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Bount Reiniger hatte die nutzlose Wache um Mitternacht abgebrochen.
Sie schienen es doch nicht so eilig zu haben, diese Südländer. Auch bei der Cosa Nostra ließen sie sich meist Zeit und passten fürs Zuschlagen die günstigste Gelegenheit ab.
Am Tag bestand für Gino Monzarone wohl auch keine unmittelbare. Gefahr. Deshalb legte sich Reiniger noch für ein paar Stunden aufs Ohr, hinterließ eine Notiz für June, und machte sich früh auf den Weg.
Er führte ihn durch den Lincoln-Tunnel und den Staten Highway 48|5 direkt hinüber nach North Bergen. Auf die Neuheiten der Morgenzeitungen glaubte er heute verzichten zu können.
Von Ron Myers hatte er die genaue Ortsbeschreibung, doch es konnte nicht schaden, sich mal dort umzusehen, wo Mercurio Benedotti gestorben war.
Dazu traute Bount den »Dorfpolizisten« nicht, und für ein echtes New Yorker Gewächs waren nun mal alle anderen Städte der Welt nichts als Dörfer, und mochten sie auch dreißig Millionen Einwohner haben wie Mexiko City. Westlich des Hudson-River begann für sie die Prärie. .
Reiniger parkte genau unter den Betonpfeilern des Hackensack Circle. Hoch über ihm spreizte sich der Highway in die National Routes 3 und 20 auf.
Die Pendler waren noch unterwegs und sorgten dafür, dass die Rushhour in Downtown Manhattan rund um die Uhr am Kochen blieb.
Die Sonne hing als milchig-weiße Scheibe am dunstigen Himmel und wärmte noch nicht.
Bount Reiniger überlegte kurz, ob er die Automatic mitnehmen sollte, doch dann steckte er sie zur Reservewaffe ins Handschuhfach und sperrte ab.
Grau hingen vereinzelte Nebelfetzen zwischen Büschen und Bäumen.
Durch Erfahrung gewitzt, steckten seine Füße in knöchelhohen Stiefeletten. Er wusste nicht genau, wonach er suchte, doch den Tatort fand er.
Die abrückenden Cops hatten Sand über den blutgetränkten Boden gestreut. Der schmale Weg war mit Reifenspuren übersät.
Wenn es vorher je eine Fährte gegeben hatte, sie war jetzt zertrampelt. Reiniger schimpfte in sich hinein.
»In den Büschen«, murmelte er. »Der Mörder muss in den Büschen gestanden haben. Ziemlich nah vor seinem Opfer.«
Bount musste sich konzentrieren. Wie bei jeder Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.
»Hände hoch!«
Bount erstarrte zur Salzsäule; Lots Weib wäre vor Neid erblasst. Nur die Arme hoben sich wie von selbst.
Doch der Schreck saß nicht so tief, dass er sich für immer in den Eingeweiden festfressen hätte können. Schließlich befand sich Bount Reiniger nicht zum ersten Mal in einer derartigen Situation.
Und Leute, die erst mal »Hände hoch« empfahlen, schossen nicht sofort.
»Kann ich mich umdrehen?«, fragte Bount mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. Normalerweise klang sein Bariton gesünder.
»Lassen Sie die Hände oben!«
Reiniger fasste das als Erlaubnis auf und sah, was er erwartet hatte, nach dem Akzent und den erregten Vibrationen im Bass: Einen Sizilianer.
Er war im Alter Miguele Benedottis, nur besser genährt. Allem Anschein nach aß Carlo Monzarone nicht nur sein Gemüse. Es durften auch Fisch und: Fleisch und Nudeln satt in der Minestrone sein.
»Was wollen Sie von mir?«, meinte Bount. »Sind Sie der Parkwächter? Ich wusste gar nicht, dass der Morast hier neuerdings unter Naturschutz steht.«
Das waren wohl nicht die Sätze, mit denen Monzarone senior gerechnet hatte.
