Kapitel 1
London 1816
Ralph Swanson, Earl of Pensby, Viscount Lymm trat durch die geöffnete Tür des großen palladianischen Gebäudes hinaus in die dunkle, kühle Abendluft. Hinter ihm wurde die Tür von einem der beflissenen Dienstboten geschlossen, die stets bereitstanden, um die Wünsche der Herrschaften zu erfüllen, gleichzeitig darum bemüht, den Frieden in der wenig zivilisierten Spielhölle zu wahren, die Ralph gerade verlassen hatte.
Er schob seine Hände tief in die Taschen und zog die Schultern hoch, dann ging er in die Nacht hinein. Sein teuer bezahlter Herrenschneider wäre schockiert gewesen, mitansehen zu müssen, wie mit dem aus feinstem Tuch maßgeschneiderten Gehrock umgesprungen wurde, doch sein Träger hatte keine Skrupel, das Kleidungsstück derart zu misshandeln.
Es war ihm auch einerlei, dass man ihn für leichtsinnig halten könnte, als Angehöriger der englischen Aristokratie ganz alleine durch die dunklen Straßen Londons zu spazieren. Alles an ihm zeugte von seinem Wohlstand und er bot ein leichtes Ziel für einen jeden Räuber, doch eine solche Gefahr berücksichtigte Ralph nicht, während er stetig durch die Dunkelheit schritt. Solche Trivialitäten lagen ihm fern.
Ein jeder Räuber, der seinen zusammengesackten Gang beobachtete, hätte ihn überdies für ein armseliges Ziel gehalten: Seine Kleider mochten zwar edel sein, doch es war ihm anzusehen, dass er in dem Haus, das er gerade verlassen hatte, eine Unsumme an Geld verloren hatte.
Bevor er um die Ecke bog, wurde das Tor der Spielhölle noch einmal geöffnet und ein zweiter Gentleman eilte die Stufen herab und in die Richtung, in die Ralphs niedergeschlagene Gestalt
verschwunden war.
Ralph reagierte nicht auf die Schritte hinter sich und setzte den Gang in Richtung seiner Unterkunft fort, setzte einen Fuß vor den anderen und ignorierte, was sein Blickfeld kreuzte.
Der zweite Herr holte Ralph ein und gesellte sich dann lächelnd zu ihm. „Ich dachte schon, Eddie beginnt wegen dir dort drinnen noch zu heulen“, sagte er heiter.
„Er sollte nicht spielen, wenn er sich das nicht leisten kann“, kam die gleichgültige Antwort.
„Die Hälfte der Spielhäuser müsste umgehend schließen, hielte sich jeder an diesen Gedanken.“
„Ich werde ihm seine Schuldscheine morgen zusenden, hoffentlich hat er seine Lektion dann gelernt.“
Der zweite Gentleman sah seinen Freund überrascht an. „Aber du würdest nicht erwarten, dass er dasselbe täte, wären die Rollen vertauscht.“
„Nein.“
„Warum zum Teufel leistest du ihm dann einen solchen Dienst? Er kennt deinen Ruf am Spieltisch. Jeder kennt ihn. Ich habe sogar noch in Frankreich davon gehört!“
Ein leichtes Naserümpfen stahl sich auf die sonst stoischen Gesichtszüge. „Nun übertreibst du aber, Longdon.“
Miles Stanley, Earl of Longdon, lächelte seinen Freund an. „Woher zum Teufel glaubst du, wusste ich, wo ich dich nach meiner Rückkehr finden kann? Ich war so lange der Gesellschaft fern, kaum jemand erinnert sich an mich. Ich musste doch meine alten Freunde ausfindig machen, bevor ich wieder in den besseren Kreisen aufgenommen werde.“
„Wohl kaum. Du und deine Männer seid als Helden zurückgekehrt. Ihr habt eure Zeit sinnvoll eingebracht, habt für den König und das Land gekämpft, während ich meine Fähigkeiten am Spieltisch kultiviert habe. Du musst einen Mann wie mich doch verachten“, sagte Ralph und bedachte seinen Freund mit einem kaum wahrnehmbar kurzen Blick.
