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Die letzte Woche in der Zentrale begann. Die letzte Woche als Stellvertreter des Stellvertreters irgendeines stellvertretenden Abteilungsleiters. Die letzte Woche als kleine Nummer.

Das hob Millers Laune ganz erheblich. Und gab ihm zumindest so viel Schwung, dass er trotz seines Katers das stereotype Lächeln aufrechthalten konnte, mit dem er die Kunden zu beraten pflegte.

Er war in der vergangenen Nacht erst gegen drei Uhr aus dem North Star Pub gewankt. Abgefüllt mit einer beträchtlichen Anzahl von Whiskys. Er hatte vergeblich versucht, sie aus der Höhe der Zeche zu errechnen.

"Noch eine Woche", schoss es ihm immer wieder durch den Kopf. "Noch eine Woche, dann bist du Filialleiter." So rettete er sich durch die ersten Stunden des Vormittags.

Trotzdem schielte er immer wieder zu der großen Uhr an der Wand über den drei Glasflügeltüren des Eingangs. Es war kurz nach halb elf, als er hinter dem Kunden, den er gerade beriet, eine Kollegin vorbeistelzen sah, deren Gang ihn stutzig machte: Sie ging, als würde sie sich jeden Moment übergeben müssen - mit steifen Knien und kleinen hastige Schritten.

Sein Beratungsgespräch war schon in der Schlussphase und der Kunde unterschrieb gerade den Sparvertrag, den er ihm aufgeschwätzt hatte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Kollegin dem Direktor einen Zettel auf den Schreibtisch legte. Der sah ruckartig auf und blickte zum Schaltertresen.

Irgendetwas stimmte nicht. Miller drehte sich zum Tresen um. Ein Mann in dunklem Anzug und mit Hut hinter aufgeklapptem schwarzen Aktenkoffer.

Dunkler Anzug, schwarzer Aktenkoffer, Hut ... irgendetwas stimmte nicht.

Miller beeilte sich und fertigte den Kunden ab. Als er ihm lächelnd die Hand drückte, sah er den Direktor zum Tresen gehen. Dort sprach er mit dem untersetzten Mann in dem dunklen Anzug.

Miller wollte näher herangehen, um zu sehen, was dort vor sich ging. In dem Augenblick hob der Mann den Kopf - ein schwarzes Tuch verbarg sein Gesicht. Miller hielt den Atem an. Der Maskierte sah direkt zu ihm. Er fühlte sich wie festgewachsen.

"Ein Überfall! Verdammt, das ist ein Überfall! Du musst einen Alarmknopf drücken!"

Sein entsetzter Blick schweifte durch die Schalterräume. Etwas mehr als ein Dutzend Kunden standen an den Schreibpulten oder vor den Kassenschaltern, oder saßen an den Schreibtischen der Kundenberater. Merkte denn keiner etwas?

Doch - vorn, im Eingangsbereich, sah er einige Kunden die mit erhobenen Händen dastanden - starr wie Marmorstatuen. Und nicht weit von ihnen dicht an der linken Glastür ein Maskierter in kariertem Sakko und weißen Schuhen. Der schwarze Gesichtsschleier hing ihm von der Baseballkappe herab. Er hielt eine Maschinenpistole in Anschlag.

Miller war so maßlos erschrocken, dass er unwillkürlich einen Schritt zur Seite machte. Auf den nächsten Schreibtisch zu. Unter der Kante der Knopf, den Miller noch nie hatte drücken müssen. Der Alarmknopf.

Er streckte den Arm aus. Eine Schusssalve ratterte los ...

Ein Eisklotz schien in seinem Bauch zu explodieren. Herby hielt den Atem an. Sah er recht? Der Kerl da vorn an dem Schreibtisch war das wirklich Raymond Miller? Verflucht - er war es.

Es war bisher gelaufen wie am Schnürchen. Der Direktor hatte versucht, zu Hause anzurufen. Natürlich vergeblich. Ein Viertelstunde zuvor hatte seine Frau nämlich schon einmal einen Anruf bekommen. Von einem Unfallarzt des Beekman Downtown Hospitals. Ihr Sohn wäre nach einem Autounfall auf dem Schulweg schwer verletzt eingeliefert worden. Der Unfallarzt war Ronny gewesen. Und die Frau würde den Betrug frühestens in einer Stunde erkennen.

