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Der Ober, ein kleiner schnauzbärtiger Sizilianer, brachte uns die Karten. Wir suchten aus und bestellten. Die Zeit, bis unsere Mahlzeiten kamen, vertrieben wir uns mit den Unterlagen über die Serienmorde.
"Wenn er die Übertragung der Pressekonferenz nicht im Fernsehen verfolgt hat, kann er morgen in allen New Yorker Blättern lesen, wie wir ihn uns vorstellen", sagte Milo, "und dann wird er sich sehr zurückhalten." Er wandte sich mit skeptisch hochgezogenen Brauen an die Lady in Black. "Vorausgesetzt, Ihr Täterprofil ist mehr als nur Dichtung, Diana."
"Das ist es, Milo", sie holte eine Packung Benson&Hedges aus ihrer kleinen Umhängetasche, die nicht größer als eine überdimensionale Geldbörse war. "Verlassen Sie sich darauf."
"Verzeihen Sie, Diana", ich gab ihr Feuer. "Ich bin zwar sehr beeindruckt von Ihrer Arbeit - aber manches kann ich rein logisch nicht nachvollziehen. Zum Beispiel Ihre These, der Mann hätte einen körperlichen Mangel."
"Er ist fett und aufgequollen wie eine Dampfnudel, glauben Sie mir." Sie lachte mich an, und mir wurde warm im Bauch. "Mit Logik hat das nicht immer etwas zu tun, wissen Sie? Ich verlasse mich auf meine Intuition. Die wird zum Teil von Erfahrung gespeist. Aber nicht nur. Ich schließe mich mit allen Fotos und Unterlagen in ein Zimmer ein und brüte stundenlang, bis ich eine Vision habe. Vor allem versuche ich, die Opfer mit den Augen des Killers zu sehen - wie müsste ich sein, um solche Jungs zu jagen?"
">Zu jagen<", sagte Milo gedehnt und blickte flehend zu Decke. "Heiliger Petrus! Das klingt ja, als wäre der Schritt auf die andere Seite nicht mehr sehr groß."
Der Kellner brachte die Getränke. Diana trank Cola, Milo und ich genehmigten uns ein Budweiser.
"Mit diesem Berufsrisiko müssen Sie doch auch leben!", sagte Diana energisch. "Ohne zumindest den gedanklichen Schritt auf die andere Seite des Gesetzes kann man doch keinen Fall lösen und schon gar kein Täterprofil erstellen! Nur weil ich mich in die Haut des Killers versetze, kann ich ziemlich sicher sein, dass er am Montag in die Armstrong-School zu dem Hearing kommen wird. Er genießt es, endlich mal im Mittelpunkt zu stehen. Und vor allem: Er ist aufgescheucht und will so viel wie möglich über den Stand der Ermittlungen erfahren."
Die Frau redete so viel, wie in den letzten drei Tagen zusammen nicht. Diese Gelegenheit wollte ich mir nicht entgehen lassen. "Wie kommt eine schöne, sensible Frau wie Sie zu so einem Job, Diana?"
Über ihren schmalen Hals breitete sich ein rötlicher Fleck aus. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass die feinen Härchen auf ihrem Nacken blond waren. Sie hatte sich also die Haare gefärbt.
Diese merkwürdige Scheu trat plötzlich wieder in ihre dunklen Augen. Aber nur für einen Moment. Dann deutete sie ein Lächeln an. "Danke, Jesse", sagte sie leise und senkte den Blick. Eine kurze Pause entstand, in der ich einen anerkennenden Blick meines Partners auffing.
"Ich bin von Haus aus Medizinerin", fuhr sie mit lauterer Stimme fort, "Fachärztin für Psychiatrie, um es genau zu sagen. Die Arbeit der Polizei interessierte mich schon immer. Mein Vater war Oberst bei der Militärpolizei. Persönliche Erfahrungen waren schuld, dass ich irgendwann damit ernst gemacht habe."
Ihr plötzlich etwas dunklerer und steiferer Tonfall machte mir klar, dass diese Erfahrungen nicht zu den besten ihres Lebens gehören konnten. Und dass sie vor allem nicht nach diesen Erfahrungen gefragt werden wollte.