Trotzdem blieb die Lupara in seinen Pranken – hatten eigentlich alle Sizilianer solche Abortdeckel an ihren Handgelenken baumeln? – unverwandt auf Reinigers Bauch gerichtet.
Ja, viel schlimmer noch!
Der abgesägte Doppellauf wies deutlich unter die Gürtellinie!
Bount blieb es flau im Magen, obwohl das topographisch nicht ganz stimmte.
Der Gemüsehändler grunzte so schön wie sein Ex-Freund Miguele. Sie hatten durchaus ihre Gemeinsamkeiten.
»Sie sind von denen!«, stieß er endlich aus.
Bount Reiniger bemerkte, wie sich die Knöchel, die den Schaft umspannten, weiß verfärbten.
Er hegte ja sonst keine besondere Abneigung gegen diese Farbe, mochte sie bei Rosen sogar sehr gern, doch in diesem Fall?
Der Mann war hochgradig aus dem Häuschen.
Die Kohleaugen glühten, die Halbglatze glänzte schwitzig, aus der roten Knollennase tropfte es in einen Schnurrbart, der bei Carlo Monzarone aussah wie ein umgedrehtes U.
Das stoppelige Doppelkinn wackelte, als stünde es unter Strom.
Da wusste Bount, dass dieser Mann zu jeder Affekttat fähig war, wie neunzig Prozent sämtlicher Zeitgenossen.
Reiniger wollte es nicht darauf ankommen lassen, denn er schloss ferner aus diesen glutenden Blicken, dass sich Monzarone senior sein Urteil über ihn dummerweise schon gebildet hatte.
Möglicherweise hielt er ihn für einen Italienerspross aus dem arg verhassten Norden.
Braungebrannt genug wäre Bount selbst in diesem kalten Frühjahr noch gewesen.
Er konnte diesen freundlichen alten Herrn doch nicht zum Mörder werden lassen! June hätte ihn vermutlich, in die Rubriken »lieb« und »nett« eingestuft.
Da wollte Reiniger eben auch in diesem Sinne lieb und nett sein. Er ließ sich seitwärts fallen, denn sein Gekröse hing nicht nur an ihm, die Anhänglichkeit beruhte vielmehr auf bewährter Gegenseitigkeit.
Prompt kam, was er befürchtet hatte. Der Gemüsehändler aus der Henderson Willow Street fällte mit nur einem Schuss eine junge Birke auf der anderen Seite des Wegs. Schade drum. Neben weißen Rosen mochte Reiniger auch die Birken.
Doch dass er so blitzartig abrollte und wieder hochkam, lag weniger an seiner Liebe zur Botanik, oder dass er befürchtet hätte, Carlo Monzarone würde das gesamte Gelände abholzen.
Weit gefehlt!
In diesem Moment war ihm sogar der Bestand des tropischen Regenwalds, inklusive der damit verbundenen globalen Klimaveränderungen, ziemlich egal.
Nur die eigene Haut wollte er retten.
Es dünkte ihm, das gelänge am besten, wenn er Signore Monzarone schnellstmöglich von der Lupara befreite. Und weil sich ein Tritt gegen die Weichteile älterer sizilianischer Herrn nun schon mal so schön bewährt hatte, wählte er dieses Ziel eben noch einmal als Angriffspunkt. Nur verlangten es die Umstände, dass er die Faust einsetzte.
Der Erfolg war der gleiche.
Jaulen wie ein heiserer Kojote, einen Diener machen, heftig mit den Augen rollen, den Mund weit aufreißen, und keine Lust mehr zum Atmen haben.
Die Pranken ließen die Lupara fallen, sie wurden anderenorts offenbar nötiger gebraucht. Reiniger schnappte die Flinte. Ein leichter Kick mit den praktischen Stiefeletten reichte aus, das gute Stück zur Seite zu befördern.
»So, Signore Carlo Monzarone«, meinte Bount versöhnlich. »Ich will ja nicht so gemein sein wie Sie und verlangen: Hände hoch ...«