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Raymond Miller fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Der Direktor hatte ihn in sein Büro gebeten! Oh Himmel - was will der Mann? "Er will dich zum stellvertretenden Filialleiter in SoHo ernennen, du Rindvieh, was sonst?"

Er holte den Aufzug und ging nervös auf und ab. Sein Blick fiel auf die Toilettentüren gegenüber.

"Vielleicht will er dir auch in den Hinter treten, weil du in diesem Monat nicht genug Kunden für Prämiensparverträge gewonnen hast ..."

Der Aufzug kam. Die Türen schoben sich auseinander. Miller huschte in die Toiletten und erleichterte sein plötzlich unter Druck stehendes Gedärm. Danach, vor dem Spiegel, rückte er seine Fliege zurecht, betrachtete zufrieden sein glattes Primanergesicht und zog seinen Scheitel nach.

"Er wird dir den Posten in SoHo geben. Mach dir nicht ins Hemd, Miller - du wirst stellvertretender Filialleiter. Du wirst Nachfolger von Bertrand!"

Er drückte die Tür. Sein Atem flog. Er holte erneut den Aufzug. Eine Entspannungsübung fiel ihm ein, die er vor einem halben Jahr in einem Training für Führungskräfte gelernt hatte. Er schloss kurz die Augen, beugte leicht die Knie und und spürte seine Fußsohlen schwer auf dem Boden lasten.

Das Zischen der Aufzugstüren - er öffnete die Augen und stieg ein.

Wie ihm Traum zogen die zehn Minuten an ihm vorbei, die er kurz darauf im Chefbüro verbrachte.

"Wir brauchen junge, ehrgeizige Leute, Mr. Miller", sagte der Direktor, der für Personalfragen zuständig war. "Leute wie Sie, sind das Zukunftskapital unserer Bank."

Miller hatte alle Mühe sein Pokerface zusammenzuhalten. Eine Szene aus der neunten oder zehnten Highschoolklasse schoss ihm durch den Kopf - der Lehrer gab die Lateinklausuren zurück, Millers Hassfach, und Miller hatte eine Eins, die erste und einzige seiner Schullaufbahn: Er war spontan auf seinen Tisch gesprungen, hatte geschrien, wie ein Indianer nach siegreicher Schlacht und hatte einen wilden Tanz auf dem Tisch aufgeführt. Seine Mitschüler waren begeistert, sein Lehrer hatte ihm eine saftige Strafarbeit aufgebrummt.

Er wusste inzwischen, was sich gehörte, und was Strafarbeiten nach sich zog. Mit kaum bewegter Miene hörte er das Loblied des Direktors an und tat so, als hätte er diese Routinebesprechung schon seit seinem ersten Geburtstag in seinem Terminkalender stehen.

"... und deswegen, mein lieber Mister Miller, will Ihnen die Leitung der Bank ihr Vertrauen beweisen, indem sie Sie in diesem Monat noch mit Funktionen eines stellvertretenden Filialleiters hier in der Zentrale betraut, um Sie dann im nächsten Monat als Filialleiter in unserer Filiale in der achtundzwanzigsten Straße einzusetzen ..."

Miller schluckte und versuchte krampfhaft Haltung zu bewahren. In der Achtundzwanzigsten? Filialleiter? Wahrscheinlich hatte er sich verhört.

"... ich weiß, dass Sie in zwei Wochen dreißig Jahre alt werden. Das ist schon sehr jung für einen Filialleiter." Der Direktor setzte ein väterliches Grinsen auf. "Aber wir wollten wenigstens warten, bis eine Drei am Anfang steht, aus personalpolitischen Gründen, Sie verstehen ..."

Er verstand kein Wort. Filialleiter in Chelsea ... Ab nächsten Monat ...

"Ich verstehe", sagte er, und versuchte krampfhaft, die Phrasen zusammenzukratzen, die er andere Leute in solchen Momenten hatte sagen hören. "Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen ..., ich werde mir alle Mühe geben, es zu rechtfertigen ..., ich weiß, was ich der Firma schuldig bin ...", und ähnliche Phrasen spulte er ab. Die Dinge eben, die gewissermaßen rituell festgelegt waren.

Wie auf Wolken verließ er das Büro des Direktors und schwebte über das Treppenhaus zurück ins Erdgeschoss. Bevor er zurück in die Schalterräume ging, flüchtete er sich in die Toiletten. Vor dem Spiegel betrachtete er sein rotes Gesicht. Das Gesicht eines Filialleiters. Das Gesicht eines zukünftigen Direktors. Das Gesicht eines Winners.

Er lachte wiehernd und schüttelte den Kopf. "Das hätte ich dir gar nicht zugetraut, Miller, du bist ja gut! Du bist ja verdammt gut!"

Wie im Rausch brachte er die letzten drei Stunden hinter sich. Er vergaß seinen direkten Vorgesetzten, der ihn schikanierte, wo er konnte. Er vergaß die Angst der letzten zwei Woche - die Angst, irgendwelche Bankräuber könnten ihn ausspionieren, er vergaß die Frau, die ihm drei Tage zuvor den Laufpass gegeben hatte. Was zum Teufel sollte ihn noch aufhalten?

Später, im North Star Pub, traf er einen alten Bekannten: Herbert Moriga. Der klopfte ihm auf die Schulter. "Dafür dass du mir gegenüber ein schlechtes Gewissen haben müsstest, scheinst du ganz gut gelaunt zu sein."

"Schlechtes Gewissen?" Raymond Miller stutzte. "Ach der Kredit! Tut mir leid, Herby - ich konnte nichts machen! Der Chef hat was läuten gehört von deinen finanziellen Schwierigkeiten. Hätte mich Kopf und Kragen gekostet, wenn ich den Kredit eingefädelt hätte."

"Schon okay." Herbert winkte ab und klappte seine Zigarettenschachtel auf.

"Wie läuft denn das Geschäft." Miller hatte absolut keinen Bock sich irgendwelches Looser-Gejammer anzuhören. Aber er zwang sich zur Höflichkeit.

"Mein Kompagnon hat sich erschossen." Herbert klemmte sich eine Gitane zwischen die Lippen. Miller gab ihm Feuer. "Aber ich mach weiter." Herby wusste, dass er auf jedes einzelne Wort achten musste. "Wird schon wieder."

Eine junge Frau mit blonden, kurzen Haaren kam aus dem Eingangsbereich auf die Theke zu. Trisha Hennessy. Sie nickte Miller kurz zu und begrüßte Herbert Moriga mit einem Kuss auf die Lippen.

"Na so was!", staunte Miller. "Kann New York City so klein sein?" Seine Kollegin und Moriga! Der hatte ihm gar nichts davon erzählt. Nun ja - Miller war auch schon lange nicht mehr ihm Fitness-Club gewesen.

"Ein trauriges Schicksal hat uns zusammengeschmiedet", grinste Moriga. Er legte den Arm um die Frau und führte sie zu einem freien Tisch.

Miller war es recht, nicht länger mit den beiden plaudern zu müssen. Zu Trisha hatte er keinen besonderen Draht und Miller würde früher oder später mit seinen geschäftlichen Sorgen anfangen.

Miller widmete sich wieder seinem Triumpfgefühl und feierte seinen Sieg. Nach einer halben Stunde hatten sich die meisten seiner Kumpel an der Theke eingefunden, und er schmiss eine Lokalrunde. Und das, obwohl er sein Konto schon um fast dreitausend Dollar überzogen hatte. "Was soll's", dachte er, "ich leite demnächst eine Bankfiliale, und ein großer Dampfer muss eine große Bugwelle vor sich herschieben ..."

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