I
ch saß gefühlt Stunden im Bett, dachte über die vergangene Nacht nach, als das Monster, welches gegebenenfalls doch keines war, das Zimmer betrat. Bei offener Tür, bekleidet in einem hellblauen Hemd, welches seinen Iriden noch mehr Tiefe verlieh, und einer dunkelblauen Anzughose, stand er aalglatt da und runzelte die Stirn.
Sein Blick bewegte sich zu meiner Kleidung auf dem Boden, und da fiel mir schlagartig auf, dass ich die letzten Stunden verschwendet hatte und noch immer bis auf den Slip unter der Decke nackt war. Was er sich denken konnte. Was er wusste. Was ich ihm vom Gesicht ablesen konnte, als sich ein
verschmitztes Grinsen auf seinen Lippen ausbreitete.
Die heiße Röte stieg mir ins Gesicht und erinnerte mich daran, dass ich ihm noch nicht einmal befehlen konnte, sich von mir abzuwenden, ohne meine Tarnung auffliegen zu lassen. Fest umklammerte ich das Laken, welches mich vor seinen Blicken schützte. Nervosität breitete sich in mir aus und ich dachte angespannt nach, wie ich ihm wortlos erläutern könnte, umzukehren, den Raum zu verlassen und mir den Karton zu bringen, worin sich Kleidung befand, die er mir besorgt hatte.
Ohne die passende Gestik, außer spontan mit dem ausgestreckten Arm und Finger flehend zur Tür zu zeigen, kam er ungeachtet dessen auf mich zu. Sein Lächeln vertiefte sich und gab seine bübischen Grübchen preis. Mein vergangener Traum, die wahrscheinlich immer noch wirkenden Drogen in meiner Blutlaufbahn und dieser liebevoll, blau funkelnde Blick lösten wieder dieses ungewollte Zucken an meiner Mitte aus. Ich wollte so nicht fühlen. Mochte diese Wirkung auf mich nicht. Und ich biss mir auf die Innenwange, als er neben mir an der Bettkante stehenblieb. Ich schaute an mir herab und verdeckte somit mein Gesicht mit den offenen Haaren. Dann spürte ich seine Fingerknöchel an der Wange, die die Hitze noch mehr entfachten, und wie er mir eine große Haarsträhne hinters Ohr schob. Weiterhin versuchte ich, mir die körperliche Reaktion nicht anmerken zu lassen, bis er …
Bis er unerwartet hinter meinen Rücken und unter die Kniekehlen griff und mich überraschend in seine Arme hochhob. Erschrocken schrie ich auf, suchte Halt und fand diesen an seinem Hals, als er bereits losging. Sicherheitshalber löste ich eine Hand von ihm und umklammerte die Decke, damit sie mir nicht vom Körper fiel, während er mich schweigend und mit breitem Grinsen aus dem Raum trug.
Die Sanftheit, wie er mich hielt, passte so gar nicht zu den Mordgedanken, die er ausgesprochen hatte. Sein ganzes
Verhalten war nicht vergleichbar und verwirrte mich. Unwissend, was er als Nächstes plante, wartete ich ab und befand mich wie im Traum der vergangenen Nacht in einem Zwiespalt. Parallel wurde mir übel bei dem Gedanken, was ich empfand und wie sehr ich es genoss, mich durch seine Hand zu berühren, auch wenn es nur ein Sinnbild gewesen war.
Er stellte mich im Raum ab, der seinen sündhaften Sandelholzduft trug und wo ich den Karton erkannte, als er auf diesen zeigte. Wieder einmal versuchte er sich mit Worten und wildem Gestikulieren zu äußern.
»Such dir was aus, geh duschen.« Mit dem Daumen verwies er hinter sich auf die Tür. »Ich warte draußen auf dich.« Zur Bestätigung nickte ich und hielt noch immer das Laken fest am Körper, was er bemerkte und was ihn zum Schmunzeln brachte. Ich wartete, bis er den Raum verließ, und stürzte mich rasch auf den Karton, bevor er wieder hereinkam. Doch er blieb fern. Selbst als ich unter der Dusche stand und wiederholt den Blick auf die geschlossene Badezimmertür richtete, um mich meines Alleinseins zu versichern, störte er nicht den Frieden. Wie angekündigt verharrte er vor der Tür, an der Wand gelehnt, nachdem ich mich angezogen hinaustraute.
Ich folgte seinem unausgesprochenen Befehl geradewegs in die Küche. Dort saßen Riley und Mila. Allein ihr Gesicht erhellte mir den Morgen. Ihr Lächeln, so, wie sie mich ansah, vertrieb mir meine Unsicherheit. Und ihre herzliche Begrüßung, indem sie aufsprang und mir um den Hals fiel, erwärmte mich bis tief in die Seele, als würde alles gut werden. Alles, solange sie da war.
Mila war ein liebenswürdiger Wirbelwind. Laut, bunt und zugleich harmonisch.
»Komm, Poppy!« An der Hand leitete sie mich zum Tisch und ließ mich nicht los, als sie mir einen Tee hinhielt. Ich auch sie nicht, als ich diesen annahm. Sie schnappte sich das
Körbchen mit belegten Brötchen und zog mich in Richtung Tür.
»Wo geht's hin?«, brummte Adam, der nicht von Milas Flucht begeistert war.
