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Mariangela Marelli stand vor den getönten Scheiben im Innern des Brückenhauses und blickte zum Südufer der Insel Tinian hinüber. Dort standen die hundert Mann von der Besatzung, die Dsou Taofen einfach „exekutieren“ lassen wollte, falls man nicht aufhörte, ihn zu jagen. Mariangela liefen die Tränen heiß über die Wangen, aber sie schluchzte nicht, gab keinen Laut von sich.
Kapitän Mancini, Bacci, Cancogni, der Bordarzt Santonocito und einige andere hatten sich sogar freiwillig gemeldet, mit an Land zu fahren. Ohne eine Miene zu verziehen, waren sie in die Beiboote der „Ancona“ abgeentert, die von Dsou und sechs Männern des Prisenkommandos zum Sandstrand hinübergesteuert worden waren. Keine Chance, die Bewacher in den motorisierten Beibooten zu überwältigen - mit den Maschinenpistolen hätten die Chinesen sehr schnell reinen Tisch gemacht.
Mariangela weinte um die Männer, die den Heldenmut bewiesen, ihr Leben für andere zu opfern. Hätten sie sich nicht freiwillig gemeldet, so hätte Dsou willkürlich andere Männer aus der Besatzung herausgepickt, um sie zum Vollzugsplatz seines „Standgerichtes“ zu schleifen.
Liu stand plötzlich neben der Italienerin. Sie holte aus und hieb ihr die rechte Hand zweimal blitzschnell mit erstaunlicher Wucht gegen die Wangen. Mariangela prallte zurück. Ihre Finger fuhren an die Wangen. Ihre Augen weiteten sich, aber sie schrie nicht auf.
„Hure“, sagte Liu Pefu. „Warum bist du nicht mitgegangen? Es ist dir doch so sehr an deinen Landsleuten gelegen, du trauerst schon jetzt um sie. Warum hast du dich nicht auch freiwillig gemeldet?“
Ja, dachte Mariangela, warum hast du es nicht getan?
Sie hatte es Mancini angeboten, ihn zu begleiten. Aber der hatte es ihr strikt verboten. Er hatte Dsou sogar aufgefordert, sie daran zu hindern, irgendwelche Dummheiten zu begehen - und Dsou hatte ihm lächelnd versichert, er würde sie, Mariangela, wie ein Juwel behüten. Aber wenn sie es energischer gefordert hätte, vielleicht hätten sie sie dann mitnehmen müssen.
„Du bist feige“, zischte Liu ihr zu. „Warum gehst du nicht auf die Brücke hinaus, versuchst durch einen Sprung in die See zu fliehen? Ich würde natürlich versuchen, dich daran zu hindern.“
„Nein“, sagte Mariangela.
Liu rückte langsam auf sie zu. „Dann werde ich dich mit bloßen Händen töten. Ich habe die Kraft dazu, weißt du das?“
„Wie kann eine Frau so grausam sein wie du?“, fragte Mariangela entsetzt. „Was habe ich dir eigentlich getan?“
„Ich brauche es dir nicht zu erklären.“
„Sei doch nicht närrisch“, erwiderte die Italienerin, die jetzt zu begreifen begann. „Ich will dir deinen Dsou nicht wegnehmen. Ich kann ihn nicht ausstehen. Männer, die vor keiner Brutalität zurückschrecken, sind mir nicht nur widerwärtig - ich hasse sie.“
„Du lügst!“
Liu hob die Hände, trieb Mariangela in eine Ecke des Ruderhauses. Ja, sie hätte sich wirklich auf die vermeintliche Rivalin gestürzt - wenn jetzt nicht Bai Hsi mit der entsicherten Maschinenpistole zwischen sie getreten wäre. „Stopp“, sagte er zu Liu. „Das geht zu weit. Du sollst das Mädchen in Ruhe lassen.“
„Narr“, entgegnete sie verächtlich. „Was fällt dir denn überhaupt ein? Du hast mir gar keine Befehle zu erteilen!“
„In diesem Fall schon. Dsou hat mir eingeschärft, ich soll aufpassen, dass der Blondine nichts geschieht. Ich soll auch dich zurückhalten, wenn du - eifersüchtig, wie du bist - einen Ausfall gegen sie unternimmst.“
Liu lachte plötzlich auf, aber dann verzerrten sich ihre Züge. Fast hätte sie zu weinen begonnen - vor unbändiger Wut. So weit war es jetzt schon: Dsou schützte dieses italienische Flittchen vor ihrem Zugriff! Liu überlegte, ob sie Bai Hsi einfach niederschießen sollte, sie hatte ja auch eine MPi, die am Schulterriemen unter ihrer rechten Achsel hing. Aber dann kam sie zu dem Schluss, dass sie dem dicken Mann auf jeden Fall unterlegen war, egal, wie sie es anpackte.
„Fahrt zur Hölle“, sagte sie. „Zerspringt. Ach, ihr könnt mir alle den Buckel herunterrutschen.“ Damit drehte sie sich ruckartig um und verließ die Brücke. Bai Hsi sah Mariangela an. Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass sie jetzt allein mit ihm war. Sie wich vor ihm zurück, erbleichte. Würde er jetzt tun, was er schon unten auf dem Sonnendeck hatte tun wollen? War dies nicht die beste Gelegenheit dazu, das Versäumte nachzuholen?
Er grinste ihr aber nur zu, wandte sich dann ab. Dsou Taofen würde ihn töten, wenn er sich an dem Mädchen vergriff. Er war gemein genug gewesen, Bai Hsi als Wache auf der Brücke zurückzulassen - um den Mann auf die Probe zu stellen. Bai Hsi hatte sich fest vorgenommen, hart zu bleiben und das Vertrauen Dsous wiederzugewinnen. Nein, das kurze Vergnügen war den hohen Preis nicht wert, den er am Ende dafür bezahlen musste.