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Schon vor einiger Zeit war Mariangela Marelli, die immer noch bei dem Conte Cesare Spontini am Swimmingpool saß, sichtlich unruhig geworden. „Das Schiff hat den Kurs geändert“, hatte sie gesagt. „Ich spüre das.“
„Ich habe nichts bemerkt“, versicherte er ihr.
„Ich täusche mich nicht“, beharrte sie fast störrisch und blickte immer wieder nach allen Seiten. „Und merken Sie denn nicht, dass die Sonne ihren Stand gewechselt hat?“
„Es geht auf Mittag zu, und sie steht fast im Zenit“, erwiderte er. „Da haben wir sie, ganz gleich, wohin wir uns wenden, ständig direkt über uns.“
Sie hielt mit ihrer nervösen Umschau inne und fixierte ihn. Herrlich große, herrlich blaue Augen, dachte er.
„Finden Sie nicht auch, dass Sie bei Ihrer ganzen Besserwisserei reichlich überheblich sind, Cesare?“, fragte sie ihn.
„Doch. Das gehört zu meinen Charaktereigenschaften.“
Sie traf Anstalten, sich zu erheben. „Danke für den Drink.“
„Mariangela“, sagte er. „Bleiben Sie noch eine Weile, ja? Ich möchte Ihnen klarmachen, dass es kindisch ist, sich derart zu ängstigen und aus dem Gleichgewicht werfen zu lassen.“
„Sie finden das hysterisch, oder?“
„Nein, das nicht. Aber ich bin überzeugt, dass es einzig und allein mit der Navigation zu tun hat, wenn wir den Kurs tatsächlich geändert haben. Das ist doch kein Grund zur Aufregung. Wissen Sie eigentlich, wie oft am Tag oben auf der Brücke Kurskorrekturen vorgenommen werden?“
Sie saß auf der vorderen Kante des Deckstuhls und hatte die Hände auf die Knie gelegt. „Reine Routine also“, entgegnete sie. „Komisch, ich hatte das Gefühl, wir würden plötzlich im Kreis fahren. Na, ich habe mich da wohl getäuscht. Gut, ich gestehe gern ein, dass ich manchmal ein bisschen überspannt bin, obwohl ich rein äußerlich sehr ausgeglichen wirke.“
„Hängt das mit Ihrem Beruf zusammen?“, fragte er sie. Endlich hatte er den Anknüpfungspunkt für das Thema gefunden, auf das er hinauswollte. Er wollte sie davon überzeugen, dass sie das Zeug zu mehr hatte als nur zur Darstellerin in biederen „Fotoromanzi“, dass sie mit einigem Ehrgeiz und den nötigen Verbindungen, die man brauchte, ins Filmgeschäft einsteigen konnte.
Ja, er hatte seine Beziehungen in der Glamourwelt von Cinecittà, hatte als stiller Teilhaber eines Produzenten sogar Verbindungen zu Hollywood knüpfen können. Er konnte ihr zu einer neuen Profession und zu einem neuen Image verhelfen, wenn sie nur wollte.
Natürlich würde sie es für einen schäbigen Trick von ihm halten, sie zu sich ins Bett zu holen. Sie würde ihm beweisen, dass sie nicht der Typ war, der auf leere Versprechungen hereinfiel. Vielleicht würde sie ihn sogar auslachen. Trotzdem: Spontini wollte es versuchen. Er war, wie gesagt, hartnäckig und aufdringlich genug, um die entscheidende Probe aufs Exempel zu unternehmen.
„Wahrscheinlich hängt es damit zusammen“, antwortete sie ihm. „Wissen Sie denn, was ich mache, um mir meine Unabhängigkeit zu verdienen?“
Es bot sich keine Gelegenheit, den Dialog fortzuführen, denn in diesem Augenblick lief der Ruck durch das Schiff, als die „Ancona“ ihre Maschinen stoppte und dann mit voller Kraft zurücklaufen ließ. Alle Passagiere im und am Swimmingpool blickten überrascht zur Brücke hinauf, einige liefen auch an die Reling und lehnten sich außenbords, um nach der Ursache für das harte, durchdringende Rütteln zu forschen.
