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Zuerst flog Mike Borran nach Berlin-Schönefeld. Er hatte einen Pass in der Tasche, der ihn als Ingenieur einer optischen Firma auswies. Am nächsten Vormittag landete er in Prag. Er war ohne alle Beanstandungen durch die Zollkontrolle gekommen. Sein Touristenvisum reichte für dreißig Tage, doch so lange wollte er gar nicht bleiben.
Er stieg im Drei Kronen ab und bekam ein Zimmer mit Aussicht auf die Moldau.
Mike Borran rekapitulierte kurz.
Costomskys Auskünfte hatten sich bisher samt und sonders als richtig erwiesen, soweit sie nachprüfbar gewesen waren. Kein schwacher Punkt war in ihnen entdeckt worden. Die Agenten des Spionagerings existierten, und Boris Buczenkow war noch viel weniger eine Phantasiefigur.
Der inzwischen in Freiheit gesetzte Alexander Craceck wohnte ebenfalls in Prag, und Borran kannte seine derzeitige Adresse. Ermittlungen des CIA zufolge ging es ihm miserabel. Er hatte keinen Job und auch keinerlei Aussichten, einen zu bekommen. Der ehemalige Studienrat fristete sein Leben durch Nachhilfeunterricht, den er gelegentlich gab.
Mike Borran hatte es nicht eilig. Ein Auftrag wie dieser verlangte immenses Fingerspitzengefühl.
Einen vollen Tag verwandte er darauf, ziellos durch die Stadt zu streifen, um herauszubekommen, ob er bespitzelt wurde, und am Abend konnte er mit Sicherheit ausschließen, dass er beschattet wurde. Er durfte es wagen, mit Craceck Kontakt aufzunehmen.
Der Dissident wohnte draußen in Sratna, einem ehemaligen Industrieviertel, das mit den Techniken der Neuzeit gestorben und zu einem Slum geworden war.
Craceck hauste im zweiten Stock eines ehemaligen Fabrikgebäudes, das in kleine Wohnungen aufgeteilt worden war. Die Treppe war steil wie eine Hühnerleiter. Borran tastete sich an einer Wand entlang, die nur mehr eine Ahnung von Verputz und Farbe aufkommen ließ.
Als Borran klopfte, meldete sich niemand. Er schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass er nicht beobachtet wurde. Irgendwo plärrte ein Radio, und ein Mann und eine Frau zankten miteinander. Nach einer stillen Auseinandersetzung mit dem primitiven Schloss stand Borran in einem schmalen Gang, von dem drei Türen abzweigten. Es roch muffig nach alter Wäsche.
Borran betrat das erste Zimmer. Ein Schlafzimmer offensichtlich. Das Bett war nicht gemacht.
Der zweite Raum entpuppte sich als Wohnküche. Borran ließ seinen Blick über Gläser, Teller und Flaschen gleiten. Sie lagen überall im Zimmer herum. Borran war überrascht über die Vielzahl von Büchern, die das Chaos noch vervollständigten. Ein dicker Schmöker über Napoleons Russlandfeldzug lag aufgeschlagen auf dem Tisch.
Nachdem Borran auch noch einen Blick in die Toilette geworfen hatte, ging er in den Wohnraum zurück, setzte sich auf einen Stuhl und harrte der Dinge, die noch kommen sollten. Das Licht hatte er wieder gelöscht.
Eine halbe Stunde war bereits vergangen, als er unten auf der Straße ein Motorengeräusch hörte. Eine Zweitaktermaschine knatterte. Borran wartete noch eine, zwei Minuten, und ein Schlüssel kratzte im Schloss. Draußen in der Diele wurde Licht gemacht. Borran stand hinter der offenen Tür.
Der Mann, der hereinkam, war hager und nicht besonders groß. Ein Umstand, der ihn noch ausgemergelter erscheinen ließ. Der Mann schlurfte müde. Er brachte kaum die Sohlen vom Boden hoch.
»Erschrecken Sie nicht«, sagte Mike Borran so ruhig wie möglich und auf Russisch. Er hatte die Sprache inzwischen gelernt.
Die Reaktion des anderen kam verblüffend und unerwartet. Er brüllte auf, als würde ein Stromstoß durch seinen Körper gejagt, seine Rechte zuckte in die Seitentasche seines ausgebeulten Jacketts und kam mit einem Messer wieder.
Borran konnte dem Stoß gerade noch ausweichen. Der Stahl bohrte sich ins Holz der Tür, wurde wieder herausgerissen.
Mike blieb keine andere Wahl.
Seine Handkante durchschnitt gedankenschnell die Luft, er bremste sie kurz vor dem Hals Cracecks geringfügig ab und kam gerade noch dazu, den zusammensinkenden Mann aufzufangen. Das Messer schepperte auf den Boden.
»Vollidiot«, knurrte Borran. Dann kümmerte er sich um den Bewusstlosen.
In der Anrichte neben dem Steingut-Spülbecken fand er eine halbleere Wodkaflasche. Er goss ein paar Fingerbreit in ein Glas, das noch relativ sauber war, und setzte es dem Tschechen an die Lippen.
Er kam bald darauf zu sich. Nur die Hälfte des scharfen Gesöffs ging daneben und rann Craceck in den Hemdkragen.
»Sind Sie wieder in Ordnung?«, fragte Borran. »Sie verstehen doch Russisch?«
Craceck nickte.
»Leider nur zu gut. Wer sind Sie?«
»Mein Name tut nichts zur Sache. Wir haben einen gemeinsamen Freund. Costomsky schickt mich.«
Wenn Craceck diesen Namen kannte, dann hatte er sich gut in der Gewalt. Borran half ihm auf die Beine.