"Tja - und dann kamen gerichtsmedizinische Gutachten, Kurse in Quantico und erste Erfahrungen bei Ihren Kollegen in L.A. Und die haben mich letzte Woche dann auch gebeten, Ihnen ein wenig unter die Arme zu greifen."
"Eine ausgezeichnete Idee", grinste Milo, "oder was meinst du Jesse?"
"Oh ja", ich grub mein charmantestes Lächeln aus. "Ihre Mitarbeit ist nicht nur sehr hilfreich, Diana, sondern auch sehr angenehm. Dem Blick meines Partners entnahm ich, dass er zufrieden mit mir war.
"Danke, Jesse", wieder die leise, weiche Stimme, die so gar nicht zu der kühlen Wissenschaftlerin passen wollte, die ich in den letzten Tagen erlebt hatte. Unter dem harten Panzer der distanzierten Analytikerin lebte also auch ein Frau. Eine empfindsame und liebesbedürftige Frau. Ich war zu ihr durchgestoßen, und der Vogelschwarm unter meinem Zwerchfell freute sich.
"Sie haben eine Praxis hier in New York?", erkundigte Milo sich neugierig.
"Ja, seit knapp zwei Jahren - in Stuyvesant Town."
Milo machte große Augen. "Da haben Sie sich ja nicht unbedingt die nobelste Gegend ausgesucht!"
"Richtig", bestätigte sie knapp, "aber was ich an New York besonders liebe, ist das Völkergemisch. Und davon bin ich in diesem Stadtteil praktisch umgeben. Außerdem halte ich dieses Viertel für eines der lebendigsten im Big Apple."
"Da könnten Sie recht haben, Diana", ich dachte an die vielen Fälle, die mich im Laufe der vergangenen Jahre in die Gegend zwischen Tompkins Square und den Levy Park am East River geführt hatten. "Allerdings gehört das Viertel auch zu den Tödlichsten."
"Leben und Tod gehören enger zusammen, als wir wahrhaben wollen, Special Agent, oder?"
Die plötzliche Ironie in ihrer Stimme irritierte mich. Zu ihrer These fiel mir zunächst nichts ein. "Manchmal zu eng", konnte ich nur noch sagen. Der zweite Teil meines Satzes erstickte sozusagen zwischen einem dampfenden Teller Rigatoni al Forno und einer Pizza Frutti di Mare, die der Kellner auf den Tisch knallte.
Ich wollte bemerken, dass es zu meinem Job gehört, den von gewissen Menschen mit gewissen Werkzeugen hergestellten Zusammenhang zwischen Leben und Tod zu bekämpfen. Aber dieses Bekenntnis hätte angesichts des Essen wohl kaum noch Interesse gefunden.
Während wir noch auf meine Portion warteten, verschlang Milo seine riesige Pizza bereits mit den Augen, und als endlich meine Tortellini Panna herbeischwebte, lasteten genug Argumente auf dem Tisch, um die Philosophie vorübergehend entbehrlich scheinen zu lassen.
Während des Essens quetschte die Lady uns aus, und wir schilderten ihr unser Single-Dasein in den buntesten Farben. Von unserer Firma zu schwärmen, überließ ich Milo. Das konnte er besser als ich. Obwohl ich nie weniger stolz auf unser District Office gewesen bin als er.
"Sie sollten zur PR-Abteilung wechseln", lachte Diana. Milo und ich wechselten zufriedene Blicke: Der Eisberg schmolz dahin, als hätte ihn der Golfstrom entführt.
Nach dem Essen blieben wir noch für eine halbe Stunde auf einen Espresso. Und dann setzte ich alles auf eine Karte: "Wohin darf ich Sie bringen, Diana - zur Federal Plaza oder in ihre Wohnung nach Stuyvesant?"
"Nach Hause, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Jesse."
"Fahren Sie lieber mit mir, Diana", Milo konnte es mal wieder nicht unterlassen, sich einzumischen. "Dieser Bulle fährt einen sexistischen Wagen - einen Sportwagen E!"