„Mein Gott, was war das?“, stieß Mariangela Marelli entsetzt aus. Sie sprang auf, lief um den Pool herum und drängte sich zwischen ihre Bordbekanntschaften. Sie stellte ihnen Fragen, wie Cesare, der sitzen geblieben war, von seinem Platz aus verfolgen konnte. An den Lippenbewegungen der jungen Männer vermochte er sogar zu erraten, was sie ihr antworteten.
„Wir sind auf ein Korallenriff gelaufen!“
„Wir sitzen fest!“
„Ein Pottwal hat das Schiff gerammt!“
„Ihr seid gemein!“, rief Mariangela - so laut, dass die in der Nähe stehenden Passagiere die Köpfe wandten und sie erstaunt musterten. Sie verfolgten alle, wie das bildschöne Mädchen sich jetzt mit den amüsierten jungen Männern herumstritt.
Cesare Spontini verzog das Gesicht. Sein Widerwille gegenüber dieser Clique war offenkundig, aber er hätte jetzt auch gern Mariangela seine Meinung gesagt. Er hielt ihr Verhalten für völlig falsch. Je mehr sie ihre Furcht zeigte, desto mehr würden sie sie necken und ins Bockshorn jagen. Sie beging wirklich einen großen Fehler, indem sie sich derart bloßstellte.
Cesare holte tief Luft. Er wollte sich nicht kompromittieren, schon gar nicht auf eine Diskussion mit der Clique einlassen. Seufzend winkte er Vittorio, dem Deckskellner, zu, der auch sofort erschien.
„Noch einen Martini Dry, Vittorio.“
„Ich serviere ihn sofort, Conte.“
„Vittorio - was war das eben für ein seltsamer Ruck, der durch das ganze Schiff lief?“
„Ich glaube, die Maschinen der 'Ancona' laufen zurück. Ein bisschen abrupt, dieses Manöver, finden Sie nicht auch?“
Spontinis Augen verengten sich zu Schlitzen. „Rückwärts? Sagen Sie mal, ist das ein Witz, Vittorio?“
„Ich würde mir Ihnen gegenüber nicht erlauben, einen so miserablen Witz zu reißen, Signore.“
„Danke“, sagte der Conte. Er ließ den Kellner davonschreiten, wartete dann aber seinen Drink nicht mehr ab, sondern stand von seinem Liegestuhl auf und wanderte langsam und mit nachdenklicher Miene übers Deck in Richtung Reling.
Rückwärtsfahrt ... Auch Spontini beugte sich über die Reling und bemerkte, wie die „Ancona“ mehr und mehr an Fahrt verlor, zum Stillstand kam und dann langsam begann, über das Heck wieder Fahrt aufzunehmen.
Die Passagiere, die wie er über die Reling starrten, bewiesen ihm einige Augenblicke später, dass er sich nicht getäuscht hatte. Einer von ihnen rief:
„He, wir laufen ja zurück!“ An seiner Ausdrucksweise erkannte Spontini, dass zumindest dieser Mann mit der Seefahrt einigermaßen vertraut sein musste.
Er beugte sich noch weiter über die Reling, und bemerkte, dass die „Ancona“ rasch an Fahrt gewann und schließlich mit beachtlicher Geschwindigkeit genau in die Richtung zurücklief, aus der sie gekommen war.
Die Clique um Mariangela Marelli schien dies für einen großartigen Ulk zu halten, alle wollten sich aus schütten vor Lachen, und Cesare hatte den Eindruck, dass bei diesem geradezu exaltierten Benehmen nicht nur Alkohol mit im Spiel war, sondern noch etwas anderes.
Cesare stieg, um einen besseren Überblick zu gewinnen, den Niedergang zum Sport-Deck halb hinauf, beugte sich dann über das Geländer. Und dabei entdeckte er den Trawler.