»Egal, Hauptsache, weg von dir, Made!« Ich verkniff mir das Lächeln, hoffte, dass niemand bemerkte, dass ich Milas Worte verstand, und folgte ihr stillschweigend hinaus. Quer durch die Flure führte sie mich nach draußen, die Treppen hinab. Eiskalter Wind schlug mir ins Gesicht und kühlte meinen Körper in Sekunden durch die Kleidung ab. Unbeirrt steuerte sie einen Geländewagen an. Mit dem Leuchten ihrer Augen und ausgestreckten Armen bat sie mich tonlos, das Körbchen zu halten, was ich auch neugierig tat. Aus dem Ärmel zog sie einen Stab heraus und in unter einer Minute signalisierte ein Klicken, dass die Verriegelung der Tür versagte und wundersamerweise aufsprang. Verdutzt beobachtete ich, wie sie hineingriff und die Rücksitztür öffnete. Die ganze Zeit stand ich da, sah ihr zu, und doch realisierte ich nicht, wie sie das angestellt hatte.
Unbemerkt hatte ich seit meiner Kindheit Gegenstände gestohlen, aber mit ihren gezielten Fingergriffen, dieser Geschicklichkeit konnte ich nicht mithalten. Was mich sofort daran erinnerte, wer ich war. Das hatte ich fast vergessen. Ausschließlich, in was für einer Gefahr ich mich befand, weil ich die war, die ich nun mal war, drängte sich in den Vordergrund. Und dass ich etwas stehlen sollte, wie so oft.
»Pascha.« Sie nickte zur Rücksitzbank. »Steig ein.« Lächelnd tat ich es auch und sie folgte mir.
»Das ist Gregs Wagen, geil, oder?« Sie breitete die Arme aus und ich schmunzelte sie weiterhin an, als verstünde ich kein Wort.
»Ich knacke oft die Karren der Maden, verstecke mich hier und kriege mehr mit, als den Schädlingen lieb ist.« Sie lachte laut los. Zu gerne wäre ich bei ihren verständlichen Worten mit eingestiegen und konnte es leider nicht. »Das Ungeziefer
glaubt, sie können uns alle an der Nase herumführen.« Sie tippte sich an die Nasenspitze. »Aber nicht mit uns, oder, Pascha?« Wie recht sie hatte. Dennoch blieb mein undurchsichtiges Lächeln wie angeklebt.
Dann betrachtete sie mich mit dem Grün ihrer Augen genauer, gleichzeitig nahm ich ihren Duft, in der Stille zwischen uns, intensiver wahr und fühlte mich plötzlich freier denn je. Den Korb entfernte sie aus meiner Hand, beugte sich zu mir vor und legte diesen hinter mich. Dann löste sie mir auch die Tasse aus den anderen Fingern, die vom Tee ganz warm geworden war, und stellte diese in den Fußraum. Es bildete sich ein liebevolles, vertrautes Lächeln, als sie die Arme nach mir ausstreckte, die Hände an meine Wangen legte und mich zu sich, direkt vor ihr Gesicht zog.
»Du bist so wunderschön, Poppy«, hauchte sie mir unmittelbar an die Lippen, überforderte mich mit der Zärtlichkeit und diesem unbestimmten Gefühl, sie berühren zu wollen. Sanft. Liebevoll. Es kribbelte warm auf meinen Lippen, begleitet von einer unwirklichen Hitze, die mir von den Wangen unter ihren Fingern übers Dekolleté zur Brust wanderte. Ihr tiefer Blick, die streichelnden Fingerspitzen und diese wohltuende Nähe zu ihr. Wie ein farbenfroher Nebel umschloss sie uns, sperrte das Böse von uns weg und legte ihre Fürsorglichkeit um mein Herz. Sie kam näher, unsere Nasenspitzen berührten sich behutsam, liebkosten sich und meine Fingerspitzen begannen in meinem Schoß zu kribbeln, weil ich sie ebenfalls berühren wollte. Dann trafen ihre Lippen auf meine. Mein Herz stoppte, mein Verstand schaltete sich aus und ich schloss die Arme um ihre Taille.
Hitze wallte über uns und Glück in reinster Form durchflutete mich bei den Berührungen ihrer Lippe und der neckenden Zungenspitze an meiner Unterlippe, was mich fast zerspringen ließ. Ich mochte Mila mehr als eine Freundin, eine Retterin und sicher mehr als eine einfache Gefährtin, die mir
Trost spendete.
Obwohl Mila die erste Frau war, die ich küsste, für die ich in jenem Moment so viel empfand, dass ich platzen konnte, fühlte sich nichts richtiger, als dass ich sie näher zu mir zog und die Lippen für sie öffnete. Vorsichtig, voller Respekt und Hingabe berührten unsere Zungen sich, tanzten einen betörenden und zugleich hitzigen Tanz, der endlos sein sollte. Ihre Finger strichen zu meinem Hinterkopf, vergruben sich in meinem Haar und fixierten mich direkt an ihren Lippen.
Es war sagenhaft schön. Nichts Vergleichbares hatte ich zuvor erlebt und leider löste sie sich viel zu schnell von mir. Schwer atmend sah sie mich mit gerötetem Mund und leuchtenden Augen an.
»Ich mag dich sehr, Poppy.« Ich wollte es erwidern. Wollte sagen, wie sehr ich sie mochte. Ich konnte nicht. Die Lüge stand zwischen uns. Der Verrat, vor allem ihr gegenüber, legte sich schwer auf meine Brust. Doch sie erkannte den tiefen Schmerz nicht, den ich ihr antat, und küsste mich nur kurz und knapp.
»Lass uns frühstücken.« Sie zeigte hinter mich auf den Korb und ich reichte ihn ihr. Vom bitteren Gefühl gepeinigt nahm ich ein Brötchen heraus und biss hinein, ohne mich von der hübschen Frau vor mir zu lösen. Sie bedeutete mir etwas. Nein, viel.
Das Prickeln in meinem Bauch und die Wärme, die sie in mir auslöste, sowie diese Wertschätzung zeigten mir längst, dass ich dabei war, mich in sie zu vergucken. Mich in eine Frau zu verlieben.