene Haar glitt ungewohnt weich über meine Finger. Diese Farbe war wirklich außergewöhnlich. Auch, wie es glänzte. Ich musste wegen der vielen Sommersprossen, dem roten Haar und diesem ängstlichen Ausdruck wirklich lächeln.
»Fürchte dich nicht, Poppy«, glitt mir über die Lippen.
Zeitgleich runzelten wir beide die Stirn, was mich erst recht zum Lachen brachte. Etwas löste sich in mir und anscheinend auch in ihr. Denn sie schien nicht mehr so angespannt zu sein wie vor wenigen Minuten. Ich legte die Hände an ihre Oberarme und zog sie aufrecht gegen das Kopfende.
»Alles gut, Poppy.« Erneut runzelte sie die Stirn und begann zum ersten Mal, mich richtig zu mustern. Ich nutzte es aus und nahm ihre rechte Hand, um ihren Arm auszustrecken. Ich suchte auf ihrer Haut die Einstichstelle, bewegte den Arm hin und her, aber fand sie nicht, was mich nun in Alarmbereitschaft versetzte. Vorsichtig, obwohl in mir längst Hektik ausgebrochen war, ließ ich sie los, um auf dem anderen Arm zu suchen. Auch da fand ich nichts. Länger als nötig prüfte ich ihre zarte, weiße Haut. Aber Fehlanzeige. Könnte sie woanders sein? Im Nacken? Aber warum sollte sich an unserer Vorgehensweise etwas geändert haben? Alle anderen Frauen hatten sie am Arm. Riley hatte jede gescannt und es stimmte überein. Eine Frau fehlte uns. Nur diese hier war es scheinbar nicht. Sie hatte kein GPS.
Diese Erkenntnis bereitete mir Sorgen.
Hier lief etwas gewaltig schief.