Groß und wuchtig stampfte dieser Fischdampfer von achtern auf den Luxusliner zu. Cesare betrachtete die schäumende Bugwelle, die er vor sich her schob, sein Blick wanderte höher, befasste sich eingehend mit den sich als recht ungewöhnlich entpuppenden Aufbauten des fremden Schiffes.
Der Trawler änderte seinen Kurs nicht. Immer mehr schrumpfte die Distanz zwischen beiden Schiffen zusammen. fast wirkte es jetzt so, als wolle der Unbekannte die rückwärtslaufende „Ancona“ rammen.
Cesare konnte seine Betrachtungen nicht fortsetzen. Ein Schrei gellte über das Sonnen- und das Lido-Deck, von vielen Kehlen ausgestoßen. Der Graf fuhr auf dem Niedergang herum, vernahm das eigentümliche Heulen, das aus irgendeiner Himmelsrichtung herüberwehte, zunahm - dann sah auch er, wie alle anderen an Bord des italienischen Kreuzfahrers, die Erscheinung. Fassungslos und wie vom Donner gerührt verharrte er auf der Stufe des Niedergangs.
Backbord voraus jaulten sie flach über die See, die beiden weißen Pfeile. Fast schien es, als wollten sie auf die „Ancona“ zurasen, und die Passagiere schrien wieder in panischer Angst auf. Dann aber waren die Objekte, die Geschosse oder Flugkörper sein konnten, am Bug des Schiffes vorbei, heulten nach Steuerbord, rasierten sekundenlang haarscharf über die schaumgekrönten Wellenkämme hinweg und tauchten dann in die See.
Cesare beobachtete, wie die Mehrzahl der Passagiere nach Steuerbord hinüberstürzte und sich an der Reling drängte, wie Vittorio angerempelt wurde und Mühe hatte, sein volles Tablett über dem Kopf zu jonglieren - wie eine Frau in den Fünfzigern umgerissen wurde, wie den jungen Männern der Clique das Lachen vergangen war und wie Mariangela Marelli, kalkweiß im Gesicht, am Rand des Swimmingpools stand und erschüttert zu ihm, Cesare, aufsah. Sie wusste bereits, was da passiert war, er hatte ihr genug erzählt.
Ihre Ängste waren berechtigt gewesen. Und auf diese Weise erfuhr der Conte Cesare Spontini eine Lektion, denn er konnte nicht anders, er musste begreifen, dass der Glaube in die technische Vollkommenheit nicht unerschütterlich sein konnte.
Er schaute zur Brücke empor und sah hinter den leicht getönten, blendfreien Scheiben die erstarrten Mienen von Kapitän Giancarlo Mancini, von Steuermann Sergio Bacci und Cancogni, dem Ersten Offizier. Cesare wandte sich wieder dem Lido-Swimmingpool zu, hastete die Stufen hinab, lief zu Mariangela.
Das Heulen war vorbei, die „Erscheinung“ in den Tiefen des Meeres verschwunden, aber die Passagiere beruhigten sich nicht, nein, sie wurden eher noch erregter. Dicht an dicht standen sie an der Steuerbordreling und schrien und gestikulierten.
„Das waren UFOs“, brüllte ein im Gesicht rot angelaufener, thrombosegefährdeter dicker Mann. „Ich hab’s genau gesehen, das waren UFOs von einem fremden Planeten ...“
Ein anderer Passagier, der ihn um gut einen Kopf überragte, brüllte zurück: „Reden Sie doch keinen Unsinn, es gibt keine UFOs! Das hat neulich sogar in der 'Washington Post' gestanden!“
„Was interessiert mich die 'Washington Post'?“, schrie der andere. „Ich lese die ,Stampa‘, ich kann überhaupt kein Englisch!“
„Raketen!“, stieß einer von Mariangelas vorher so vergnügten Bekannten aus. „Das waren Raketen! Vielleicht mit Atomsprengköpfen!“ Jetzt wirkte er überhaupt nicht mehr ausgelassen und amüsiert.
„Die Sowjets greifen uns an“, tönte es über Deck.
