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Der Zugang zum Brückendeck der „Ancona“ war zwar gesperrt, aber von seinem Standort auf dem Steuerbordniedergang aus konnte Spontini genug von dem erkennen, was im achteren Bereich des Brückenhauses vorging. Schon vorher, bei der Landung der Raketen, hatte er ja durch die achteren und seitlichen Scheiben die Reaktionen von Mancini, Cancogni und Bacci verfolgen können, hatte ganz deutlich ihre entgeisterten Gesichter gesehen.

Jetzt erblickte er fremde Gestalten, finstere, verzerrte Mienen, etwas stimmte nicht, ein kurzer, heftiger Wortwechsel schien auf der Brücke stattzufinden, fast drohte ein Handgemenge auszubrechen, aber es wurde durch etwas gestoppt, durch einen Umstand, den der Graf nicht erkunden konnte.

Zweifellos stammten die fremden Männer von dem motorisierten Beiboot, das an Steuerbord der „Ancona“ festgemacht hatte; zu dieser Feststellung gehörte ja kein Scharfsinn - aber wer hatte ihnen gestattet, bis zur Brücke vorzudringen?

Niemand - sie hatten sich mit Gewalt Zutritt verschafft.

Cesare Spontini wollte zurückweichen, aber in diesem Moment öffneten sich die Türen des Brückengebäudes sowohl auf der Backbord als auch auf der Steuerbordseite, und mehrere Männer und ein Mädchen mit asiatischen Zügen liefen auf die achtere Reling zu. Sie hielten Maschinenpistolen in ihren Fäusten, eine der Waffen war auf Spontini gerichtet.

Achtern, also hinter dem Brückendeck, erstreckte sich das Sonnendeck mit dem Swimmingpool, und dort hatte sich inzwischen das Gros der Passagiere versammelt. Von dort aus trachteten alle irgendwie herauszufinden, was eigentlich los war und in welchem Zusammenhang das Auftauchen des Trawlers mit der Landung der „Missiles“ stand.

Cesare wollte sich umdrehen und den Niedergang hinabhasten, den Männern, Frauen und Kindern zurufen: „Bringt euch in Sicherheit!“ Aber das wurde ihm ganz einfach nicht mehr gestattet. Ihm, der am weitesten oben auf dem Niedergang stand und der daher die neue Entwicklung der Lage als Erster erfasste, hielt das Mädchen mit den langen, samtig wirkenden schwarzen Haaren die MPi direkt vors Gesicht.

„Keine Bewegung“, sagte sie auf Englisch. „Schön ruhig stehen bleiben, ja? Dann passiert nämlich gar nichts. Sie brauchen keine Angst zu haben.“

„Da bin ich aber froh“, gab er bissig zurück.

„Frotzeln Sie nicht.“

„Das ist nicht angebracht, oder?“

„Das Schiff befindet sich in unserer Gewalt“, antwortete sie in ihrem singenden, akzenthaltigen Tonfall. „Alles richtet sich von jetzt an nach unserem Befehl.“

Unten, auf dem Sonnendeck, hatten ein paar Offiziere die Ruhe unter den Passagieren halbwegs wiederherstellen können. Sie hatten den Leuten einfach erzählt, bei den so bedrohlich heranheulenden Raketen habe es sich um ein paar harmlose Attrappen gehandelt. Die Skeptischen nahmen ihnen das natürlich nicht ab, sie bedrängten die Offiziere mit ihren Fragen.

Jetzt wurden die hitzigen Gespräche abgebrochen, die Köpfe ruckten herum, man schaute zur Brücke auf, wo sich die Asiaten an der achteren Reling eingefunden hatten. Sechs Mann, ein Mädchen - die Maschinenpistolen zielten in die Masse der Passagiere, mitten hinein. Es war ein noch größerer Schock als der, den fast alle beim Erscheinen der „Cruise Missiles“ erlitten hatten.

Ein Aufschrei ging durch die Menge.

Dsou Taofen hob die rechte Hand. „Ruhe!“, schrie er.

