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Einmal, als sie hinter einem Panzerbataillon weit in das irakische Hinterland vorgestoßen waren, hatte er etwas Ähnliches erlebt: Mit einem kleinen Stoßtrupp war er hinter einem schweren Panzer her auf eine Düne vorgerückt. Eine innere Stimme hatte sich plötzlich gemeldet - "Keine Hektik, Herby, lass deine Jungs sich in den Sand eingraben und den Panzer ohne euch die Düne nehmen."

Herbert Moriga hatte damals nicht lange gezögert. Auf sein Handzeichen war der Stoßtrupp zurückgeblieben. Noch heute sah er manchmal die verblüfften Gesichter seiner Leute vor sich, während sie sich im Sand eingruben und dem Panzer hinterhersahen. Und keine Minute später war eine Panzerabwehrrakete in den stählernen Koloss eingeschlagen ...

Daran dachte Herby als er die Wohnungstür aufschloss. Und es war mehr als nur ein Gedanke. Es war ein grelles Bild aus flimmernder Hitze, heißem Wüstensand, stahlblauem Himmel und einem auseinanderspritzenden Feuerball. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, und die vertraute Stimme in seinem Hirn raunte: "Okay, Herby - mach die Tür wieder zu und hau ab ..."

Er starrte auf den dunklen Türspalt und zögerte. Das Licht im Treppenhaus erlosch. Geräusche von Atemzügen streiften über sein Trommelfell. Atemzüge, die nicht mit dem Rhythmus seiner eigenen übereinstimmten ...

Er zog die Tür zu. Rasch und laut. Den Schlüssel aus dem Schloss, ein Schlag gegen das rote Glühen über dem Klingelknopf rechts neben sich an der Wand des Treppenhauses - Licht flammte auf.

Einen Moment noch lauschte Herby. Seine Augen wurden schmal, seine Kiefermuskulatur pulsierte. Hellwach war er plötzlich.

Er wandte sich von der Tür zu seiner Wohnung ab und machte ein paar Schritte auf den Aufzug zu. Ungeduldig presste er auf den Knopf, aber die Digitalanzeige über der Tür blieb beharrlich auf >Erdgeschoss< stehen.

Herby nahm die Treppe. Stufe für Stufe, immer nach verdächtigen Geräuschen lauschend. Er kam nicht weit.

Der in schwarzes Leder gekleidete Mann, der ihn zwei Etagen weiter unten erwartete, beeindruckte ihn weniger durch die Maschinenpistole in seinen Händen, als viel mehr durch seine kalten, klugen Augen und die Geschmeidigkeit, mit der seine hagere Gestalt ihm entgegenschnellte.

Herbys Tritt war ein Reflex, weiter nichts. Wer zwölf Jahre lang aus beruflichen Gründen die Konfrontation mit dem Tod trainiert und sie drei- oder viermal im Ernstfall durchgestanden hat, der ist schwer zu einem Fehler zu verführen, wenn es drauf ankommt.

Unter der Wucht von Herbys Tritt wirbelte der Angreifer um seine eigene Achse und prallte gegen die Wand des Treppenhauses. Scheppernd polterte die MP auf den Steinboden.

Herby hörte Schritte ein Stockwerk tiefer. Und glaubte einen weiteren Gegner auf seinem Weg aus dem Haus. Nur deswegen drehte er sich um und rannte die Treppe wieder hinauf.

Vor seiner offenen Wohnungstür stellte sich ihm ein zweiter Mann in den Weg - ein bulliger, breitschultriger Typ mit dunklem Haar und in grüner Windjacke. Herby duckte sich unter der Rechten des Mannes weg, und die Hand mit dem Messer sauste zischend über seinen Schädel durch die Luft. Herby rammte ihm sein Knie in den Unterleib.

Ächzend knickte der Mann ein. Herby, der Schritte hinter sich hörte, riss den Körper des Zusammenbrechenden als Schutzschild vor seinen eigenen. Fünf Stufen unter ihm der Fuchs mit der Maschinenpistole. Stumm musterten sich die Männer. Herby legte den Arm um den Hals des Messerstechers und zerrte ihn durch die offene Tür in seine Wohnung. Die Augen des schwarz gekleideten Mannes unten auf der Treppe verfolgten ihn lauernd.

Herby trat die Wohnungstür zu. Dunkelheit umfing ihn. Erleichtert atmete er auf und tastete mit der Rechten nach dem Lichtschalter. Der Schlag traf ihn völlig unerwartet zwischen den Schulterblättern.

Er schrie auf und ging zu Boden. Instinktiv ließ er seine Geisel los und warf sich auf die Seite. Der Boden vibrierte unter dem Schlag, den sein unsichtbarer Gegner mit irgendeinem schweren Gegenstand führte.

Herby wusste nun, dass sie mindestens zu dritt waren. Und er wusste, dass seine Chancen allenfalls fünfundzwanzig zu fünfundsiebzig stand. Vielleicht noch schlechter. Er presste sich an die Wand, hielt den Atem an und lauschte.

Keuchende Atemzüge rechts über ihm, etwa zwei Schritte entfernt. Und direkt vor ihm auf dem Boden. Alle Möglichkeiten, die er hatte, ratterten durch sein Hirn. Vor der Tür scharrten Schritte. "Mach auf, Nick." Ein gedämpfte Stimme.

Herbys Körper spannte sich an. Er zog die Knie zu sich heran und schoss nach oben in die Dunkelheit. Er stieß gegen einen Körper, seine Hände tasteten ein Gesicht, einen Hals - er griff zu und drückte den fremden Gegner von der Wohnungstür weg.