"Na herrlich", Diana stand auf, "ich liebe solche schnellen Flitzer!"
Die Genugtuung verschloss mir die Lippen. Milo machte ein verdutztes Gesicht. "Aber Diana! Darf ich Sie daran erinnern, was Sie gestern über den Zusammenhang von PS-starken Autos und..."
"Special Agent Tucker!" Sie sah ihn an, wie eine Lehrerin einen Schuljungen, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. "Das bezog sich auf Serienmörder!"
Das Wort >Serienmörder< betonte sie so stark, dass an einigen Tischen Köpfe herumfuhren und Leute zu uns herübersahen. Ich nickte ihnen freundlich zu. Nach diesem ersten Etappensieg konnte mich nichts mehr erschüttern.
"Haben Sie keine Angst, wenn Sie abends nach Hause gehen?", fragte ich sie unterwegs. Allein als Frau, in diesem Viertel?"
"Ich habe eine Kampfsportausbildung absolviert, Jesse." Ein merkwürdiger Unterton lag plötzlich in ihrer Stimme. Als würde sie bedauern, was sie gerade erzählte. "Und ich bin gut bewaffnet."
Außer der kleinen Tasche, hatte ich nichts an ihr entdeckt, worin man eine Waffe unterbringen konnte. Aber die kantigen Ausbuchtungen im schwarzen Stoff der Tasche waren mir schon im >Carmine's< aufgefallen.
Während wir uns der East Village näherten, überschlug ich den Plan für mein Abendprogramm. Die Borduhr zeigte 20.30 Uhr. Milo und ich wollten noch zwei Verhöre durchführen. Die waren glücklicherweise erst für elf Uhr angesetzt, weil die Betreffenden bis in den späten Abend hinein berufstätig waren. Dann wollte ich noch ein paar Stunden mithelfen den Computer mit Daten zu füttern. Aber eine Stunde musste drin sein. Eine Stunde, in der Diana mir ihre Wohnung und ihre Praxis zeigen konnte. Und hoffentlich noch ein wenig mehr ...
Sie wohnte in einem Straßenzug mit Reihenhäusern, die sogar etwas Heimeliges an sich hatten. Jedenfalls war dieses Wohngebiet weit entfernt von der Verkommenheit anderer Straßenzeilen, die ich in Stuyvesant Town kennengelernt hatte.
Auf der Straße spielten Kinder und Jugendliche. Vor allem Latinos und Asiaten. Auch ein paar Weiße, aber keine Schwarzen.
Wie selbstverständlich legte ich den Arm um sie, als wir vom Wagen zum Haus gingen, in dem sie wohnte. Und sie schmiegte ihren schmalen Kopf an meine Schulter. Und kurz darauf konnte ich mich mal wieder von der Richtigkeit einer meiner aufregendsten Lebensweisheiten überzeugen. Nämlich von der, das jede Frau anders küsst. Und Dianas Art zu küssen hatte etwas ungeheuer Zartes und Verheißungsvolles.
Deswegen dachte ich mir auch nichts dabei, als ich mit ihr die drei Stufen zum Eingang ihrer Haushälfte hochging. Sie schon. Sie schaute mich an und schüttelte den Kopf. "Stell mir keine Fragen, Jesse. Aber es geht nicht." Sie drehte sich um, und ohne ein weiteres Wort zu verlieren verschwand sie hinter der Haustür.
Ich trottete frustriert zu meinem Schlitten zurück. Aber nun gut - es kann nicht immer gleich der erste Angriff über die gegnerische Grundlinie führen. Wenigsten blieb mir das Gefühl, dass ihr dieser Korb nicht leicht gefallen war.
In der Tasche meines Jacketts vibrierte das Handy. Milos Stimme meldete sich. "Ich dachte, ich ruf' an, bevor ihr in die Horizontale geht", sagte er, "du musst nämlich sofort wieder in deine Klamotten steigen - der Killer hat erneut zugeschlagen. Die Leiche liegt ganz in deiner Nähe ..."
Ich ließ mir die Adresse geben, machte kehrt und klingelte bei Diana.