„Das Schiff ist von uns besetzt worden. Niemand geschieht etwas, wenn ihr alle euch friedlich und vernünftig verhaltet!“ Er sprach wie Liu Pefu stark akzentgeladenes Englisch, aber es reichte aus, um sich zu verständigen. Philip Hou war an Bord des Trawlers geblieben und hatte dort vorläufig das Kommando übernommen, er wurde dort dringender für die Bergung der „Cruise Missiles“ gebraucht als an Bord der „Ancona“ zu Dolmetscherdiensten.

Wer von den Passagieren die englische Sprache nicht beherrschte, dem wurden Dsous Worte von denen übersetzt, die die Sätze verstanden hatten. Der rot gesichtige Dicke fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, drängelte sich durch die Menschentraube vor und schrie:

„Ihr habt sie wohl nicht mehr alle, wie? Jetzt reicht’s mir aber! Erst die verfluchten UFOs und dann so ein billiger Schabernack - haut ab und spielt gefälligst woanders mit euren Kindergewehren herum!“

„Die Waffen sind echt“, widersprach ihm ein junger Mann, der kreideweiß im Gesicht war. „Sie können es mir glauben.“

„Das sind die Sowjets!“, schrie eine Frau. „Ich hab’s ja gewusst!“

„Nein, das sind Chinesen!“, kreischte die fünfzigjährige Signora mit dem Strass auf der Brille. „Das sieht doch ein Blinder!“

„Geht weg“, rief ein schätzungsweise sieben Jahre alter Junge zum Brückendeck hinauf. „Lasst uns in Ruhe, ihr blöden Heinis, ihr habt meine Mama erschreckt.“ Er stand neben einer Frau, die sich eine Hand vors Gesicht gepresst hielt und hemmungslos schluchzte.

Die Unruhe wuchs, drohte in offenen Aufruhr umzuschlagen. Cesare Spontini suchte mit dem Blick nach Mariangela Marelli, konnte sie aber nirgends entdecken. Vielleicht hatte sie sich doch in die Lido-Bar zurückgezogen. Er hoffte es inständig.

Dsou hob die Maschinenpistole, drückte ab und jagte ein paar Feuerstöße über die Köpfe der Passagiere hinweg. Die Garbe löste eine Serie hysterischer Schreie aus. Eine ältere Frau brach zusammen, die meisten Frauen und Kinder weinten und jammerten.

„Ruhe!“, brüllte Dsou Taofen.

Als es auf dem Sonnendeck nur ein wenig leiser wurde, die Unruhe aber nicht völlig nachließ, traf er Anstalten, eine neue Garbe über die Menschenmenge hinwegzujagen.

Liu gab ihm jedoch ein Zeichen. Einer der sechs Chinesen, die im Brückenhaus den Kapitän, Cancogni und den Zweiten Offizier in Schach hielten, den sie aus dem Funkschapp nach oben getrieben hatten, war ins Freie getreten und sagte in seiner Muttersprache zu seinem Anführer:

„Der Kapitän behauptet, er könnte die Leute zur Ruhe bringen. Er bittet darum, mit ihnen reden zu dürfen.“

„Er soll herkommen“, schrie Dsou. Nichts konnte ihn mehr in Wut versetzen als Menschen, die seinen Befehlen nicht gehorchten, wenn er sie offen bedrohte. Was bildete sich dieses hochnäsige, reiche Volk denn eigentlich ein?

In seinem Unterbewusstsein gärte die Furcht vor der Unberechenbarkeit der Masse, und etwas von diesem Empfinden drang bis an die Oberfläche seiner geistigen Wahrnehmung - aber er wollte es nicht wahrhaben. Er schloss ganz einfach aus, dass diese Leute dort die Brücke stürmen konnten, wenn sie es wirklich wollten. Dreizehn Maschinenpistolen, einmal leer gefeuert, waren nutzlose Werkzeuge gegen diese Menge, die, wenn sie erst einmal entfesselt war, einige Todesopfer hinnehmen würde, um anschließend ihre Wut an den Piraten auszulassen.

Kapitän Giancarlo Mancini trat, von einem Chinesen herüberdirigiert, neben Dsou. Er blickte ernst auf die Passagiere und seine wenigen Offiziere, die zwischen den Männern, Frauen und Kindern auf und ab schritten und sie zu besänftigen versuchten.