Sie prallten gegen die Wand. Herby hörte das verzweifelte Röcheln des anderen. Ein merkwürdiger Geruch ging ihm aus - Pferdegestank. Herbys Nackenhaare stellten sich auf, als er endlich begriff. Wieder riss er sein Knie hoch, und der fremde Körper sackte zusammen.

Zum Lichtschalter, Licht an - jetzt sah er die beiden Männer. Der nach Pferd stinkende lehnte direkt hinter ihm gegen die Wand und hielt sich röchelnd den Hals - ein großer, stämmiger Mann mit grauen Locken und in blau-kariertem Flanellhemd.

Der andere, der bullige Typ in der grünen Windjacke, lag vor ihm auf dem Boden - drohend richtete er sein Klappmesser gegen Herby und richtete sich langsam auf.

Herby wich dem Stoß aus. Das Messer schabte über die Tapete. Herby sprang über den immer noch röchelnden Grauhaarigen, riss ihn hoch, presste seinen großen Körper als Deckung gegen seinen eigenen - spürte einen harten Gegenstand in seinen Bauch drücken. Eine Waffe! Er riss sie dem Kerl an den Gürtel und presste ihm den Lauf gegen die Schläfe - mit einem Blick erkannte er die klobige .44er Magnum.

"Ein Schritt noch, und ich blas diesem Stück Pferdemist ein Loch in den Schädel", flüsterte Herby keuchend.

Der bullige Kerl verharrte noch Sekunden in Angriffsstellung, sein Messer schwebte in Brusthöhe vor ihm. Herby registrierte, dass der Kerl von ähnlicher Statur war wie er selbst. Und obwohl der Mann keine weißen Schuhe trug, sondern schwarze Turnschuh, wusste er, wen er vor sich hatte.

"Wie zum Teufel konnten diese Scheißkerle uns finden?!" Ihm war klar, dass er Profis vor sich hatte.

Die linke Hand des Messerhelden griff blitzschnell unter dem Messerarm hindurch und drückte die Türklinke herunter. Herby wich bis zur Wand zurück und presste seine Geisel fester an sich. Er verfluchte sich, weil er nicht verhindert hatte, dass nun auch sein dritter Gegner die Wohnung betrat.

Der hagere Bursche mit den Lederklamotten huschte in den Flur und drückte die Tür zu. Als er die Situation überblickte, ließ er den Lauf der Maschinenpistole sinken. Ein Lächeln breitete sich auf seinem schmalen Gesicht aus. Kalt und zynisch.

"Herbert Moriga? Freut mich, Sie noch lebend kennenzulernen ..."

Er ließ sich auf den Boden nieder und legte die MP 5 auf seine überkreuzten Beine. Der mit dem Messer lehnte sich an die Tür. Der Schwarze wies auf ihn. "Das ist Oliver Adams", sagte er, "und der arme Mann, dem Sie da die Pistole ins Hirn bohren wollen, heißt Nick Gordener. Und ich bin Nobel Warren."

Unwillkürlich lockerte Herby den Druck der Magnum gegen die Schläfe seiner Geisel. Die paar Sätze reichten ihm - dazu die Stimme, die Augen: Er wusste, dass er einen ausgekochten Fuchs vor sich hatte.

Warren zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Lederjacke, bot Adams eine an und steckte sich selbst eine Zigarette zwischen die Lippen. "Wir haben Ihren Namen von diesem Ronny." Er schnalzte ein paar mal mit der Zunge, schüttelte den Kopf und sandte Herby einen tadelnden Blick. "Wie kann man mit so einer Lusche zusammenarbeiten?"

Tief sog er den Rauch in sich hinein und blies in in Herbys Richtung heraus. "Guter Kampf, Moriga", nickte er. Herby hatte den Eindruck, dass der anerkennende Unterton echt war. "Ich versteh' was davon. War früher bei der Polizei in Cleveland. In der Sonderabteilung für Banküberfälle." Jetzt grinste er unverhohlen.

Herby empfand ein fast schmerzliches Verlangen nach einer Zigarette.

"Deswegen Kompliment auch für die Idee uns zu kopieren. Kluger Einfall. Ich hab eine Schwäche für kluge Leute." Sie musterten sich lauernd. "Nur haben wir was dagegen, wenn die falsche Spur, mit der irgendein Schlaumeier von sich ablenken will, direkt zu uns führt." Das Grinsen fiel ihm aus dem Gesicht. "Sie werden nachvollziehen können, dass uns das nicht gefallen kann, Mr. Moriga."

Er schnippte die Asche auf den Boden. "Tja, was machen wir jetzt?" Er legte die Rechte auf die MP. "Wir könnten den armen Mr. Gordener opfern." Herby spürte, wie seine Geisel zusammenzuckte. "Gegen uns beide hätten Sie keine Chance, Moriga - das ist Ihnen klar, oder?"

Herby schwieg. Vermutlich würde er mit ein bisschen Glück auch noch einen der beiden anderen erschießen können. Aber dann war er dran. Und selbst, wenn er alle drei erledigen würde - wie wollte er der Polizei die drei Leichen erklären? Ein Gedanke formte sich in seinem Kopf.

"Vertreiben wir uns die Zeit einfach mit einem Spielchen." Warren beugte sich vor und und zog ein abgegriffenes Buch aus der Innentasche seiner Lederjacke. "Ich gebe Ihnen jetzt ein Rätsel. Wenn Sie es lösen, lassen wir Sie laufen." Er begann in dem Buch zu blättern.

"Du bist ein Arsch, Nobel", fauchte Nick Gordener.

Herby merkte, dass auch der bullige Mann an der Tür, Oliver Adams, unwillig die Stirn runzelte. "Lassen Sie den Quatsch, Warren", sagte Herby. "Ich schlag Ihnen einen Deal vor."

Neugierig sahen die beiden Männer ihn an.

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