„Keineswegs“, antwortete Miles und ging weiter neben der kümmerlichen Gestalt her. Seine aufrechte Haltung zeugte von seinen Jahren in der Armee. „Ich bin froh, dass die meisten Menschen nicht mitansehen mussten, was ich gesehen habe. Du
warst der Erstgeborene, du hattest Pflichten zu erfüllen. Ich hingegen nicht. Nur wenige Erstgeborene standen auf dem Schlachtfeld. Sie waren zu wertvoll, um sie zu verlieren.“
Ralph sah zu seinem Freund. „Deine Familie durchlebte eine verflucht schwere Zeit.“
Miles unterdrückte ein Seufzen. „Ja, ich hätte nie auch nur daran gedacht, dass ich einmal den Titel erben würde. Mama und meine Schwester mussten die größte Last tragen. Ich war im Ausland, zunächst in Amerika, dann in Frankreich, und ich gestehe, ich kehrte nur widerwillig zurück, als ich vom Tod Papas hörte. Er hätte es verstanden, hätte ich bei meiner Einheit bleiben wollen. Doch dass dann gleich drei Familienmitglieder verstarben, einer nach dem anderen, das war verfluchtes Unglück. Ich hätte nicht erwartet, dass meine beiden Brüder Papa so schnell ins Grab folgen würden. Edith hat am meisten darunter gelitten. Mama kann nicht als besonders robust bezeichnet werden – und das an ihren guten Tagen. Ich fürchte, sie war sehr schwierig, doch Edith klagte in ihren Briefen kein einziges Mal. Sie ist der wahre Soldat in unserer Familie, nicht ich.“
„Und du dankst es ihr, indem du sie nun durch die Stadt eskortierst?“
„Ja. Auch wenn es mir mehr Freude bereiten würde, wenn mein langjähriger Freund mich ab und zu begleitete.“ Miles sah ihn eindringlich an.
Ralph lachte. „Aber dieser Freund bin nicht ich. Die Spielhöllen sind vielleicht nicht besonders befriedigend, aber zumindest nicht so anstrengend wie diese Bälle und Soireen, mit denen die Saison so vollgestopft ist.“
„Ich hoffe, dass sich bei einer dieser Unterhaltungen ein anständiger Mann für Edith finden lässt. Sie hat ihre besten Jahre bereits hinter sich. Das arme Mädchen hat drei Jahre lang getrauert und wurde von Mutter zurückgehalten, die sich weigerte, London ohne meine Begleitung zu besuchen. Sie hat Glück, wenn sie noch einen passenden Verehrer findet. Du weißt doch, wie alle auf die frischen Debütantinnen schielen. Die älteren Mädchen werden oft ignoriert.“
Ralph blickte seinen Freund amüsiert von der Seite an. „Sie ist eine Erbin und kann gewiss nicht älter als zweiundzwanzig sein. Ich bezweifle, dass sie deine düsteren Aussichten gutheißen würde.“
Miles grinste. „Da sich eure Wege nur selten kreuzen, kann ich dir meine Sorgen bedenkenlos anvertrauen. Wie dem auch sei, sie ist dreiundzwanzig und glaubt an eine Ehe aus Liebe. Du verstehst also, wie aussichtslos ihre Lage ist.“
Ralph schüttelte den Kopf ob der herzlosen Bemerkungen über die Zukunft seiner Schwester, sagte jedoch nichts. Er wusste, dass Miles ein guter Mann war, der tun würde, was der verbleibende klägliche Rest seiner Familie von ihm erwartete. Ralph hätte von seinem Freund noch einiges lernen können, läge ihm etwas daran. Auf seine Weise versuchte er, stets das Richtige zu tun, doch er war sich nicht sicher, ob er sein Ziel erreichte.
Sie hielten an Miles’ Haus in der Curzon Street. „Hättest du Lust noch ein oder zwei Gläschen Portwein mit mir zu trinken?“, fragte der etwas jüngere Mann.
„Nein, vielen Dank. Ich verspüre das Verlangen, London für eine Weile zu verlassen, und möchte morgen zeitig abreisen“, antwortete Ralph.
„Ach so? Planst du, auf die Jagd zu gehen?“, fragte Miles.
„Nein, ich habe mich um Angelegenheiten des Anwesens zu kümmern“, erklärte Ralph. Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, doch die Notlüge hielt seinen Freund davon ab, weitere Fragen zu stellen.
„Wie schade. Ich hatte gehofft, dich überreden zu können, zur Abendgesellschaft zu kommen, die Mama nächste Woche ausrichtet. Es wird eine trostlose Angelegenheit werden und ich benötige angenehme Gesellschaft, um dies zu überstehen“, sagte Miles.
„So verlockend deine Einladung auch klingt, ich fürchte, ich muss sie ausschlagen. Ich werde nicht gleich wieder nach London zurückkehren“, erklärte Ralph.
„Ich habe dich noch auf gar keinem Ball, Soiree oder Konzert gesehen. Du scheinst dich von der Gesellschaft fernzuhalten“, meinte Miles.
