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Boris Buczenkow war ein einsamer Mensch. Das stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er war ein Einzelgänger, auch in all seinen Entscheidungen und Unternehmungen.

Trotz seiner fünfundvierzig Jahre glänzte sein Haar noch schwarz wie in früheren Tagen. Sein Schädel war lang und massiv. Er erinnerte an einen Faustkeil. Auch sein Körper, seine ganze Gestalt, vermittelte den Eindruck von Kraft und Härte. Diese Kraft hatten zahlreiche Feinde, als er noch bei der geheimen Staatspolizei arbeitete, zu spüren bekommen, denn Buczenkow machte aus jedem Auftrag eine persönliche Angelegenheit.

Seit ein oder zwei Jahren hatten die Zeiten sich geändert. Mit einer gewissen Humanisierung der Vorhörmethoden wurden Buczenkows Fähigkeiten nicht mehr so gefragt, doch dafür hatte ihm die Regierung die Sprossen der Erfolgsleiter näher aneinander gerückt. Buczenkow kam es trotzdem vor, als wäre er in den Strudel des Parkinsonschen Gesetzes geraten und ins Aus befördert worden, obwohl sein Gehalt höher als je zuvor war, und er sich einen Luxus hätte leisten können, wie ihn auch die Partei-Bonzen als selbstverständlich für sich in Anspruch nahmen.

Der Agentenring, den er noch betreute, war nur ein schwacher Ersatz für das Entgangene und Vergangene. Manchmal sehnte er sich nach den alten Tagen zurück.

So war es Buczenkows einziger Wunsch geworden, seine menschlichen Kontakte nicht noch weiter auszudehnen. Er war sich selbst genug. Aber immer wieder verlor er sich in nostalgischen Betrachtungen, dachte an Zeiten, in denen er noch direkten Kontakt zu seinen Gegnern hatte, an Zeiten, in denen er seine Gegner zertreten konnte ...

Boris Buczenkow saß in seinem Arbeitszimmer, als es an der Tür läutete.

Er war überrascht.

Zu ihm kam man nicht unangemeldet.

Doch er stand leise auf, und ging vor zur Eingangstür. Er schob die Klappe vom Türspion, der ihm einen Blick über Treppenhaus und Flur gestattete.

Ein Gesicht vor dem Guckloch.

Buczenkow betrachtete es und war einen Moment lang perplex. Der Mann war allein, und das Gesicht kam ihm bekannt vor. Schließlich fiel ihm nach einigen Sekunden der Name Craceck ein.

Dieser liberale Schwächling, mit dem er sich vor Jahren befasst hatte. Schlagartig erinnerte er sich wieder sehr genau an diesen Fall.

»Was wünschen Sie?«, schnarrte Buczenkow durch die geschlossene Tür.

»Ich heiße Craceck. Alexander Craceck. Ich möchte Herrn Buczenkow sprechen.«

Misstrauen stieg in dem Folterknecht von einst hoch.

»Worum handelt es sich?«

»Es ist persönlich und sehr dringend.«

Buczenkow zögerte. Dieser Besuch sprengte den Rahmen des Normalen, und Buczenkow liebte irrationale Begebenheiten nicht. Gleichzeitig fühlte er jedoch auch Neugierde in sich aufkeimen.

»Na gut«, sagte er. »Drehen Sie sich zur Wand, und heben Sie die Hände.«

Buczenkow war fast belustigt über diese übertriebene Vorsichtsmaßnahme, denn er trug eine Pistole im Schulterholster unter dem Hausmantel. Auch so eine Gewohnheit, die er nie mehr würde ablegen können.

Vorsichtig öffnete er die Tür und spähte in den toten Winkel, den er durch den Türspion nicht hatte einsehen können.

Craceck war allein gekommen. Er hatte ihm den Rücken zugewandt und streckte wie befohlen die Hände zur Decke.

»Anlehnen!«, befahl Buczenkow.

Craceck gehorchte wie ein gut abgerichtetes Hündchen.

Mit professioneller Routine glitten Buczenkows Hände am Körper seines Besuchers hinab.

