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Etwa eine Viertelstunde später erreichten wir Tante Marges Villa.
Sie stand bereits an der Tür.
"Guten Tag, Mr. Green", begrüßte sie Kevin freundlich.
"Jenny hat mir bereits viel über Sie erzählt. Sie sind der Bruder von Pamela, nicht wahr?"
"Ja, Mrs. Johnson", nickte Kevin.
"Es muss schrecklich sein, seine Schwester auf diese Weise zu verlieren. Sie haben mein tief empfundenes Mitgefühl."
"Ich danke Ihnen."
Wir gingen ins Haus und ich sah Kevins erstaunte Blicke über die seltsame Kuriositätensammlung schweifen, die im unteren Stockwerk zu finden war.
Er sagte jedoch nichts, ließ sich auch nicht anmerken, was er darüber dachte.
Margret führte uns geradewegs in die Bibliothek, wo mindestens ein Dutzend alter, dicker Folianten aufgeschlagen auf dem Fußboden herumlagen und mit Dutzenden von Lesezeichen gespickt waren.
Offenbar hatte Tante Marge ziemlich intensiv recherchiert und nach Querverweisen gesucht, um endlich ein Stück weiterzukommen.
Dem triumphierenden Gesichtsausdruck nach war ihr das auch gelungen. Sie räumte schnell ein paar Bände von den Sesseln der kleinen Sitzgruppe, die sich in diesem Raum befand und bot uns dann einen Platz an.
"Es sieht hier ein bisschen chaotisch aus", entschuldigte sie sich dann. "Aber das ist immer nur dann der Fall, wenn ich bei der Arbeit bin. Normalerweise herrscht hier eine penible Ordnung, Mr. Green."
"Tante Marge!", unterbrach ich sie etwas ungeduldig. "Du sagtest, dass du etwas herausgefunden hättest! Wir waren schon auf dem Weg zu Bulmer, als dein Anruf kam..."
"Ja, ja, ich komme jetzt auch zur Sache!", erwiderte Tante Marge und hob dabei beschwichtigend die Hände. "Einen Moment!"
Während wir uns gesetzt hatten, drehte sie sich um, ließ kurz den Blick schweifen und schien dann gefunden zu haben, was sie suchte. Mit kleinen, aber schnellen Schritten ging sie auf eine Kommode zu, von der sie ein Buch herunternahm, dass noch mehr mit Lesezeichen gespickt war, als jene, die auf dem Boden verstreut lagen.
Als ich den ledernen Einband sah, erschrak ich bis ins Mark.
Ich erkannte ihn aus dem Traum wieder, in dem ich Pamela Green in einer Art Gruft gesehen hatte. Dieses Buch hatte sie an die Brust gepresst gehalten. Die arabischen Schriftzeichen auf dem Einband hatten sich geradezu in meine Erinnerung eingebrannt.
Eine Verwechslung war kaum möglich...
Unterhalb der arabischen Zeilen befand sich der Titel in lateinischen Buchstaben.
Offenbar waren die arabischen Zeichen nichts weiter, als eine Verzierung. In Wahrheit handelte sich um eine englische Ausgabe.
"Dies ist die einzige englische Ausgabe der gesammelten Schriften von Jaffar Al-Tarik, einem mauretanischen Mystiker des zehnten Jahrhunderts. Leider ist mein Exemplar, das ich einst vor vielen Jahren auf einer ziemlich dubiosen Auktion in Paris erwarb, nicht mehr ganz vollständig. Etwa ein Zehntel der Seiten fehlen..."
"Und was hat dieses Buch mit dem Tod meiner Schwester zu tun?", erkundigte sich Kevin Green.
Tante Marge lächelte nachsichtig.
