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"Hör mal, Kleiner", Clearence stellte sein Bike mit der großen Warenbox auf dem Gepäckträger neben die offenen Tür der Werkstatt an die Backsteinmauer. Die niedrige Lagerhalle des ehemaligen Bestattungsunternehmens lag im Hinterhof eines vorwiegend von Schwarzen bewohnten Wohnblocks in Stuyvesant Town. "Ich hab' ne verflucht wichtige Verabredung und noch mindestens fünfzehn Meilen Lower East Side vor mir. Ich zahl dir drei Zehner."
Geoffrey, in blauem, schmierigen Overall über nacktem Oberkörper, stand neben einem Citroen aus den frühen siebziger Jahren. Fragend blickte er zu seinem Bruder herunter, dessen kantiger Schädel neben dem rechten Vorderrad des Wagens auftauchte.
"Von mir aus", sagte Jerome, "das Getriebe ist drin, den Rest schaff' ich allein."
"Okay", Geoffrey entblößte sein tadelloses Gebiss. "Fünfzig Bucks", grinste er.
"Halsabschneider", Clearence drückte seinem Cousin zwei Zwanzigdollarnoten in die öligen Hände. "Vierzig. Aber wasch dich vorher und zieh was Vernünftiges an!" Geoffrey ließ die Scheine im Brustlatz seines Overalls verschwinden und lief quer über den Hof auf eine offen stehende Tür zu, die zu einer Parterrewohnung führte.
"Kann ich einen Wagen nehmen?" Clearence ließ seinen Blick prüfend über die acht Fahrzeuge wandern, die in dem geräumigen Hof geparkt waren.
"Aber keinen Kundenwagen", wieder tauchte Jeromes Gesicht unter dem Auto auf. "Nimm den Mitsubishi aus Detroit", mit dem Schraubenschlüssel deutete er in den Hof auf den Kombi. "Ich hab ihn umgespritzt. Aber vergiss bloß nicht ein Nummernschild dranzuschrauben! Weißt ja, wo die sind."
Ein paar Minuten später hockte Clearence vor dem Heck des nun blauen Mitsubishis und befestigte eines der gefälschten Kennzeichen aus Jeromes umfangreichen Pool. Geoffrey lief aus der Wohnung zum Fahrrad. Prüfend begutachtete Clearence den Jüngeren: Er trug schwarze, Leggins und ein oranges Muskelshirt. "Setzt den Helm auf, Kleiner, und vergiss den Rucksack nicht!"
"Okay!" Geoffrey schnallte sich den großen Rucksack auf die Schulter, warf einen Blick auf den Streckenplan, der in einer Kladde auf der Lenkstange klemmte und schwang sich dann auf das Rad. "Bye!"
"Fahr zuerst zu dem Laborarzt in der Delancey Street - der wartet schon!", rief Clearence ihm hinterher. Geoffrey winkte zur Bestätigung und verschwand aus dem Blickfeld des anderen.
Mehrmals im Monat kam es vor, dass sein älterer Cousin wichtige Verabredungen hatte. Manchmal mit Frauen, meistens mit Kleindealern in Stuyvesant und den benachbarten Vierteln, die er belieferte. Geoffrey sprang dann immer für ihn ein. Eine willkommene Abwechslung. Abgesehen von der Kohle, die er sich auf diese Weise dazu verdiente.
Mit atemberaubender Geschwindigkeit schlängelte er sich durch den Nachmittagsverkehr. Er kannte sämtliche Schleichwege, und auch wenn er die Schaltphasen der Ampeln nicht annähernd so exakt gespeichert hatte, wie Clearence, war er doch fast so schnell wie der Profi.
Nachdem er den Laborarzt und drei weitere Kunden beliefert hatte, setzte er sich in den Kopf, fünfzehn Dollar die Stunde zu machen. Er brauchte fast die halbe Ave A hinauf, bis er ausgerechnet hatte, wie viel Zeit ihm noch blieb, Rucksack und Aluminiumbox zu leeren. "Bisschen mehr, als zwei Stunden", murmelte er, als er am Tompkins Square links in die East 9th Street abbog.
Das, was Geoffrey nicht im Kopf hatte, hatte er in den Beinen und den Armen. Und in den Fingern, nicht zu vergessen - selbst sein älterer Bruder bewunderte regelmäßig die Schnelligkeit, mit der er Autos zu knacken verstand.
