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>Closed<, verkündete das Schild in der Glastür des kleinen Schuhgeschäftes. Wir wandten uns der Hofdurchfahrt des kasernenartigen Gebäudekomplexes zu. Die ehemals roten Backsteinwände waren mit Graffitis bedeckt, auf dem Bürgersteig, zwischen einem Hydranten und einer verrosteten Waschmaschine, stapelte sich ein Berg Pappe, Kinder aller Hautfarben und Schuhgrößen, rannten grölend quer über die Straße einem Ball hinterher.

Schön war sie nicht, diese Gegend in Stuyvesant Town, und besonders sicher auch nicht. Aber irgendwie interessant.

Mit dem Finger fuhr Milo über die Batterie von Klingelschildern. Endlich drückte er den Knopf neben dem Namen >Anderson<. Die Haustür war auf, Milo ging voran und ich ließ Diana Westmount den Vortritt.

Die Lady hatte den ganzen gestrigen Tag damit zugebracht, die Ermittlungsprotokolle zu studieren, die Fundorte der Leichen zu besichtigen und die Berichte der Pathologen zu lesen. Und so blass, wie sie aussah, auch die halbe Nacht. Bis jetzt hüllte sie sich in Schweigen, was ihre Theorie über den Täter betraf.

Ein hagerer Mann in dunklem Jackett empfing uns an der offenen Wohnungstür. "Mr. Anderson?", frage Milo. Der Mann nickte. "FBI", Milo zückte seine Dienstmarke. Der Blick des Mannes wurde noch finsterer, aber er ließ uns in die Wohnung.

Seine Frau hockte zusammengesunken auf einem Sessel vor dem Fenster. Ihr schlaffer Händedruck und die Monotonie ihrer schwachen Stimme verrieten mir ihren seelischen Zustand: Sie war schwer depressiv. Kaum ein Wort kam über ihre Lippen während unseres Besuches.

"Es ist verdammt schwer für Sie", begann ich, "wir können mit Ihnen fühlen, glauben Sie mir, und wir werden alles tun, um den Mörder zu finden."

Diese Begegnungen mit den Hinterbliebenen von Mordopfern gehörte für mich zu den dunkelsten Seiten meines Jobs. Manchmal wünschte ich mir ein Stück von der Abgebrühtheit der Kollegen aus der Gerichtsmedizin, die sich auch von noch so grässlich zugerichteten Leichen den Appetit nicht verderben ließen. Aber vielleicht ist der tägliche Umgang mit Toten noch leichter zu verkraften, als der mit ihren verzweifelten oder hasserfüllten Angehörigen.

"Dazu brauchen wir Ihre Hilfe", Diana setzte sich unaufgefordert auf die schlichte Couch vor einen niedrigen Tisch und packte ein großes Notizbuch aus. "Bitte erzählen Sie mir alles über Ihren Sohn."

Stockend begann der Mann zu erzählen. Seine gepresste Stimme und seine angespannten Gesichtszüge sprachen Bände: Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dem Mörder seines Sohnes eigenhändig den Hals herumzudrehen.

Durch die geschickten Nachfragen der Psychiaterin wurde er immer redseliger. Auch sein Hass machte sich Luft. So erfuhren wir nicht nur, dass Terry Anderson ein völlig unauffälliger, siebzehnjähriger, amerikanischer Junge gewesen war, sondern auch die Ansicht seines Vaters über den Mörder.

"Sie vergeuden Ihre Zeit, wenn Sie unsere Nachbarn und jeden seiner Freunde verhören!", bellte er. "Das war einer dieser Rassenfanatiker, glauben Sie mir. Vier Schwarze! Das ist doch kein Zufall! Erinnert Sie das etwa nicht an den wahnsinnigen GI der vor neun Jahren in Brooklyn und Queens unsere Leute abstach?"

Ich erinnerte mich an den Fall. Fünf schwarze Männer und Frauen hatte der Marine damals ermordet, bevor wir ihn fassen konnten. Und sein Motiv war tatsächlich weiter nichts als stupider Rassismus gewesen.

"Wir gehen jeder Spur nach, Mr. Anderson", Diana sprach sachlich und ohne spürbare Emotionen. "Bis jetzt deutet nichts auf einen rassistischen Hintergrund der Morde hin." Ihre großen, dunklen Augen hielten dem Blick des Mannes stand, bis er den Kopf senkte.

"Das kennt man doch, wie ihr jeder Spur nachgeht. Deswegen laufen ja so viele Mörder frei herum", brummte er feindselig.

"Hören Sie, Mr. Anderson, ich versteh' Ihre Verzweiflung", sagte ich, "aber bitte versuchen Sie, uns zu vertrauen."

Unsere Spezialistin schrieb ihre Notizen nieder. Andersons Misstrauen schien sie kalt zu lassen. Sie spielte ganz die coole Wissenschaftlerin. Aber irgendetwas an ihr sprach eine andere Sprache. Etwas, dass mit ihrer auch heute wieder schwarzen Kleidung zu tun hatte, und mit ihren Augen. Manchmal schien mir darin die Unruhe eines gehetzten Rehs aufzuflackern.

Intuitiv erfasste ich, dass hinter ihrer Fassade ein Vulkan brodelte. Und mir war klar, dass meine innere Stimme keine Ruhe geben würde, bis ich einen Blick hinter diese Fassade getan haben würde.

"Ich will das Zimmer Ihres Sohnes sehen", sagte sie und stand auf.

Seufzend und widerwillig ging der Mann voran in den Flur und öffnete die Zimmertür gleich neben dem Wohnungseingang.