Jetzt stand ihr Mann vor Herby und bedeutete ihm, mit ihm in den Tresorraum zu kommen. Herby riss ihm den Zettel aus der Hand. Und spürte den Blick von rechts. Und sah auf - direkt in Millers Gesicht.

Jede verdammte Einzelheit ihres langweiligen Alltags erzählte sie ihm, diese geschwätzige Nymphomanin! Jeden Furz, den sie roch! Aber das Miller hier in der Zentrale arbeitete, hatte sie ihm nicht erzählt. Nicht einmal, als sie ihn vor ein paar Tagen im North Star Pub getroffen hatten.

Er verfluchte Trisha. Er verfluchte sich selbst - wie leicht hätte er diesen Zufall ausschließen können. Es war zu spät. Da drüben stand Miller. Er konnte nur hoffen, dass seine Maskerade ihn ausreichend tarnte. Miller durfte auf keinen Fall in seine Nähe kommen.

Er sah, wie Miller einen Schritt auf den Schreibtisch zuging und seine Hand ausstreckte. Herby riss die MP 5 hoch und zog durch. Die Schüsse schlugen trommelnd in den Schreibtisch ein und zerfetzten den Telefonapparat. Miller riss erschrocken die Arme hoch und blieb wie angewurzelt stehen.

Die Schüsse hatten die gedämpfte Atmosphäre stiller Geschäftigkeit jäh zerstört. Etwa dreißig Händepaare wanderten langsam in die Höhe. Herbys Augen flitzten hin und her, um ja keine Bewegung zu übersehen. Er winkte die Mitarbeiter aus dem Geschäftsbereich heraus. Wie für diesen Fall verabredet zwang Bruce die Kunden in seiner Nähe, sich flach auf den Boden zu legen.

Das löste eine Art Schneeballeffekt aus. Keine dreißig Sekunden später lagen alle Kunden und Mitarbeiter im Publikumsbereich bäuchlings auf dem Boden. Bis auf einen. Miller. Herby fuchtelte mit dem Lauf seiner Waffe herum, bis Miller sich ganz am Ende des Geschäftsraums eng an die Wand gepresst auf den Boden legte. Weit weg von ihm.

Dann folgte Herby dem Direktor in den Tresorraum und ließ sich den Koffer mit Geldbündeln vollstopfen ...

Der Schweiß strömte ihm über das Gesicht. Es gelang ihm kaum, seine schlotternden Knie zu beruhigen. Miller presste die Stirn gegen die kalte Marmorfliese und zwang sich tief durchzuatmen. Er kniff seine Schließmuskulatur zusammen. Harn- und Stuhldrang waren fast unerträglich. Wenn dieser Albtraum hier nicht schnellstens zu Ende ging, würde er sich zum ersten Mal seit über fünfundzwanzig Jahren mal wieder in die Hosen machen.

Er wusste nicht warum der Bankräuber ihn gezwungen hatte, sich bis zur Wand zurückzuziehen und erst am anderen Ende des Geschäftsraumes zu Boden zu gehen. Hielt er ihn etwa für gefährlich?

"Na klar - weil du versucht hast, den Alarm zu drücken", dachte er, und ihm schoss durch den Kopf, wieso diese Verbrecher auf Bertrand geschossen hatten. "Es sind doch dieselben, oder?" Er hob den Kopf und sah hinter sich in den Raum. Gut zwanzig Leute lagen flach auf dem Boden. Kunden und Kollegen. Nur vorn am Eingang, der maskierte Kerl mit dem blauen Sakko, der stand. Und winkte Kunden herein, die im Eingangsbereich auftauchten. Und zwang sie, sich ebenfalls auf die Marmorfliesen zu legen.

Schritte wurden laut. Am Tresenende, im Durchgang in den Geschäftsbereich erschien der Maskierte in dem dunklen Anzug. Nicht einmal zwei Sekunden lang streiften seine Augen die Gestalt des Bankräubers bevor er sein nasses Gesicht wieder gegen den kalten Marmor presste. Aber in diesem kurzen Moment brannte sich ein Bild in seine Netzhäute ein, dass ihn noch tagelang beschäftigen würde: Die rechte Hand des Maskierten. Sie steckte in einem schwarzen Handschuh. Ihr Ringfinger umklammerte nicht wie der Mittelfinger den Handschutz der Waffe, sondern stand ein wenig steif ab. Und der kleine Finger des Handschuhs hing merkwürdig schlaff herab. Als gäbe es nicht, was ihn füllen konnte ...

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