Die Adresse, in der neunten Straße, wo er ein großes, aber leichtes Päckchen abzugeben hatte, war nicht unbedingt vom Feinsten. Das störte Geoffrey weniger. Stutzig machte ihn allerdings die Erinnerung daran, dass die alte Textilfabrik schon vor sechs oder sieben Jahren dicht gemacht hatte. Das wusste er zufällig genau, denn seine Tante - Clearence' Mutter - hatte hier gearbeitet.
"Wer zum Teufel, schickt ein Päckchen in eine leer stehende Fabrik?" Misstrauisch musterte er das Etikett mit dem Absender - >H. Atred< und dann ein Postfach in Los Angeles. Außer dem Namen nichts Außergewöhnliches. Clearence arbeitet mit einem Paketdienst zusammen, der Sendungen aus allen Staaten beförderte. Der Adressat hieß Y. Blackman. "Komische Namen", grinste Geoffrey und zog das leichte Fahrrad die vier Stufen zur nur angelehnten Eingangstür.
Tatsächlich klebte ein Fetzen Papier an der Wand - >Y. Blackman<. "Wahrscheinlich hat sich ein Obdachloser oder ein Künstler in den ehemaligen Büroräumen eingenistet", dachte Geoffrey, drückte die Tür auf und zog das Bike an sich vorbei in einen dämmrigen Gang. Mit dem Fuß drückte er den Ständer hinunter. Dann sah er in die lange Zimmerflucht hinein.
"Hi, Mr. Blackman?", rief er. Lauter als gewöhnlich, doch seine Beklommenheit ließ sich dadurch nicht vertreiben. Langsam pirschte er sich an den alten Bürotüren vorbei, deren Zimmernummern noch rechts daneben auf Schildern an die Wand geschraubt waren.
"Hallo!?" Noch lauter rief Geoffrey, denn einer der unzähligen Gruselfilme war ihm eingefallen, die er mit Clearence zusammen gesehen hatte. In einem ging Steven McHattie als Hauptdarsteller einen ähnlich tristen Gang in einem ähnlich abgefuckten Gebäude entlang - und knallte plötzlich durch den Boden in ein Verlies. Geradewegs vor den Rasiermesserrachen eines Alligators.
Unwillkürlich blieb Geoffrey stehen und tastete mit den Fußspitzen den Boden vor sich ab. Dann hörte er die Musik. Sie kam aus irgendeinem Zimmer am Ende des Gangs. Irgend so ein Softy-Teil von Clapton, auf die keiner in Geoffreys Kreisen mehr abfuhr. Von Clearence vielleicht abgesehen. Aber der hatte sowieso einen schrägen Geschmack.
Die Züge des schwarzen Sunnyboys entspannten sich. Mit federndem Schritt ging er der Musikquelle entgegen. Auch die Tür, hinter der sie sich befand, war nur angelehnt. Geoffrey drückte sie auf. "Hi, Mr. Blackman, hab' hier ein Päckchen für ..."
Der Raum war verstaubt und vollkommen kahl. Bis auf eine tragbaren Minianlage, die mitten im Zimmer auf dem Linoleum stand. Aus ihr krächzte Claptons Stimme. Geoffrey konnte keinen Netzanschluss erkennen.
Ein scharrendes Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Die Augen in dem verhüllten Gesicht, das plötzlich drei Schritte rechts neben ihm auftauchte, nahm er nur flüchtig wahr. Das schwarze Metallrohr einen knappen Meter unter dem Gesicht fesselte seine ganze Aufmerksamkeit.
Noch während seine Schenkel sich anspannten, um kehrt zu machen und zu flüchten, und noch bevor sein fröstelndes Hirn das Wort >Schalldämpfer< formuliert hatte, spuckte das Rohr glühendes Blei großen Kalibers. Drei-, vier-, fünfmal spuckte es, und jedes Mal floppte es metallen, und jedes Mal schlug die Glut hart und stechend in Geoffreys Oberschenkel und vor allem zwischen seinen Beinen ein.
Er krümmte sich entsetzt zusammen, die Luft blieb ihm weg und die Wucht des dritten Treffers fegte ihn um. Etwas traf ihn hart an der Schläfe, aber das spürte er kaum noch. Von der Schlinge, die sich kurz darauf um seinen Hals legte, bekam er rein gar nichts mehr mit ...