»In Ordnung. Umdrehen. Sie können die Hände herunternehmen.«

Craceck trat auf sein knappes Zeichen hin ein. Er wurde in ein kleines, nur mäßig beleuchtetes Büro gedrängt und nahm Platz, als auch Buczenkow sich gesetzt hatte. Er zündete sich eine Zigarre an, ohne Craceck eine anzubieten. Seine dunklen Augen glitzerten.

Craceck hielt dem stechenden Blick stand. Sein Stuhl war ziemlich unbequem.

Buczenkow blies eine Rauchwolke in die Luft.

»Sie sind also Alexander Craceck und waren einmal Studienrat, nicht wahr?«

»Sie haben ein gutes Gedächtnis.«

Buczenkow lächelte eisig.

»Ich vergesse meine alten Kunden nicht. Sie haben mir in der Vergangenheit sehr viele Schwierigkeiten, aber auch manche Freude bereitet.«

»Sie erlauben, dass ich Ihre Gefühle nicht teile?«

»Ich zweifle keinen Augenblick daran. Und deshalb bin ich einigermaßen überrascht über Ihren Besuch.«

Für Craceck war der rechte Augenblick gekommen.

»Das kann ich Ihnen nicht verdenken.« Er seufzte tief auf. »Vieles hat sich seit der letzten Begegnung ereignet.«

»Weil Costomsky zu Ihrem Glück für Sie eingetreten ist? Ich weiß heute noch nicht, warum. Mildtätigkeit war auch sonst nicht seine Art. Aber Sie sind doch gewiss nicht gekommen, um mit mir über alte Zeiten zu plaudern.«

»Nein. Bestimmt nicht. Ich will Ihnen etwas erklären. Damals war ich Verfechter des Liberalismus. Ich kämpfte für diese Idee und habe teuer bezahlt. Doch inzwischen habe ich auch eingesehen, dass ich im Irrtum war und Sie im Recht. Unsere ideologischen Feinde profitierten nur davon. Im Zuge einer weiteren Liberalisierung wären wir eines Tages umgekippt zum kapitalistischen System.«

»Mir erzählen Sie damit nichts Neues. Wollen Sie nicht zur Sache kommen? Meine Geduld ist nicht unendlich.«

»Ich bin schon mitten drin«, meinte Craceck entschlossen. »Sie werden über meine derzeitigen Verhältnisse kaum auf dem Laufenden sein. Aber ich kann Ihnen sagen, dass sie nicht gerade rosig sind. In dieser Hinsicht hat sich mein Sinneswandel noch in keiner Weise ausgewirkt. Ich stehe nach wie vor auf der Dissidenten-Liste. Was das bedeutet, brauche ich Ihnen doch wohl nicht zu erklären. Man hat mich nicht aus dem Zuchthaus entlassen, damit es mir draußen besser ginge.«

»Sie langweilen mich, Craceck.«

»Bestimmt nur vorübergehend.«

»Was wollen Sie dann wirklich? Almosen?«

»Sie haben mich noch nicht verstanden. Ich muss genauer werden. Sicherlich bleibe ich mit meiner Vergangenheit verdächtig.«

»Überrascht Sie das?«

»Nein. Natürlich nicht. Und ich gehe auch nicht zu Behörden, um ihnen zu sagen, dass ich meine Gesinnung geändert habe. Man würde mir dort nicht glauben.«

Buczenkow betrachtete Craceck mit erwachendem Interesse. Die Jägerinstinkte machten sich bemerkbar.

»Es steckt doch etwas Besonderes hinter dem, was Sie sagen möchten?«

»Schon.« Craceck gab sich den Anschein, als würde er sich mühsam zusammenraffen. Er brauchte dabei kein überragender Schauspieler zu sein, denn der Horror vor diesem Mann saß ihm tief in den Knochen.

»Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll«, fuhr er fort. »Aber da ich für die Behörden nach wie vor verdächtig bin, wäre ich vermutlich der richtige Kontaktmann für die Gegenseite ...«

Buczenkow hörte auf, an seiner Zigarre zu nuckeln. Er ließ Craceck nicht mehr aus den Augen. Er fixierte seinen Besucher wie die Schlange das Kaninchen ...

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