Das Zimmer war typisch für einen Jungen in Terrys Alter: Baseballschläger und drei Paar Turnschuhe in der Ecke neben dem Fenster, ein paar Bücher über dem Schreibtisch mit Schulheften, Walkman und PC, an den Wänden Poster von schwarzen Bands und Basketballstars, und direkt neben dem Schreibtisch eine überdimensionale Stereoanlage. Auffällig war die Ordnung in dem Raum.

"Haben Sie hier aufgeräumt?", wollte Milo wissen.

"Nein", die Stimme des Mannes klang plötzlich belegt, und ich wandte mich nach ihm um. Er hielt die Türklinke so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel sich hell unter der schwarzen Haut abzeichneten. Obwohl er auf den Boden starrte, sah ich die feuchte Spur zwischen seinen Bartstoppeln. "Seit Terry ...", er stockte, "... seit er nicht mehr da ist, stand ich nur einmal hier an der Tür. Als die Polizei bei uns war und das Zimmer sehen wollte ..."

Milo und ich sahen uns betroffen an. Die Lady kramte unter den Heften und Büchern auf dem Schreibtisch herum. "Er schien ein ordentlicher Junge gewesen zu sein."

"Ja, ein sehr ordentlicher Junge", der Mann flüsterte nur noch. Milo legte mitfühlend die Hand auf seine Schulter. Die Situation schien ihm genauso unter die Haut zu gehen wie mir.

Wir sahen uns in dem Zimmer um. An der Wand über der Stereoanlage hing die Seite einer Zeitschrift. Ich schaute genauer hin - ein Gedicht war darauf abgedruckt. Das passte nicht zu dem Gesamteindruck, den ich von dem Zimmer hatte.

Der Vater bemerkte meine Neugierde. "Das ist aus der Schülerzeitung der Armstrong-Highschool", erklärte er leise, "Sein Freund schreibt regelmäßig für das Blatt."

"Wie heißt er?", erkundigte Diana sich.

"Sidney Lewis. Versponnener Bursche. Ein Möchtegern-Dichter."

"Dafür macht er seine Sache aber ziemlich gut", bemerkte ich anerkennend.

Hinter mir war Milo mit der Schuhspitze an etwas gestoßen, das unter dem Bett lag. Er bückte sich und zog einen Stapel Comics hervor. "Er las nur solches Zeug", der Vater starrte abwesend auf die Hefte, die Milo nacheinander vom Stapel nahm und flüchtig durchsah. Plötzlich merkte ich, wie er stutzte.

"Und so etwas auch?" Er hielt eine Zeitschrift hoch.

Die schwarze Stirn des trauernden Mannes legte sich in Falten. "Was ist das?"

"Ein Pornoheft", sagte Milo trocken. "Lassen Sie sich davon nicht erschüttern. Ich hatte in dem Alter auch solches Zeug unter dem Bett versteckt." Milo fand noch mehr Magazine dieser Machart, lauter Zeug, was es im freien Handel nicht zu kaufen gibt.

Ich sah mir eines der Hefte an: Stumpfsinniger Pornomist der übelsten Sorte. Schulen gehörten nun einmal zum Markt für diesen Schund. Vielleicht eine Spur. "Wahrscheinlich wissen Sie nicht, woher er das hat", ich sah ihn fragend an. Der Mann schüttelte entrüstet den Kopf. "Wir nehmen die Hefte einfach mal mit, vielleicht finden wir es raus."

Diana ließ sich Fotos des Jungen zeigen, schrieb Namen und Telefonnummern von Freuden und Bekannten auf und versuchte mit hartnäckiger Geduld einen Terminplan der letzten zehn Lebenstage des Jungen aus den Eltern herauszuquetschen.

"Wir nehmen uns mal Terrys engste Freunde vor", schlug Milo auf der Rückfahrt vor. Ich nickte. "Sie wollen vermutlich noch die Familien der anderen drei Opfer sprechen?"

"Ja", sagte Diana und blickte scheinbar teilnahmslos auf die vorbeiziehenden Straßenzüge von Stuyvesant Town. "Der Kollege, den Sie mir freundlicherweise zugeteilt haben, hat Termine für mich vereinbart. Wir treffen uns um zwölf an der Federal Plaza."

Im Rückspiegel unseres Dienstwagens - ich saß im Fond - sah ich, dass Milo Blickkontakt mit mir suchte. Offensichtlich hielt er es auch nicht für den Gipfel lockeren Betriebsklimas, was nach dem ersten gemeinsamen Dienstvormittag zwischen der herben Schönheit in Schwarz und uns herrschte.

"Was halten Sie davon, wenn wir heute Abend essen gehen, Diana", ich rutschte ein wenig nach rechts, um im Rückspiegel die Reaktion auf ihrem Gesicht beobachten zu können. "Wir drei, dann können wir uns ein wenig beschnuppern." Für einen Augenblick flackerte wieder dieser eigenartige, gehetzte Ausdruck in ihren Augen auf. Und dann huschte tatsächlich ein Lächeln über ihre Züge.

Milo musste es aus den Augenwinkeln bemerkt haben - er grinste charmant und wirkte plötzlich ein ganzes Stück entspannter. "Das wäre doch ein guter Start für unsere Zusammenarbeit."

"Warum nicht?" Sie drehte sich sogar zu mir um bei ihrer Antwort. "Nur heute Abend geht es nicht. Ich muss mich mit den Unterlagen über die Morde und mit meinen Eindrücken von den Hinterbliebenen einschließen und ein paar Stunden meditieren. Ihr Chef erwartet bis morgen das Täterprofil von mir."

"Aber dann morgen", sagte Milo mit einem Unterton, der keinen Widerspruch zuließ. "Abgemacht?"

"Abgemacht!"

Zufrieden lehnte ich mich zurück in die Sitzpolster. Der Eisberg hatte zumindest Bereitschaft zum Auftauen signalisiert.

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