„Sie wollen das Schiff“, kreischte eine Frauenstimme. Sie gehörte der schätzungsweise fünfzig Jahre alten Signora, die vorher angerempelt und zu Fall gebracht worden war. Jetzt rappelte sie sich wieder auf, Strass auf der Brille, Furcht, blanke Panik im Gesicht, und half mit, die Terrorstimmung auf den Gipfel zu treiben.
Mariangela blickte den Grafen, der jetzt zu ihr trat, nur stumm an, und er sprach die eher lächerlich wirkenden Sätze aus:
„Es kann sich nur um ein Missverständnis, um ein technisches Versagen oder um ein tragisches Zusammentreffen von unglücklichen Zufällen handeln. Anders kann ich es mir nicht erklären.“
„Sparen Sie sich die Worte, Cesare“, sagte sie.
„Es ist vorbei“, erwiderte er. „Wir brauchen keine Angst mehr zu haben. Zweifellos kamen die beiden Raketen von Kwajalein, aber ihre Sprengköpfe, falls sie welche haben, haben Gott sei Dank nicht gezündet.“ Er griff nach ihrem Arm. „Kommen Sie, gehen Sie in die Lido-Bar, dort sind Sie in Sicherheit. Ich werde versuchen, die wild gewordene Masse hier irgendwie zu beruhigen.“
„Sie allein? Dass ich nicht lache ...“
„Mariangela, kommen Sie. Nun machen Sie mir doch nicht auch noch Schwierigkeiten.“
Sie stieß seine Hand fort. „Conte, ich kann auch allein auf mich aufpassen. Für wen halten Sie mich eigentlich? Für ein hilfloses Kind?“
„Vorhin haben Sie fast den Eindruck erweckt, genau das zu sein.“
„Ja, vorhin“, sagte sie gedämpft. In dem Geschrei war ihre Stimme kaum noch zu verstehen. „Vorhin habe ich geahnt, dass unsere Fahrt in einen Horror-Trip umschlagen würde - dass wir zu 'Gruseltouristen' werden würden. Oder wie soll ich uns nennen?“
Das Summen der Turbinen verstummte plötzlich. Spontini, der ein Mann mit äußerst geschärften Sinnen war, was solche Details betraf, spürte es mehr, als dass er es in dem Lärmen der Passagiere wirklich hören konnte.
Er entsann sich des Trawlers. Mit einem Mal fuhr er herum, lief wieder zum Steuerbordniedergang, musste sich einen Weg durch die Menschentraube bahnen, die förmlich an der Reling zu kleben schien - und dann war er wieder auf seinem Platz von vorher und sah, wie der Trawler sich nah, sehr nah an die „Ancona“ heranschob, während der Luxusliner langsamer wurde und allmählich zum Stillstand in dem klaren, türkisfarbenen Wasser kam.
Auch der Trawler stoppte ab, seine Bugwelle fiel in sich zusammen. Cesare Spontini, der Graf aus den Abruzzen, verfolgte ganz deutlich, wie ein paar Männer auf Oberdeck des unbekannten Schiffes sich anschickten, ein motorisiertes Beiboot abzufieren.
Welcher Nationalität diese Männer sein mochten, konnte Cesare nicht erkennen. Dazu war die Entfernung noch zu groß.
Sobald der Trawler durch den Gegenschub seiner nun rückwärts arbeitenden Maschinen ohne Fahrt in der See dümpelte, wurde das Boot von seiner Besatzung an den Davits außenbords gehievt und abgefiert.
Cesare zählte gut ein Dutzend Männer, die nun an einer Jakobsleiter abenterten und in das Boot stiegen, glaubte aber auch die Gestalt eines Mädchens auszumachen.
Was diese Leute wollten - er fragte sich unwillkürlich, welches der Grund dafür sein mochte, dass sie mit ihrem Trawler nicht einfach bei der „Ancona“ längsseits gingen.
Die Antwort auf seine Frage erhielt Spontini unverzüglich. Kaum hatte sich das Motorboot von dem Mutterschiff gelöst, nahm es Fahrt auf. Es steuerte genau auf die Stelle zu, an der Cesare die beiden Raketen hatte eintauchen sehen.