„So ist es besser“, meinte Ralph gleichgültig.
„Ich zumindest würde deine Gesellschaft schätzen, gingst du öfter aus.“
„Ich danke dir, doch ich möchte den neugierigen Klatschmäulern, die diese Vergnügungen ebenfalls besuchen, kein Futter liefern“, erklärte Ralph. Das stimmte nicht ganz, doch es war
eine passende Ausrede.
„So schlimm ist es doch gar nicht.“
„Ach nein? Würden sie nicht, versteckt hinter ihren Fächern, über den berühmt berüchtigten Spieler tuscheln? Ich bevorzuge es, mich von den ganzen Cliquen und Grüppchen fernzuhalten und bin mir sicher, bei den Meisten stößt dies auf Zustimmung.“
Miles unterdrückte ein Seufzen. „Ich hatte gehofft, dich nach einem feuchtfröhlichen Abend umzustimmen.“
„Ich bin nie betrunken genug, um einen solchen Fehler zu begehen“, sagte Ralph etwas amüsiert.
„Es war einen Versuch wert.“
„Vielleicht begleite ich dich nach meiner Rückkehr zu ein oder zwei Veranstaltungen, aber nicht mehr“, sagte Ralph aus Mitleid mit seinem Freund.
„Großartig! Ich wusste, dass du mich nicht hängen lässt!“
Die Freunde schüttelten einander die Hand und verabschiedeten sich, bevor Ralph seinen einsamen Weg mit hängenden Schultern und gesenktem Haupt fortsetzte. Das Klacken seiner Stiefelabsätze hallte auf den menschenleeren Straßen wieder, die binnen weniger Stunden wieder vom Gewusel des geschäftigen London erfüllt sein würden.
Auch wenn ihn Miles’ Versuche, ihn in die Unterhaltungen seiner Familie zu integrieren, amüsierten, sie wirkten sich nicht erheiternd auf seine Laune aus. Was ihn zuhause erwartete, hielt ihn davon ab, sich in die Gesellschaft zu integrieren, selbst wenn er sich dies wünschte. Er wusste nicht, wie lange die Wahrheit über seine Umstände ein gut gehütetes Geheimnis bleiben konnte, doch er setzte alles daran, es zu wahren. Die Gesellschaft war nicht nachsichtig mit jenen, die nicht deren Sinn für Makellosigkeit und Tradition entsprachen. Die Besucher der Spielhöllen hingegen interessierten sich nicht dafür, wer man war oder woher man kam. Solange einer Geld mitbrachte und viel davon ausgab, war er willkommen. Miles war dort gewesen, weil er Zeit mit Ralph verbringen wollte, doch er führte gewiss nicht den zügellosen Lebenswandel der meisten Adeligen.
Er trat auf die Steintreppe, die zu seinem eigenen Haus hinaufführte, und öffnete die Tür mit seinem Schlüssel. Das Personal hatte er angewiesen, nicht auf ihn zu warten, und so betrat er die
leere Halle. Nur an einem einzigen Armleuchter, der auf einem Marmortisch stand, brannten noch Kerzen.
Er legte seinen Hut und die Handschuhe ab und erhaschte einen Blick auf sein Spiegelbild an der gegenüberliegenden Wand. Verächtlich betrachtete er sein blasses Gesicht und den verhärteten Ausdruck darin. An seinen kantigen Zügen, dunklen Haaren und Augen konnte er nichts Bemerkenswertes erkennen. Er glich dem Teufel, den er so oft nachahmte. Sein Äußeres sorgte dafür, dass er sich kaum verstellen musste, um dieses Bild von sich zu pflegen.
Er hielt einen Moment lang inne und erkannte einen vertrauten Ausdruck in seinen Augen. Natürlich würde er ihn nie einem anderen zeigen, doch er fand ihn jedes Mal, wenn er sich selbst in einem Spiegel ansah. Es war der Ausdruck von Verzweiflung und Einsamkeit.
Flüsternd sagte er sich, wie jedes Mal: „Ich werde sie nicht dieser Hölle preisgeben. Das werde ich nicht tun. Ich kann ein einsamer Wolf sein. Ich muss es sein. Ich weiß, was getan werden muss. Aber warum ist das manchmal nur so verdammt schwierig?“
Er wartete nicht auf eine Antwort seines Spiegelbildes, sondern machte kehrt, griff nach dem Armleuchter und stieg die Treppen zu seiner Kammer hinauf.
Eine weitere einsame Nacht lag vor ihm.