"Jaffar Al-Tarik ist ein Magier gewesen, der schließlich wegen seiner zum Teil wohl ziemlich abscheulichen Experimente eingekerkert und hingerichtet wurde. Enthauptet, um genau zu sein. Allerdings hatte man noch nach seinem Tod ziemlich große Angst vor ihm und sorgte dafür, dass sein Kopf an einer anderen Stelle begraben wurde als der Rest seines Leichnams, um auf diese Weise zu verhindern, dass er als Geist sein Unwesen treibt..." Tante Marge deutete mit der Hand auf das Buch und fuhr dann fort: "Seine Schriften sind mehr oder minder eine Sammlung verschiedener magischer Rituale, von denen das wichtigste sich mit der Beschwörung eines geheimnisvollen Wesens mit dem Namen Quarma'an befasst! Und genau vor diesem Wesen hat Ihre Schwester, Mr. Green, kurz vor ihrem Tod gewarnt!"
"Sie glauben doch nicht etwa, dass dieses Wesen wirklich existiert", erwiderte Kevin.
Ich dachte an jenen Schatten, den ich erstmalig im Garten von Bulmers Villa gesehen zu haben glaubte und der mir später vor den Kühler meines Mercedes gelaufen war und fröstelte unwillkürlich.
"Erzähl weiter, Tante Marge", flüsterte ich, ohne Kevins Einwand zu beachten.
Ich hoffte ja so sehr, dass seine realistische Sichtweise der Dinge recht behielt. Ich hoffte es, ahnte aber zugleich, dass es anders war und wir einem schrecklichen, tödlichen Geheimnis dicht auf der Spur waren. Möglicherweise sogar viel zu dicht...
"Jaffar Al-Tarik beschreibt genau, wie die Beschwörung Quarma'ans von statten gehen muss! Man braucht dazu die Energie von Totengeistern, weswegen das Ritual auch nur in der Nähe von Grabstätten erfolgreich angewendet werden könne. Dieses Wesen soll über eine schier unbeschreibliche Kraft verfügen... Al-Tarik bezeichnet es als den perfekten Mörder, dem keine Macht der Welt etwas entgegenzusetzen habe..." Tante Marge seufzte. "Wie gesagt, leider ist das Buch nicht vollständig. Ein paar entscheidende Seiten fehlen. Vor einem Jahr erwarb ich einen Stapel von Fragmenten, einzelnen Buchseiten, zerrissenen und halb verbrannten Papieren. Insgesamt drei Kartons voll. Möglich, dass einige Seiten aus Al-Tariks Schriften dabei sind. Zumindest behauptete das der Mann, dem ich das Zeug abgekauft habe. Aber ich bin bis heute einfach nicht dazu gekommen, das Material zu ordnen..."
Kevin erhob sich.
Sein Gesicht drückte Zweifel aus.
"Sie sprechen über diese Dinge, als wären sie Realität, Mrs. Johnson", sagte er dann.
"Dieses Buch ist Realität, Mr. Green. Und der Anruf ihrer Schwester, in dem sie den Namen Quarma'an erwähnte auch. Und ich bin mir sicher, dass die Schriften von Jaffar Al-Tarik bis heute in Okkultistenkreisen kursieren. Nicht in großer Zahl, aber hin und wieder schon."
"Bulmer", flüsterte Kevin düster.
Und ich warf ein: "Sein Zirkel in Cambridge wird sich nicht umsonst als DIE HERREN QUARMA'ANS bezeichnet haben."
"Möglicherweise fand Pamela etwas über Bulmers Kreis heraus, dass sie gefährlich erscheinen ließ und sie musste deshalb verschwinden...", meinte Tante Marge. "Oder sie fiel einem Ritual zum Opfer, den Al-Tarik beschreibt auch magische Prozeduren, bei denen die Geister gerade Verstorbener gebraucht werden..."
In diesem Moment hoffte ich - so makaber es klingen mag dass dies tatsächlich die Erklärung war. Aber ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass wir noch auf ganz andere, unaussprechliche Dinge stoßen würden.
Dinge, die einem den Verstand und den Schlaf rauben konnten...