»Er hat mir aufgetragen«, fuhr Mike fort, »dass es an der Zeit wäre, eine Fahrt auf der Moldau zu unternehmen ...«
Diese Parole stammte von Jirj Costomsky, doch Craceck zuckte mit keiner Wimper.
»Wo haben Sie ihn gesehen?«, fragte er nach einer ausgedehnten Pause.
»In Washington, wo er seine Aufgabe erfüllt.«
Craceck nahm das Glas in die Hand, in dem sich noch ein paar Tropfen befanden, und leerte es in einem hastigen Zug.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich werde Ihnen einen Namen nennen, der Ihnen nicht ganz unbekannt sein dürfte: Boris Buczenkow . . .«
Diesmal reagierte Craceck. Seine Miene verdüsterte sich.
»Was hat dieser Kerl mit Ihrem Besuch zu tun?«
»Wir wollen ihm einige Schwierigkeiten machen.«
Craceck saß regungslos da. Er ließ sich eine Menge Zeit, ehe er antwortete.
»Erklären Sie mir das näher.«
»Ganz einfach: Buczenkow ist einigen Herren lästig geworden.«
»Ist das auch die Ansicht von Costomsky?«
»Sonst wäre ich wohl kaum hier.«
Craceck lachte freudlos. Zwei Schneidezähne fehlten.
»Früher oder später musste es soweit kommen«, sagte er. »Und was habe ich damit zu schaffen?«
»Es ist mir noch zu früh, jetzt schon mit Details aufzuwarten. Sagen Sie nur, ob Sie bereit wären, an der Operation teilzunehmen.«
Craceck erhob sich, vergrub die Hände in den Hosentaschen, und ging im Zimmer auf und ab wie ein Gefangener in seiner Zelle.
»Ich war acht Jahre im Knast«, sagte er. »Und es war Buczenkow, der mich hineingebracht hat. Und Sie sehen, wo ich mich jetzt befinde.« Seine Stimme klang bitter. »Ich habe nichts zu verlieren.«
»Das heißt, dass ich mit Ihrer Mitarbeit rechnen kann?«
Die beiden Männer starrten sich an.
»Wann soll die Sache laufen?«
»Wann sind Sie dafür bereit?«
Craceck goss sich ein neues Glas voll und nahm einen Schluck. Sein Adamsapfel hüpfte.
»Warum mache ich da nur mit?«, meinte er nachdenklich.
»Weil Sie sich an Buczenkow rächen wollen. Ist das kein Grund?«
»Nein«, sagte er barsch, trank wieder und setzte das leere Glas mit einem lauten Knall ab. »Geben Sie mir eine Zigarette.«
Borran warf eine angebrochene Schachtel vor ihn hin. Craceck suchte nach Streichhölzern.
»Von wem stammt die Idee zu diesem Unternehmen?«
»Sagte ich schon. Ich komme von Costomsky.«
»Mir sagt das nicht allzu viel.«
»Hat er Ihnen nicht einmal geholfen?«
»Ja.« Craceck lachte gallig. »Er hat mir einmal geholfen. Vermutlich verdanke ich ihm sogar mein Leben. Aber was für ein Leben ist das? Sehen Sie sich um! Haben Sie jemals ein schöneres und gemütlicheres Heim gesehen?«
»Immer noch besser als im Gefängnis.«
»Man hört, dass Sie noch nie gesessen haben. Auf dieser gottverdammten Erde bringt nur der Tod die Freiheit.«
Borran stand auf.
»Sie wollen also nicht?«
»Das habe ich nicht gesagt. Warum hat Costomsky nicht selbst Kontakt mit mir aufgenommen?«
»Er kann Washington im Augenblick nicht verlassen.«
»Ich möchte Vorteile«, sprudelte es plötzlich aus Craceck heraus. »Und Costomsky ist der Mann, der sie mir verschaffen könnte.«
»An was hätten Sie denn gedacht?«
»Dieses Elendsquartier zu verlassen und ein stinknormales, friedliches Leben zu führen.«
Borran war überrascht.
Wenn Costomsky ehrlich gewesen war, dann konnte Craceck nichts von dem ganzen Plan wissen. Doch Craceck schien anzunehmen, dass man bei dieser Operation nicht auf ihn verzichten könne. Er hätte sonst keine Bedingungen gestellt.
Das ergab neue Aspekte. Davon hatte Benson nichts gewusst. Costomsky misstrauend, war er davon ausgegangen, dass der Russe nicht ohne Grund von Craceck gesprochen hatte.
Aber konnte man ihn jetzt noch aus diesem Spiel herauslassen?
Oder war Cracecks Reaktion nur Bestandteil eines Manövers, das Mike Borran im Augenblick noch nicht durchschauen konnte?
»Ich kann Ihnen nichts versprechen«, sagte er deshalb. »Versetzen Sie sich bitte in meine Lage. Ich bin nur eine Art Kurier. Außerdem bin ich erst seit heute morgen in Ihrem Land. Ich muss Rücksprache halten. Sie können mich unter dieser Nummer erreichen.«
Borran kritzelte seine Adresse und die Telefonnummer auf einen kleinen Zettel und steckte ihn Craceck in die Tasche.
»Dann vielleicht bis bald«, sagte Mike.
Craceck bewegte sich nicht. Er blieb auch sitzen, als Borran aufstand und die Wohnung grußlos verließ.
Wenig später stand er wieder auf der Straße.