Mancini hob beide Hände. „Bitte!“, sagte er nicht sonderlich laut. „Bitte hören Sie mich an, Signore e Signori!“

Sie verstummten jetzt wirklich. Zu diesem großen Mann mit dem säuberlich gestutzten schwarzen Vollbart hatten sie unbegrenztes Vertrauen. Er war ihr Kapitän, er hatte sich bei Bordfesten als unkomplizierter, jederzeit ansprechbarer Mann gezeigt, der für jeden ein offenes Ohr hatte. Sie mochten ihn alle, und sie glaubten fest daran, dass er ihnen aus dieser Situation heraushalf.

„Es ist wahr“, erklärte er ihnen. „Wir sind gekapert worden. Von Männern, die vor nichts zurückschrecken. Sie würden sich nicht scheuen, Einzelne von uns anzuschießen oder gar zu töten, um die anderen von Torheiten abzuhalten. Denken Sie bitte an den Film, den wir neulich Abend in unserem Bordkino gesehen haben - der sich mit einem ähnlichen Thema befasste.“

„Hijacking“, sagte Graf Cesare Spontini, ohne sich um das Mädchen mit der MPi zu kümmern. „Haben sie dir gesagt, wohin sie uns entführen wollen, Giancarlo?“

„Nein.“

„Aufhören“, sagte Liu Pefu auf eine Gebärde ihres Geliebten hin. „Nur der Kapitän darf zu den Passagieren reden, weil wir wissen, dass er sie nicht aufwiegeln wird. Aber wir wollen hier keine italienischen Dialoge hören.“

„Ich will wissen, wohin ihr uns verschleppt“, entgegnete Spontini auf Englisch. „Das könntet ihr uns wenigstens mitteilen. Ihr verausgabt euch dabei nicht, keine Angst. Wie wäre es mit Hawaii?“

„Liu“, sagte Dsou. „Wenn er noch ein Wort spricht, schießt du ihn nieder.“

Er hatte diesmal seine Muttersprache benutzt, aber Cesare verstand auch so, um was es ging. Dieses gefährliche Aufflackern in den Augen des Chinesen, der Tonfall, mit dem er zu dem Mädchen sprach - allein das drückte genug aus.

Cesare Spontini schwieg.

„Sie alle wissen, dass wir in einem Fall wie diesem nur durch Ruhe, Disziplin und Umsicht Ausschreitungen jeder Art verhindern können“, fuhr der Kapitän in seiner Ansprache an die Passagiere fort. „Dies ist zwar kein Film, sondern bittere Realität - aber die Regeln, die zu beachten sind, sind die gleichen. Bitte stellen Sie jetzt keine Fragen, sondern verlassen Sie sich ganz darauf, dass ich alles, aber auch wirklich alles für Ihre Gesundheit und Sicherheit tun werde. Sie dürfen weiterhin auf Oberdeck bleiben, müssen es nur in Kauf nehmen, dass man sie bewacht und dass ihre Kabinen systematisch nach Waffen durchsucht werden, nachdem unsere Bezwinger sich davon überzeugt haben, dass keiner von Ihnen eine Pistole, einen Revolver oder auch nur ein Messer bei sich trägt.“

Er wandte sich Dsou zu und sagte auf Englisch: „Sie haben mir eben versichert, dass Ihr 'Coup' auf der 'Ancona' nur dem einen Zweck dient: Sie wollen die beiden Raketen von Kwajalein aus der See fischen ...“

„... und dabei nicht gestört werden“, erwiderte Dsou, ohne eine Miene zu verziehen. „Danach werden wir Sie alle wieder freilassen. Betrachten Sie mich und meine Begleiter als eine paramilitärische Truppe, die Situation als kriegsähnlich.“

„Gegen wen führen Sie Krieg?“

„Das kann ich Ihnen leider nicht verraten.“

Mancini schwieg und blickte zu dem Trawler. Er fragte sich, wieso sich das Mädchen und die Männer nicht maskiert hatten. Sie mussten ihrer Sache sehr sicher sein, aber es würde noch mehr Schwierigkeiten geben, das spürte der Kapitän. So einfach, wie der Chinese es eben dargestellt hatte, würde dies alles nicht ablaufen ...

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