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S chockiert sah er mich an, ließ mich los, als hätte er sich an mir verbrannt. Von seiner heuchlerischen Freundlichkeit war nichts mehr zu erkennen. Mit aufgerissenen Augen stand er auf und sah auf mich hinab, als sei ich ein Geist. Kopfschüttelnd und ohne ein weiteres Wort, wovon er fälschlicherweise ausging, dass ich es nicht verstand, wandte er sich von mir ab.
Die Neugier zerrte an mir, wollte wissen, was er anscheinend auf meiner Haut an den Armen entdeckt hatte, dass er sich so verhielt und nun auch noch begann, sich wild durchs Haar zu fahren. Allein die Vorstellung, dass er womöglich durch seine Fehleinschätzung mehr preisgeben könnte, als er wollte, veranlasste mich zu weiterem Schweigen.
Erst konnte ich nicht anders. Am Anfang. Gestern. An jenem Abend, als mein Leben sich in eine noch lebensbedrohlichere Richtung gewandt hatte. Der Schock hatte mich verstummen lassen. Die Angst vor dem Bevorstehenden hatte die Silben unterdrückt. Nun jedoch war ich durch die falsche Annahme dieser Männer im Vorteil. So musste es auch bleiben. Vielleicht war das meine einzige Möglichkeit, von hier zu entkommen. Mein einziger Lichtblick.
Während ich den großgewachsenen Mann mit den blonden Haaren betrachtete, kamen mir Milas Worte beim Frühstück in den Sinn. Frech hatte sie ihm die Stirn geboten. So amüsant das auch war, fragte ich mich, inwieweit sie in dieser Gruppe von grausamen Bastarden involviert war. Sie war so lieb und hilfsbereit. Steckte sie wirklich in den bestialischen Machenschaften dieser Männer mit drin? Es war kaum vorzustellen.
Adam schien sich zu beruhigen. Der wirklich deutsch aussehende Mann schob die Hände in die Hosentaschen und steuerte das Fenster an. Nachdenklich schaute er hinaus. Vor dem großen Fenster war er ganz in Gedanken, während der Schnee in dicken Flocken vom Himmel fiel. Das Weiß passte zum Ambiente des Raums, da er genauso hell und unschuldig eingerichtet war. Kein dunkler Fleck war zu erkennen. Hier, zwischen den Laken und dem fallenden Schnee draußen, könnte ich mich verstecken, wären meine roten Haare nicht so herausstechend. Mit blondem Haar, welches ich mir immer gewünscht hatte, würde ich zwischen all dem Weiß unsichtbar werden.
›Poppy.‹ Wie konnte er mich nur so nennen? Wie selbstverständlich glitt es über seine Lippen, als würden wir uns kennen. Als würden er und seine Freunde nicht meinen Tod bedeuten, wenn sie wüssten, wer ich war. Falls sie das niemals herausfinden sollten, würde ich allein wegen des Grundes dafür sterben, warum ich hier saß. Denn früher oder später würden sie das mit Sicherheit verstehen.
Ich musste von hier weg. Enigma wollte mich beschützen. Aber das konnte er nicht. Er war weit weg.
Niemand konnte mir helfen. Niemand.
Was mir umso klarer wurde, als mir wieder die Begegnung unten im Flur einfiel. Selbst er würde es nicht tun. Weil er es sicher nicht wollte.
»Wer bist du?«, hauchte Adam gegen die Scheibe. Dann drehte er sich um und sein stechend blauer Blick traf mich unvorbereitet. »Ich bin ein Unmensch. Ich habe mich dir nie richtig vorgestellt, wie es sich gehört.« Er lächelte, nur erreichte es nicht seine Augen, wie zuvor. Er trat auf mich zu und diesmal blieb ich starr sitzen, als er auf sich zeigte. »Adam. Ich bin Adam.«
Fragend sah er mich an, so als wollte er wissen, ob ich ihn verstanden hatte, indessen legte ich die Stirn in Falten. Längst wusste ich, wie er hieß. Schließlich hatte man ihn mehr als nur einmal angesprochen.
Erneut zeigte er auf sich selbst. »Adam.« Dann auf mich. Dabei war er über meinen Namen im Bilde. Calvin hatte ihn doch am Tisch mitgeteilt. Nur schien es so, als wollte er keiner Konversation aus dem Weg gehen, trotz unserer vermeintlichen Barriere. Was mich wiederum zum Lächeln brachte.
»Praskowja.«
»Pas–« Er versuchte sich an einer Wiederholung und schüttelte doch vergebens den Kopf. »Poppy«, beschloss er schließlich und reichte mir die Hand. Ich war aber nun mal keine Mohnblume und bot ihm abermals »Pascha« an.
»Pascha?« Er legte sich die Handfläche ans Herz und schwenkte verneinend den Kopf. »Da, wo ich herkomme, hat dieses Wort eine andere Bedeutung.«
Indem ich die Stirn runzelte und ihn fragend ansah, bedeutete ich ihm, dass ich nichts verstand. Wörtlich zwar schon, aber nicht inhaltlich. Was er darunter auslegte, war mir gleich.
