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"Dr. Diana Westmount", unser Chef wies auf uns, "Mr. Jesse Trevellian und Mr. Milo Tucker. Die Gentlemen sind Special Agents des FBI-Districts New York."
In ihren großen, braunen Augen meinte ich ein kurzes Flackern zu sehen. Sonst deutete nichts daraufhin, dass sie mich wiedererkannte. Doch ich war sicher, dass sie es tat. Einen Menschen, dessen Gesicht man noch am Tag zuvor im Flugzeug betrachtet hatte, vergaß man nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden.
Höflich, wie man beim FBI nun mal war, standen wir auf und drückten der Lady die Hand. Milo strahlte wie ein Honigkuchenpferd. "Hallo, Mrs. Westmount - freut mich sehr, Sie kennenzulernen", sagte er. Ich sagte gar nichts.
"Mrs. Westmount ist Psychiaterin. Sie arbeitet auf Honorarbasis häufig für die City Police in Los Angeles und für unser District Office dort und hat seit einiger Zeit eine freie Praxis hier in New York."
Er sah sie fragend an und sie nickte. "Ihr Spezialgebiet ist die Erstellung von Täterprofilen." Wieder wandte er sich der Frau zu. "Bei Serienmorden an der Westküste arbeiten Sie eng mit unseren Spezialisten in Quantico zusammen, nicht wahr, Mrs. Westmount?"
In Quantico, unserem Ausbildungszentrum in Virginia, saß eine Spezialeinheit, die überall in den Staaten konsultiert wurde, wenn es um Serienmorde ging. Wir in New York hatten auch schon mit diesen Cracks zusammengearbeitet.
"Ich bin dankbar für Ihre Mitarbeit, Mrs. Westmount. Wir sind an einer möglichst raschen Aufklärung des Falles interessiert", die Miene unseres Chefs wurde ziemlich ernst. "Sie wissen ja, Gentlemen, wie empfindlich die Öffentlichkeit auf solche Morde reagiert."
Wieder wandte er sich der Frau zu. "Ich war gerade dabei, den Stand der Ermittlungen zusammenzufassen, Mrs. Westmount", sagte der Chef und fing noch einmal von vorn an.
Die Frau hörte schweigend zu. Sie wirkte auf mich distanziert - nicht direkt kühl, aber doch so, als hätte sie eine starke Festungsmauer um sich errichtet. Das Flattern unter meinem Zwerchfell machte sich wieder bemerkbar.
"Es spricht manches dafür, dass mehr als nur ein Täter für diese vier Morde in Betracht kommen. Die City Police ging jedenfalls noch bis zum Samstagabend von mindestens zwei Fällen aus. Vor allem wegen der unterschiedlichen Todesarten, und weil die ersten beiden Opfer keinerlei Spuren von Misshandlungen aufwiesen. Aber bei der Leiche von Terry Anderson fand unsere Spurensicherung das hier."
Wieder hob der SAC das Foto von der Faser in dem Plastikbeutel hoch. "Sie können es selbstverständlich noch heute untersuchen", sagte er an die Ärztin gewandt. "Die Originalbeweisstücke werden im Laufe des Nachmittags von der City Police hierhergebracht. Es ist die Faser einer Bastmatte. Die Spurensicherung fand sie im Mund von Anderson. Und eine Faser von exakt demselben Material wurde im Haar des jungen Mannes sichergestellt, den eine Pfadfindergruppe in New Jersey gefunden hat."
"Damit scheinen mindestens zwei der Jungs von demselben Täter ermordet worden zu sein", sagte ich.
"Und da der eine in New Jersey und der andere in New York gefunden wurde, werden wir um den Fall nicht herumkommen", stellte Milo fest. Er schien nicht besonders glücklich darüber.
"Ich schlage vor, wir vertiefen uns erst einmal in die bisherigen Ermittlungsergebnisse und statten dann der Familie Anderson einen Besuch ab", sagte ich.
"Tun Sie das, Jesse und Milo", der Chef schob die Akten auf dem Tisch zusammen. "Wir werden die Unterlagen für Sie kopieren, Mrs. Westmount. Was brauchen Sie sonst noch für Unterstützung, um an Ihre Arbeit gehen zu können?"
Die Frau hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen. Schweigend und hellwach hatte sie sich angehört, was der Chef zu sagen hatte. Und sie hatte uns beobachtet.
Jetzt überlegte sie einen Augenblick und sagte dann: "Ich will die Leichen sehen, ich will, dass mich jemand an die Fundorte fährt, und ich will mit Mr. Trevellian und Mr. Tucker zusammen die Familie des letzten Opfers besuchen. Auch die Hinterbliebenen der anderen drei Toten will ich kennenlernen. Ich muss alles über die Opfer wissen."
Milo und ich warfen uns einen kurzen Blick zu. Ich war ziemlich sicher, dass der Lady dies nicht entgangen war. Doch sie reagierte nicht darauf. Es schien ihr egal zu sein, was wir von ihren Forderungen hielten.
"Einverstanden, Mrs. Westmount", der Chef wandte sich an mich, "Jesse - Sie kümmern sich bitte darum, dass Mrs. Westmount alle Bedingungen erfüllt bekommt, die sie für ihre Arbeit braucht."
"Kein Problem, Sir."
Wir engagierten einen unserer Männer, der die Psychiaterin in die Pathologie und zu den Fundorten der Leichen fuhr.
Später brüteten wir in unserem Büro im sechsundzwanzigsten Stock der Federal Plaza über den Ermittlungsergebnissen der City Police.
"Hast du schon einmal jemanden erlebt, der eine halbe Stunde überhaupt nichts redet und dann innerhalb von zwei Sekunden viermal >Ich will< sagt?", fragte Milo.
"Nein, mein Freund", sagte ich, "zumindest kann ich mich nicht erinnern. Abgesehen natürlich von meinem geschätzten Partner, dem Special-Agent Milo Tucker", grinste ich, "wenn sich auf dessen Schreibtisch zu erledigende Berichte und Protokolle türmen, sagt er mindestens zehnmal >ich will<."
">Ich will nicht<, sage ich dann", protestierte Milo.
"Ach ja ...?"