»Poppy.« Er zeigte auf mich, womit er mir wohl klarmachen wollte, dass ich aus der Nummer nicht mehr herauskam. Abgesehen davon, dass ich diesen Namen lächerlich fand, nötigte er mich mit seinen hervorstechenden Grübchen regelrecht dazu, seinen Spitznamen für mich hinzunehmen, und ich willigte schließlich ein, als ich meine Hand hob. Fest umschloss er sie und schüttelte sie sanft.
»Freut mich.« Worte, die ich ihm nicht glaubte, auch wenn seine Körperhaltung und seine Augen nun etwas anderes widerspiegelten. Mit Sicherheit gehörte er zu den Meistern der Täuschung. Man sah es ihm regelrecht an, wie er vor Attraktivität nur so strotzte. Gerade weil er auch davon wusste und es sicher als seinen persönlichen Vorteil nutzte.
Nur wusste er nicht, dass er damit bei mir nicht weit kam. Im Gegensatz zu ihm war ich sicher nicht oberflächlich. Ich erkannte den wahren Charakter einer Person. Ich sah den Menschen, so, wie er war. Vor mir stand das Sinnbild eines Mannes mit der hässlichsten Wesensart, die ich mir vorstellen konnte.
Erneut hatte sich etwas in ihm gelöst, nicht nur meine Hand. Denn er begann, in dem großzügig geschnittenen Raum hin und her zu gehen. Langsam. Sein Mund hingegen bewegte sich schnell. Seine Stimme ertönte stürmisch, wie ein Wasserfall.
»Wenn du mich verstehen könntest, hättest du wahrscheinlich ganz anders reagiert. Du beherrschst unsere Sprache nicht und vielleicht ist es gut so.«
Fehleinschätzungen hatten schon andere zu Fall gebracht.
»Wenn es jedoch so wäre, wenn du mich trotz allem verstehen könntest, würde ich mich entschuldigen für mein Verhalten. Es war nicht angebracht, dich zu beleidigen, und eigentlich bin ich auch nicht so.«
Doch, so war er. Er hatte es gezeigt, weil er die ganze Zeit davon ausging, dass ich ihn nicht verstand.
»Du bist ein Kind, so jung, und du solltest nicht hier sein.« Er fuhr sich nervös durch die Haare. Und merkte nicht einmal, dass ich seine Sprache beherrschte und nichts davon glaubte. Er log, und das auch noch miserabel.
»Ich verstehe einfach nicht, warum du in diesem LKW warst.«
Und es blieb zu hoffen, dass es nicht herauskommen würde.
Abrupt kam er mitten im Raum zum Stehen und kreuzte meinen Blick.
»Du darfst nicht hier sein und ich will auch nicht, dass du hier bist. Deine Anwesenheit kann alles zerstören.«
Hoffentlich. Dabei wusste ich nicht einmal, was genau mein Aufenthalt bewirkte, tat jedoch weiter so, als würde ich kein Wort verstehen, und lächelte schüchtern. Er war so dumm, dass er es erwiderte.
Erst da sah ich, dass er etwas in der rechten Hand hielt. Seine Finger spielten mit einem Schlüssel. Einem einzelnen. Und augenblicklich wurde mir klar, was das bedeutete. Leider bemerkte er meinen ungewollten Ausdruck und hob den Schlüssel hoch, sodass ich das Stück Eisen zwischen seinen Fingern genau erkennen konnte.
»Ich muss etwas erledigen und auf dich aufpassen«, erklärte er trocken, obwohl er davon ausging, dass ich den Inhalt dieser Information nicht verstand. War er dumm oder machte er das absichtlich? Lächelnd schüttelte er den Kopf und ging zur Tür. Nur wollte ich mich nicht einsperren lassen wie eine Gefangene. So, als wäre ich schuld an dieser Lage, denn das war ich sicher nicht! Das war eigentlich anders vorgesehen. Bevor ich es schaffte, die Tür zu erreichen, schloss sie sich vor meinen Augen und während ich die Klinke runterdrückte, hörte ich das Klicken, was mir signalisierte, dass ich nun tatsächlich meiner Freiheit beraubt worden war. Eine andere Furcht breitete sich in mir aus, trieb den Puls hoch und schnürte mir die Luftzufuhr ab.
»Vypusti menya!«, brüllte ich und klopfte gegen die Tür. Nein! Nicht hier und niemals! »Vypusti menya! Pozhaluysta! ADAM!!!« Verzweifelt hämmerte ich härter mit geballten Fäusten gegen das Holz, Tränen sammelten sich und ich verlor an Mut. Erst als mir klar wurde, dass er mich nicht so schnell wieder freilassen würde, glitt ich zu Boden, lehnte mich an die Tür und schloss mein Gesicht in die Hände.
Das war sicher nicht besser als zu Hause. Deswegen war ich vor vielen Jahren davongelaufen.